1 Einleitung: Bachelard, eine pädagogische Entdeckung?

Mit der seit einiger Zeit zunehmenden Aufmerksamkeit für den wissenschaftshistorischen Ansatz der Historischen Epistemologie (Rheinberger 2007) in den Erziehungswissenschaften (z. B. Tenorth 2016; Casale 2020; Forster und Obex 2020) gewinnt eine Perspektive auf die Produktion erziehungswissenschaftlichen Wissens Gestalt (Rieger-Ladich et al. 2019), die zugleich einen Blick auf das Werk eines bislang aus pädagogischer Perspektive wenig beachteten französischen Denkers freigibt: Die Rede ist von dem „eigentlichen Vater der historischen Epistemologie“ (Rheinberger 2017, S. 36), Gaston Louis Pierre Bachelard. Währenddessen einige – wenn wir in dem vom Bachelard-Experten Hans-Jörg Rheinberger bemühten Sprachbild bleiben wollen – der intellektuellen Nachkommen Bachelards, z. B. Michel Foucault oder Pierre Bourdieu, mit Pädagogischen Lektüren von erziehungswissenschaftlicher Seite bedacht werden (Ricken und Rieger-Ladich 2013; Rieger-Ladich und Grabau 2016), die als ein Indiz für die große Bekanntheit und breite Rezeption der Autoren in den Erziehungswissenschaften verstanden werden können, so steht eine pädagogische Rezeption für Bachelard noch aus. Sie wäre von Gewicht und vielleicht auch nicht ganz in weiter Ferne, spuken doch Philosopheme Bachelardschen Denkens – vor allem vermittelt über die ihm intellektuell nachfolgende Generation – in vielen Diskurszusammenhängen, insbesondere (post-)strukturalistischer Provenienz (Gerlek 2019), in den Erziehungswissenschaften umher, ohne dass ihnen größere Aufmerksamkeit zuteil wird. Eingedenk der in den 1960er Jahren in Frankreich einsetzenden „Bachelard-Renaissance“ (Erdur 2018, S. 55) sowie seines intellektuellen Einflusses auf die French Theory der Nachkriegszeit und wiederum deren Einfluss auf die Theorieentwicklung der deutschsprachigen erziehungswissenschaftlichen Diskurse der letzten Dekaden ist es dennoch bemerkenswert, dass Bachelards Bekanntheitsgrad weit hinter dem seiner Nachkommen rangiert (Schöttler 2012). Selbst wenn sich nun über die historische Epistemologie eine erhöhte Aufmerksamkeit für Bachelards Denken in einem erziehungswissenschaftlichen Horizont anzubahnen vermag, so geraten primär Bachelards epistemologische Einsichten in den Blick. Es ist Rita Casale zuzustimmen, wenn sie im Zusammenhang mit der historischen Epistemologie von einer bislang „versäumte(n) Möglichkeit“ (Casale 2020, S. 809) für die erziehungswissenschaftliche Theorieentwicklung spricht und dazu anregt, entschiedener daran Anschluss zu suchen.

Von der Spur einer historisch-epistemologischen Auswertung Bachelards wollen wir an dieser Stelle indes abzweigenFootnote 1 und einer Fährte nachgehen, die das pädagogische Werk Bachelards fokussiert und für erwachsenenpädagogische Anschlussnahmen vorzubereiten vermag. Streng genommen führt die Rede von einem pädagogischen Werk oder einer Pädagogik Bachelards etwas in die Irre, suggeriert sie doch eine ausgearbeitete Systematik. Bachelard selbst hat derlei systematische Entfaltungen seiner pädagogischen Gedanken nicht vorgelegt. Pädagogisches Denken ist vielmehr an unterschiedlichen Stellen seiner Untersuchungen illustrierend eingeflochten, an denen er engere und weitere Bezüge zu wissenschaftsdidaktischen Problemstellungen vor dem Hintergrund seiner eigenen Erfahrungen als Gymnasiallehrer zur Reflexion heranzieht und diskutiert (Bachelard 1987 [1938]).

Obwohl die pädagogische Aufmerksamkeit für das Werk Bachelards in den deutschsprachigen Erziehungswissenschaften noch Entwicklungsspielraum besitzt, soll dies nicht bedeuten, dass von ihm nunmehr gar keine Notiz genommen wird. Im engeren Sinne lassen sich zwei Auseinandersetzungen mit Bachelard in den deutschsprachigen erziehungswissenschaftlichen Diskursen ausmachen, die Bachelard vor allem in didaktischer Hinsicht zu berücksichtigen vorschlagen:Footnote 2 Einerseits ist Walter Herzogs (1995) Forschungsbericht zu erwähnen, der eine pädagogische Deutung entwickelt, in der Bachelards Hinweise für naturwissenschaftsdidaktische Fragen im Schulunterricht aufgenommen werden. Andererseits greift Ines Langemeyer (2020) in einer kürzlich erschienenen Sammelpublikation mit dem Titel Klassiker der Hochschuldidaktik? die pädagogischen Überlegungen Bachelards auf und entfaltet sie als „fein gewirkte Pädagogik“ in einem hochschuldidaktischen Horizont. Beide instruktiven Beiträge weisen Anschlussstellen aus, die einer erwachsenenpädagogischen Lektüre Bachelards dienlich sind.

Um diese Lektüre Bachelards bewerkstelligen zu können, erweist es sich als hilfreich, sich zunächst dem intellektuellen Profil und der berufsbiografischen Stationen Bachelards ausschnittsweise zu nähern, um einen Eindruck zu erhalten, inwiefern das pädagogische Denken des „Gründer(s) der modernen französischen Epistemologie“ (Erdur 2018, S. 30) mit seinem wissenschaftlichen Habitus verbunden ist und welche Dynamik seine Abgrenzung und Distanzierung zu dem Denken seiner Zeit für seine Theorieentwicklung bedeutet (1.). Die daran angeschlossene vertiefende Auseinandersetzung mit Bachelards doppeldeutig – pädagogisch und epistemologisch – betitelter Untersuchung Die Bildung des wissenschaftlichen Geistes aus dem Jahre 1938 ist nicht nur vor dem Hintergrund des in ihr entfalteten Konzepts des Erkenntnishindernisses (obstacle épistémologique) von Gewicht. Die Schrift ist beachtenswert, weil Bachelard dort das Verhältnis zwischen wissenschaftlichem Wissen und Alltagsdenken konzeptualisiert, das sich für ihn durch einen epistemologischen Bruch (rupture épistémologique) auszeichnet (2.). Mit der vorgeschlagenen Fährte sollen die Voraussetzungen dafür freigelegt werden, Bachelards Hinweis auf das Prinzip einer „ununterbrochenen Bildung“ (Bachelard 1987 [1938], S. 362, Hervorh.i.O.) intelligibel werden zu lassen und ihm in einem erwachsenenpädagogischen Horizont Konturen zu verleihen. Bachelards Konzept einer „ununterbrochenen Bildung“ bzw. einer „culture continuée“ (Bachelard 1938, S. 283) eröffnet von wissenschaftsphilosophischer Seite eine Hinsicht auf Erwachsenenbildung, sie als eine Instanz der Verarbeitung epistemischer Veränderungen aufzugreifen. Diese Überlegungen möchte ich als Diskussionsangebot verstanden wissen und als einen möglichen Lektüregewinn der Bildung des wissenschaftlichen Geistes für Erwachsenenbildung reklamieren (3).

2 Gaston Bachelard, the „marginal man“

Gaston Bachelards Werk erstreckt sich über eine Vielzahl wissenschaftsphilosophischer Untersuchungen, in denen sich sein epistemologisches und sein poetologisches Interesse artikuliert, leitmotivisch getragen von der Idee der Eröffnung neuer Erfahrungswirklichkeiten (z. B. Bachelard 2017[1931–32]). Bachelards Movens wäre verkannt, sofern sein Werk in ein Nebeneinander von epistemologischen und poetologischen Schriften auseinandergerissen und deren interne Verschränkung außer Acht gelassen würde (Rötzer 1988, S. 123). Poetologische und epistemologische Überlegungen stellen für Bachelard „zwei verschiedene Weisen ‚Weltstruktur‘ zu erfassen“ (Gil 2018, S. 10) dar und sollten nicht in zwei voneinander getrennte Bereiche dividiert werden (Kopper 1980). Mit den Worten Gerard Dubrulles (1983) ausgedrückt: Bachelards Philosophie wandle zwischen „Tag und Nacht“, ohne einer Seite einen Vorrang einzuräumen. In dieser Hinsicht besitzt das Werk Bachelards auch keine abgeschlossenen Phasen oder spezifischen Bereiche. Bachelard bastelt und probiert, flickt und experimentiert, kritisiert und entwirft unaufhörlich, um dem Neuen wissenschaftlichen Geist (Bachelard 1980[1940]) zur Geltung zu verhelfen, weshalb Sandra Pravica (2015) die Vorläufigkeit der Bachelardschen Wissenschaftsphilosophie auch als „tentativ“ aufzufassen vorschlägt.

Versuche, Bachelards „so ungewöhnlich(e)“ (Tulatz 2018, S. 175) biografische Trajektorie vor dem Hintergrund seines vielschichtigen Werks in ein Narrativ zu bringen, münden – so warnt Cristina Chimisso – allzu schnell in „a sort of Cincinnatus“ (Chimisso 2001, S. 16) und empfehlen zwei Erzählungen: Einerseits die Geschichte des Mannes aus der französischen Provinz, der in der großen Stadt Paris Karriere macht sowie andererseits die Geschichte des Mannes, der von einem einfachen Postbeamten zu einem Professor an der Sorbonne aufsteigt. Nimmt die Perspektive auf Bachelards Biografie jenseits der sich aufdrängenden „bourgeoisen Legendenbildung“ (Chimisso 2001, S. 16ff.) ihren Ausgang von seinem intellektuellen Werk, kommt „ein Bachelard“ zum Vorschein, der sein Leben einmal selbst als ein „ziemlich irreguläres intellektuelles“ (G. Bachelard zit. n. Rheinberger 2016, S. 20) bezeichnete. Wie gelangt er zu dieser Einschätzung? Im Alter von 56 Jahren wurde der am 27. Juni 1884 in der kleinen ländlichen Gemeinde Bar-sur-Aube (Frankreich) geborene Gaston Louis Pierre Bachelard auf den renommierten Lehrstuhl für Geschichte und Philosophie der Wissenschaften an die Pariser Sorbonne berufen, wo er ab 1940 die Nachfolge seines Lehrers Abel Rey antrat. Bachelard lehrte Wissenschaftsgeschichte und Wissenschaftstheorie, bis 1954 sein Nachfolger, Georges Canguilhem, seine Stelle übernahm. Vor seinem Ruf an die Sorbonne studierte Bachelard Mathematik, Physik, Chemie und Philosophie, arbeitete eine Zeit lang als Messtechniker in einer Post und anschließend als Gymnasiallehrer für die Fächer Chemie und Physik in seiner Geburtsstadt, bevor er seine erste Professur 1930 im Alter von 46 Jahren an der Universität Dijon antrat. Bis zu seinem Tode am 16. Oktober 1962 fertigte er zwei Dutzend Monografien an, von denen bis heute nur wenige ins Deutsche übersetzt wurden, während in Frankreich fortwährend Neuauflagen seiner Schriften erscheinen.

Bachelards biografische Reflexion eines als irregulär markierten intellektuellen Lebens stiftet vielmehr das Narrativ eines intellektuellen Außenseiters, das nicht nur durch seine berufsbiographischen Stationen genährt wird, sondern auch aufgrund seiner intellektuell gewonnenen Einsichten. Die Entwicklung des zu seiner Zeit recht eigentümlichen Denkstils Bachelards, der sich gegen die damalige Dominanz der transzendentalphilosophischen Erkenntnistheorie in der französischen akademischen Philosophie richtete, positionierte Bachelard peripher: „(O)hne großen Respekt vor der Schulwahrheit“ (Bachelard 1987 [1938], S. 45) wirkte Bachelard maßgeblich an der Formierung der neu entstehenden französischen Epistémologie mit, die intellektuell aufgeschlossen und empfindsam auf die epistemischen Turbulenzen im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts reagierte:Footnote 3 Mit dem Aufstieg der naturwissenschaftlichen Forschung und Wissensproduktion spätestens Mitte des 19. Jahrhunderts und den damit verbundenen epistemischen Erschütterungen (u. a. Entwicklung nicht-Euklidischer Geometrie, nicht-Aristotelischer Logik, nicht-Newtonischer Mechanik) lässt sich zur Wende zum 20. Jahrhundert ein bedeutsamer Umschlag in der Auseinandersetzung mit den Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis feststellen (Rheinberger 2007, S. 36): Nicht mehr die nach Universalprinzipien suchende Erkenntnistheorie schien Bachelard als Reflexionsinstanz für die neuen Wege der Erkenntnisproduktion und ihrer Erträge in den (Natur‑)Wissenschaften infrage zu kommen, sondern vielmehr setzten die Wissenschaften selbst mit der Reflexion auf ihre neu hervorgebrachten Erkenntnisse ein (Reydon und Hoyningen-Huene 2011). Anders als viele seiner akademischen, philosophischen Zeitgenossinnen und Zeitgenossen hielt es Bachelard nicht mehr für angebracht und epistemologisch hinreichend, wissenschaftliche Erkenntnisproduktion weiterhin transzendentalphilosophisch apriori zu dekretieren (Brühmann 1980, S. 17–83). Seiner Ansicht nach war es unumgänglich geworden, der Praxis der Erkenntnisproduktion (in den Laboren der Naturwissenschaften) nachzugehen und der Pluralisierung der Produktionsprozesse sowie die Lokalität und Situiertheit der Erkenntnisse ernst zu nehmen (Braunstein 2013).Footnote 4

Bachelards Denken war daher nicht nur unangepasst, sondern er setzte selbständig auf Distanzierung gegenüber den Vertreterinnen und Vertretern einer die Wissenschaften bevormundenden Philosophie, die er bisweilen in akademischen Auseinandersetzungen scharf anging und als „Gegner“ (Bachelard 1987[1938], S. 104) titulierte. Vor allem mit seiner Studie Die Philosophie des Nein. Versuch einer Philosophie des neuen wissenschaftlichen Geistes (Bachelard 1980[1940]) polemisierte und positionierte sich Bachelard gegen die damals dominierende „Philosophie der Wissenschaften, die sich auf die Untersuchung allgemeiner Erkenntnisprinzipien durch die Philosophie und auf die Untersuchung partikulärer Ergebnisse durch die Wissenschaft beschränkt hat“ (Forster und Obex 2020, S. 643). Im Schlusssatz der Philosophie des Nein pointiert Bachelard sein epistemisches Engagement gegenüber der von ihm wahrgenommenen übergriffigen Philosophie und ihrem totalitären Charakter deutlich: „Die traditionelle Lehre von der absoluten und unveränderten Vernunft stellt nur eine Philosophie dar, und diese Philosophie ist überholt“ (Bachelard 1980[1940], S. 165).

Mit anderen Worten: Im Unterschied zur Ausrichtung des „universalisierenden Projekt(s)“ (Fichant 1977[1969], S. 80) der transzendentalen Erkenntnistheorie stellt die Epistemologie die Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis unter eine empirisch-historische Perspektive, die die Historizität ihres Untersuchungsgegenstands anerkennt, „anstatt ihn einer transzendentalen Voraussetzung oder doch einer apriorischen Norm zu unterwerfen“ (Rheinberger 2007, S. 12). Als Wegbereiter und „eigentlicher Vater“ der historischen Epistemologie stand für Bachelard fest, dass sich Erkenntnis nicht apriorisch domestizieren und disziplinieren lässt, sondern undiszipliniert auftritt und historisch gebunden ist, weshalb eine „Philosophie, die als Statthalter des Allgemeinen oder Wahrheit auftritt, für Bachelard endgültig überholt (ist)“ (Rötzer 1988, S. 121). Noch deutlicher erhält diese epistemologische Einsicht Bachelards Gewicht, wenn berücksichtigt wird, dass die französische Philosophie zu Beginn des 20. Jahrhunderts „seit mehr als einem Jahrhundert unter der – durch den ideologischen Staatsapparat ‚Sorbonne‘ institutionell sanktionierten – Dominanz des Spiritualismus, einer endlosen Zelebration der moralischen Werte und der Freiheit des menschlichen Geistes“ (Brühmann 1980, S. 9), stand. Es war geradezu Bachelards Interesse, den aus naturwissenschaftlichen Zusammenhängen gewonnenen Erkenntnisproblemen aufgrund der Fehlbarkeit des menschlichen Geistes nachzugehen, gerade seine ihm zugeeignete „Freiheit“ kontingent zu setzen und den „Subjektzentrismus“ (Gerlek 2019, S. 293 ff.) seiner Zeit zu problematisieren (s. a. Chimisso 2001, S. 106–128). Es sind vor allem Bachelards epistemisches Engagement und sein Vorwurf gegenüber seinen Zeitgenossinnen und Zeitgenossen, nicht hinreichend resonant auf die durch die Umwälzungen in den Naturwissenschaften entstandene Dynamik zwischen Wissenschaft und Philosophie einzugehen, die ihn in akademischen Kreisen an den Rand drängen. Mit diesem intellektuellen Profil avancierte Bachelard in der akademisch-institutionellen Landschaft Frankreichs zu einem „marginal man“ (R. E. Park). Eine Lage, in der er dazu gezählt wird, ohne wirklich dazuzugehören (Chimisso 2001, S. 14–17; Rheinberger 2016, S. 20–22), weshalb er auch „nicht einfach einer traditionellen wissenschaftsphilosophischen Schule zuzuordnen“ (Rheinberger 2013, S. 120) sei. Bachelards wissenschaftsphilosophisches Grenzgängertum war derart kontrovers, dass er aus der „philosophischen Perspektive seiner Zeitgenossen (…) eher ein Außenseiter, der in keiner bestimmten akademischen Tradition stand“ (Rheinberger 2013, S. 120), wahrgenommen wurde.

Bachelards normabweichendes Verhalten pluralisierte indes nicht nur den institutionell-akademischen Betrieb seiner Zeit. Vielmehr trug Bachelard einen Riss in die akademische Philosophie ein, der ihm nicht nur selbst neue, eigenständige Spielräume ermöglichte, sondern zugleich einen neuen Denkhorizont eröffnete. Bachelard strebte es an, der Wissenschaft diejenige Philosophie zu geben, die dem neuen wissenschaftlichen Geist gerecht zu werden vermag (Canguilhem 1979 [1963], S. 10). Nicht allein aufgrund der Abwendung Bachelards von einzelnen epistemischen Konventionen seiner Zeit, sondern weil er explizit den radikalen Bruch mit eingeschliffenen und tradierten Überzeugungen zum regulativen Prinzip seiner Epistemologie erhob, machte ihn zu einem streitbaren Geist. Eben diese epistemologische Positionierung, die heftige Kontroversen auslöste, war für Bachelard Voraussetzung, um zu einem neuen Denken zu gelangen. Angesichts dieser epistemischen Haltung wird Bachelard nicht nur nachträglich die intellektuelle Vaterschaft der historischen Epistemologie zugesprochen, sondern er gilt vielmehr als „Spiritus rector“ einer ganzen Generation von französischen Intellektuellen, der z. B. Georges Canguilhem, Dominique Lecourt, Louis Althusser, Etienne Balibar, Michel Foucault, Jacques Derrida, Gilles Deleuze und Pierre Bourdieu zugerechnet werden können (Erdur 2018, S. 155–162), die seine Überlegungen übernommen, fortentwickelt und modifiziert haben. Zugleich war Bachelard aber auch der „grosse anwesende Abwesende“ (Erdur 2018, S. 53) einer Theoriedebatte in Frankreich, dessen Impulse zwar enorme intellektuelle Resonanz erzeugten, ohne jedoch zwangsläufig explizit von seinen Nachkommen zitiert und dadurch in ihren Schriften sichtbar zu werden (Balibar 1994). Bachelards Philosopheme erhielten in diesem Sinne ihren Selbstverständlichkeitscharakter.

3 Die Bildung des wissenschaftlichen Geistes – Eckpunkte wissenschaftlicher Erkenntnisentwicklung im Anschluss an Bachelard

Mit der Entwicklung wissenschaftlichen Denkens beschäftigt sich Bachelard explizit in seiner im Jahr 1938 veröffentlichten epistemologisch situierten und pädagogisch ausgeflaggten Untersuchung Die Bildung des wissenschaftlichen Geistes. Die seinerzeit an der Universität Dijon entstandene Untersuchung beschäftigt sich mit der Rekonstruktion der Entwicklung von Erkenntnis und den damit verbundenen Erkenntnishindernissen. Unmittelbar erkennbar wird die doppelte Bedeutung seiner Schrift nicht, sondern ihre zwei Seiten sind erläuterungsbedürftig: „Die eine meint das geschichtliche Werden (Herausbilden) der (Natur‑)Wissenschaften, die andere verweist auf das Lernen, auf das individuelle Sich-Bilden“ (Langemeyer 2020, S. 144). Für eine pädagogische Lektüre bietet Bachelards Untersuchung einen vielversprechenden Referenzpunkt, weil sein pädagogisches Interesse in der Monografie „tiefe Spuren hinterlassen“ (Herzog 1995, S. 4) hat.

Die Auseinandersetzung mit der Entwicklung wissenschaftlichen Denkens hin zu einem neuen wissenschaftlichen Geist (Bachelard 1980 [1940]), der sich für Bachelard aufgrund der fundamentalen epistemischen Umwälzungen in den Naturwissenschaften im Ausgang des 19. Jahrhunderts ankündigte, weist leitmotivisch sein Anliegen aus, die „Aufdeckung“ (Bachelard 1987 [1938], S. 54) von Erkenntnishindernissen als epistemologisches und pädagogisches Programm zu begreifen: Einerseits geht es Bachelard darum, die sich verändernden epistemischen Bedingungen der Erzeugung wissenschaftlichen Wissens im Horizont ihres Erkenntnisgewinns und ihrer Erkenntnisgrenzen für die (Heraus‑)Bildung wissenschaftlicher Denkarten zu fokussieren; andererseits interessiert sich Bachelard dafür, der individuellen Bildung wissenschaftlichen Denkens pädagogisch über das Verfahren einer „Psychoanalyse“ beizukommen, worauf an späterer Stelle eingegangen wird. Die neu aufkommenden und sich verändernden Bedingungen der Erzeugung wissenschaftlichen Wissens erhalten Bachelards umfängliche Aufmerksamkeit und Zuwendung, womit er sich von seinen Zeitgenossinnen und Zeitgenossen absetzte: Denn während für Bachelard die „neue Wissenschaft längst alte metaphysische Weisheiten von sich gestossen“ (Erdur 2018, S. 54) hat und neue Reflexionshorizonte erfordert, steht ein Großteil seiner Zeitgenossinnen und Zeitgenossen weiterhin auf einem philosophischen Standpunkt, der nicht nur den Kontakt zu den neuen Entwicklungen in den Wissenschaften gezielt vermeidet, sondern stattdessen die neu aufkommenden wissenschaftlichen Erkenntnisse unter konventionelle historisch-unabhängige apriorische Annahmen zu unterwerfen und zu disziplinieren versucht.

3.1 Die Bildung des wissenschaftlichen Geistes – Bachelards „Lehrbuch“

Ausgehend von drei etwas grob sortierten größeren Perioden wissenschaftlichen Denkens (vorwissenschaftlicher, wissenschaftlicher und neuer wissenschaftlicher Geist) stellt Bachelard angesichts der Erschütterungen in den Naturwissenschaften zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine Zäsur fest und situiert an dieser Stelle das Aufscheinen eines neuen wissenschaftlichen Geists (Bachelard 1987 [1938], S. 39). Die über Jahrhunderte hinweg ausgeschöpften und mit der Zeit zunehmend selbstverständlich gewordenen Erkenntnisse und Wissensbestände, die noch Entwicklungspotential für den vorwissenschaftlichen und den wissenschaftlichen Geist garantierten, avancieren vor dem Hintergrund der epistemischen Umwälzungen in den Naturwissenschaften nunmehr zu Erkenntnishindernissen, die den Weg zum neuen wissenschaftlichen Geist blockieren, weshalb sie von Bachelard thematisch gemacht werden, um überwunden werden zu können.

Jenes von Bachelard eingestufte neue wissenschaftliche Denken fordert seiner Auffassung nach daher ein, „die entschiedensten psychologischen Veränderungen“ (Bachelard 1987[1938], S. 359) bei der Wissenserzeugung zu berücksichtigen. Es sind vor allem die selbstverständlich gewordenen epistemischen Gewissheiten und bislang geltenden Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis, die sich im Lichte der Umwälzungen zunehmend als hinderlich für kommende Erkenntnisentwicklung erweisen und korrigiert werden müssen, indem sie aus der Latenz geholt werden. Angesichts des Brüchigwerdens bislang bewährter Wissensbestände kuratiert Bachelard daher in Die Bildung des wissenschaftlichen Geistes ein „Museum der Irrtümer“ (Bachelard 1987 [1938], S. 56), um die aus seiner Sicht effektvollen Hindernisse und Hemmnisse bei der Erkenntnisentwicklung seiner Zeit zu veranschaulichen. Aber nicht nur die Veranschaulichung von Erkenntnishindernissen im Musée de Bachelard – welches Wolf Lepenies als „Gruselkabinett“ (Lepenies 1987, S. 18) begriff – interessierte Bachelard. Über die Zusammenstellung hinaus besitzt die kritische Revision von geltenden Erkenntnissen und ihrer Grenzen für Bachelard zentrale Bedeutung, weshalb Die Bildung des wissenschaftlichen Geistes in diesem Zuschnitt den Charakter eines wissenschaftstheoretischen Lehrbuchs für die Entwicklung wissenschaftlichen Denkens besitzt und sich daher noch heutzutage vorzüglich für propädeutische Übungen wissenschaftlichen Denkens in akademischen Einführungsseminaren eignet.

Aus einer wissenschaftsdidaktischen Perspektive nimmt es daher nicht wunder, dass Bachelard in die Bildung des wissenschaftlichen Geistes mit dem Konzept des „Erkenntnishindernisses“ einsetzt (Bachelard 1987 [1938], S. 46–58). Bachelard betont, dass sich eine wissenschaftliche Erkenntnis erst in einem „Kampf gegen (…) Vorurteile“ (Bachelard 1987 [1938], S. 44) gewinnen lässt, was er zwei Jahre später in der Philosophie des Nein (Bachelard 1980 [1940]) zuspitzen wird. Die Revisibilisierung scheinbar gegebener und selbstverständlich gewordener (Vor‑)Urteile (über Untersuchungsgegenstände beispielsweise) erweist sich für Bachelard als unhintergehbare Anforderung, um dem neuen wissenschaftlichen Denken Platz zum Entfalten zu verschaffen (Bachelard 1987 [1938], S. 46). Als ein erhebliches Erkenntnishindernis, um zu neuem wissenschaftlichen Geist zu gelangen, qualifiziert Bachelard zuvorderst die sogenannte „erste Erfahrung“ (Bachelard 1987[1938], S. 59–62).Footnote 5 Ihm wenden wir uns nun ausführlicher zu, weil Bachelard an ihm zentrale Einsichten zum Verhältnis zwischen Alltagsdenken und wissenschaftlichem Denken erörtert.

3.2 Der epistemologische Bruch zwischen wissenschaftlichem und alltäglichem Denken

Bachelard geht von der Prämisse aus, dass zwischen wissenschaftlicher Erkenntnis und Alltagsdenken keine bruchlose Einheit in der Weise besteht, dass wissenschaftliche Erkenntnis eine elaborierte Kontinuität lebensweltlich verankerter Wissensbestände herstellen könnte. Vielmehr setzt Bachelard einen sogenannten epistemologischen „Bruch“ (Bachelard 1987[1938], S. 54) zwischen beiden Sphären an. Eine wissenschaftliche Erkenntnis hat sich für ihn „gegen“ (Bachelard 1987[1938], S. 59; Hervorh. i.O.) die Alltagserfahrung durchzusetzen, um erst die Entwicklung zum neuen wissenschaftlichen Denken in Gang setzen zu können. Anders als für Edmund Husserl (1996[1936]), der in seiner 1936 veröffentlichten Krisis-Schrift zwar eine ähnliche Diagnose der Entwicklung der Wissenschaften wie Bachelard vorlegt, beginnt für Bachelard das wissenschaftliche Denken erst mit dem Bruch zur sogenannten Lebenswelt. Rainer Diaz-Bone führt dazu aus, dass für Bachelard, der ähnlich wie Husserl von den wissenschaftlichen Umwälzungen der Relativitätstheorie und der Quantenphysik beeindruckt war, „die Einheit versichernde Behauptung, dass es eine geteilte Lebenswelt gebe, (…) nicht nur fraglich geworden (ist), sondern schlichtweg überholt“ (Diaz-Bone 2008, S. 41) sei. Für Bachelard existiert eine gemeinsam geteilte Lebenswelt nicht, sondern für ihn gibt es vielmehr „verschiedene ‚Welten‘, die Resultat verschiedener wissenschaftlicher Weltbeschreibungen sind“ (Diaz-Bone 2008, S. 42), die überhaupt erst in Erscheinung treten und deren Pluralität erst dann intelligibel zu werden vermag, wenn mit dem Alltagsdenken radikal gebrochen wird. Mit anderen Worten: Der Bruch zwischen wissenschaftlichem Denken und Alltagsdenken, den Husserl als Krisis diagnostiziert, ist für Bachelard konstitutiv für die Erzeugung wissenschaftlicher Erkenntnis (Ebner von Eschenbach 2021a).

Daher geht Bachelard nicht mehr von der Überzeugungskraft einer Wirklichkeit vorgegebener Phänomene aus, die über sinnlich konkrete Erfahrung aufgefunden und für wissenschaftliche Erkenntnisgewinnung fruchtbar gemacht werden, sondern davon, dass erst im Bruch mit der ersten sinnlich konkreten Erfahrung eine wissenschaftliche Erfahrung zu erlangen sei (Bachelard 1987 [1938], S. 57 ff.). Der neue wissenschaftliche Geist, den Bachelard vor dem Hintergrund der Umwälzungen in den Naturwissenschaften vor Augen hat, orientiert sich nämlich nicht mehr am Unmittelbaren und Konkreten der Alltagswelt. Im Alltagsdenken dominiert für Bachelard eine realistische Anschauung, die nicht nur selbstverständlich sei, sondern die aufgrund ihrer begrenzten Wahrnehmungsmöglichkeiten zugleich die Voraussetzung in Alltagszusammenhängen stellt, Handlungsfähigkeit sowie sicherheits- und gewissheitsgebende Routinen ausprägen zu können. Das Problematische des Selbstverständlichen liegt indes für Bachelard darin, dass es sich der Reflexion entzieht und damit nicht mehr einholbar ist. Das Selbstverständliche besitzt „seine eigene Wahrheit“ und stützt damit die Meinung, die sich jedem Zweifel erhaben zeigt. Die Orientierung am Selbstverständlichkeitscharakter des Alltagsdenkens gelangt für Bachelard nicht nur schnell an ihre Erkenntnisgrenze, sondern verstellt vielmehr den Weg zum neuen wissenschaftlichen Geist. Eine realistische Auffassung vermag für Bachelard nicht hinreichend zur Abstraktheit und Komplexität moderner Wissenschaft aufzuschließen (s. a. Bachelard 2017 [1931–32]), denn die „moderne Forschungslogik setzt (…) am Gedankenkonkretum und eben nicht mehr beim Phänomen an“ (Langemeyer 2020, S. 150 f.). Also nicht mehr die sinnlich-konkrete Wahrnehmung des Erkenntnissubjekts, sein Alltagsvokabular, seine alltagsweltlich informierten Begriffe und Semantik vermögen einen Ausgangspunkt für den Weg zum neuen wissenschaftlichen Geist zu eröffnen, sondern dieser führt für Bachelard vielmehr über das „Gedankenkonkretum“, über eine noumenale Perspektive,Footnote 6 die sich vom Konkreten abstößt.

Anders gesprochen: Bachelard misstraut dem Alltagsdenken und seinem Erkenntnisvermögen, weil es auf Prämissen basiert (z. B. absolute Raum- und Zeitvorstellung, Substanzialismus), die den neuen wissenschaftlichen Geist nicht erreichen lassen. Daraus zieht Bachelard den Schluss, dass der neue wissenschaftliche Geist nicht mehr transzendentalphilosophisch apriorisch zu fundieren sei, sondern vielmehr einem historischen Apriori folgt. In dem Moment, in dem die (noumenale) Vielfalt durch die alltagsgebundene Erfahrungsmöglichkeit beschränkt bleibt, „wird sie ein epistemologisches Hindernis, dessen Überwindung, didaktisch betrachtet, eine harte Nuss sein dürfte, da der Kantianismus die ‚ans Wunderbare grenzende Übereinstimmung der Prinzipien der Intuition und der Prinzipien des Verstandes‘ suggeriert“ (Langemeyer 2020, S. 148). Daher elaboriert sich das wissenschaftliche Denken für Bachelard auch nicht über die allmähliche Verfeinerung alltagsweltlicher Erfahrungen, sondern erst durch ihre „Problematisierung“ (Bachelard 1974 [1949]) bzw. durch den epistemologischen Bruch mit dem Vertrauten und scheinbar unabhängig Gegebenem der ersten Erfahrung.

Dieser Bruch mit dem Wohlbekannten und dem Selbstverständlichen wird für Bachelard zur Bedingung der Möglichkeit wissenschaftlicher Erkenntnisgewinnung. Mit Markus Arnold lässt sich dahingehend bestätigen, dass nur diejenige oder derjenige, die oder der „diesen Bruch denkend nachvollzieht, an der Wissenschaft teilhaben (könne), während jeder Versuch einer ‚Rückübersetzung‘ in die Vorstellungen und Begriffe unserer Lebenswelt einem die Wissenschaft gerade nicht näherbrächte. Jede Anknüpfung an scheinbar den wissenschaftlichen Erkenntnissen ähnliche Alltagserfahrungen beseitigt die Erfahrung des epistemischen Bruches und zerstört damit wieder den einzigen wirklichen Gewinn, den Wissenschaft unserer Erkenntnis verschaffen kann“ (Arnold 2010, S. 176 f.). Von einer Bildung des wissenschaftlichen Geistes kann daher im Bachelardschen Sinne erst dann gesprochen werden, wenn das wissenschaftliche Denken seine „Bezüge zu lebensweltlichen Fragestellungen und Problemen aufgibt“ (Lepenies 1987, S. 18). Allerdings schließt seine dialektisch zu verstehende Negation weitere Erkenntnisformen (Gabriel 2019) keinesfalls in ihrem legitimen Eigenrecht aus – ganz im Gegenteil bietet z. B. lebensweltlich anschauliches Alltagswissen eine unverzichtbare Grundlage für den methodologisch kontrastierenden Ausgang bei der Entwicklung wissenschaftlicher Erkenntnis.Footnote 7 Für eine Erwachsenenbildung, die als Instanz der Verarbeitung epistemischer Brüche zu kontrieren beabsichtigt wird, ist dieser Aspekt von Gewicht.

3.3 „Psychoanalyse“ von Erkenntnishindernissen

Die Auseinandersetzung mit Erkenntnishindernissen ist für die Bildung des wissenschaftlichen Geists unhintergehbar. Um den impliziten Vor-Urteilen im wissenschaftlichen Denken auf die Spur zu kommen, bedarf es nach Bachelard „einer langen und mühsamen Psychoanalyse“ (Bachelard 1987 [1938], S. 83) bzw. einer „Psychoanalyse der anfänglichen Irrtümer“ (1987 [1938], S. 53). Im Untertitel der Bildung des wissenschaftlichen Geists betont Bachelard daher seine Untersuchung als „Beitrag zu einer Psychoanalyse der objektiven Erkenntnis“. Dass Bachelards Auffassung von Psychoanalyse in einem spezifischen Sinn verstanden werden sollte, ist nicht selbsterklärend (Chimisso 2001, S. 181–218; Zwart 2019, S. 35–54). Psychoanalyse in engerem Sinne wird von Bachelard nicht in Stellung gebracht (Lepenies 1987, S. 22). Das heißt, Bachelard „ordnet sich nicht eindeutig der Freud’schen oder Jung’schen Strömung zu, vielmehr eignet er sich von beiden Begriffen an, verändert allerdings deren Bedeutungen durchaus“ (Tulatz 2018, S. 214). Im Hinblick auf diese Form der Begriffsaneignung sprechen beispielsweise Werle (1985, S. 150) und Rheinberger (2018, S. 185) von einer „idiosynkratischen“ Begriffsrezeption Bachelards oder Rötzer von einer „recht frei konzipiert[en] Psychoanalyse“ (Rötzer 1988, S. 109). Der lockere Begriffsbezug auf die Psychoanalyse brachte Bachelard bisweilen einen Psychologismusvorwurf ein (Tulatz 2018, S. 214 f.), auch wenn er selbst in Die Bildung des wissenschaftlichen Geistes darlegt, keine „direkte Psychologie“ (Bachelard 1987 [1938], S. 203; Hervorh. i.O.), bzw. auch keine „Psychologie des Ichs“ (Bachelard 1987 [1938], S. 159) anzustreben. Rheinberger gibt daher zu bedenken, dass Bachelard vielmehr eine überindividuelle „‚Psycho‘-Analyse des Wirklichkeits-Denkens“ (Rheinberger 2018, S. 186) vor Augen hat und die Funktion der Figur des Psychoanalytischen wohl schlicht darin liegen mag, „dass eine Verschiebung, die einmal virulent war und nun nicht mehr wahrgenommen wird, wieder ins Bewusstsein gehoben und damit problematisierbar wird“ (Rheinberger 2018, S. 190).

Dass das, was bereits gekannt wird, nur ziemlich schwer auszutreiben sei, zieht Bachelard ins Kalkül seiner Psychoanalyse. Dass die Entwicklung und Entfaltung wissenschaftlichen Denkens auch nicht von allein geschehe, sondern pädagogisch zu fördern sei, hat Bachelard nicht nur in seiner universitären Lehre erlebt, sondern auch verstärkt in seiner Gymnasiallehrerzeit in Dijon. Die Bildung des wissenschaftlichen Geistes setzt bei Bachelard daher auch nicht an der Annahme fehlenden Wissens an, welches aufgefüllt werden kann, sondern aus pädagogischer Perspektive hat man es seiner Auffassung nach bereits immer mit einem von Hindernissen bevölkerten wissenschaftlichen Geist zu tun (Bachelard 1987[1938], S. 52). Da es „unmöglich (ist), mit einem Schlage reinen Tisch mit dem überkommenen Wissen zu machen“ (Bachelard 1987 [1938], S. 47), ist es für Bachelard folgerichtig, auf die Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis im Modus einer „diskursiven Korrektur“ (Bachelard 1987 [1938], S. 349) rekurrent einzugehen und sie im Horizont der jeweils vorherrschenden gesellschaftlich gegebenen Erkenntnisbedingungen je neu zu sondieren. Dass das Psychoanalysieren der Erkenntnishindernisse nicht nur auf individueller Ebene vonstatten geht, sondern die von ihm angesprochene diskursive Korrektur zugleich die Eingebundenheit in einen sozialen Zusammenhang meint, ist für Bachelard entscheidend. Durch das „Bewusstsein einer Gruppenvernunft“ (Bachelard 1987 [1938], S. 351) wird eine sozial hergestellte Objektivität der Erkenntnis von Bachelard als möglich ersonnen: „Mit anderen Worten, damit die objektive Wissenschaft ihren vollen Erziehungswert erhält, müsste ihr Unterricht in sozialer Hinsicht aktiv werden“ (Bachelard 1987 [1938], S. 351). Die Bachelardsche Psychoanalyse zielt danach zugleich auf eine individuelle und auf eine kollektive Seite bei der Bearbeitung und Überschreitung von Erkenntnishindernissen und verklammert diese beiden Seiten als eine „Pädagogik der Objektivität“ (Bachelard 1987[1938], S. 351), die sich durch ihre ineinander verschränkte Wechselseitigkeit auszeichnet: „wer unterrichtet wird, muß auch unterrichten“ (Bachelard 1987 [1938], S. 351; Hervorh. i.O.).

Der Weg zur Entwicklung des wissenschaftlichen Geists vollzieht sich für Bachelard diskontinuierlich über die Psychoanalyse von Erkenntnishindernissen im Horizont der „geschichtlichen Entwicklung des wissenschaftlichen Denkens“ (Bachelard 1987[1938], S. 50). Vor diesem Hintergrund ist es von Belang, dass dem Erkenntnishindernis eigen ist, nicht nur eine Schlüsselfunktion für die geschichtliche Entwicklung wissenschaftlichen Wissens zu übernehmen, sondern auch als pädagogisches Hindernis für die „Praxis der Erziehung“ (Bachelard 1987[1938], S. 50) Aufmerksamkeit erlangt. Bachelard begreift das Erkenntnishindernis zugleich als „Erziehungshindernis“ (obstacle pédagogique) (Bachelard 1987[1938], S. 52). „The pedagogical obstacle is the same as the epistemological obstacle seen from the point of view of teaching“ (Chimisso 2001, S. 90). Ausgehend von der vorangegangenen Darstellung liegt das pädagogische Hindernis für Bachelard darin begründet, sich allein auf die Beziehung zwischen Lehrenden und Lernenden zu beziehen und die soziale Gemeinschaft, durch die die diskursive Korrektur der Erkenntnishindernisse für Bachelard zu gelingen vermag, ausspart. Angesichts dieser Berücksichtigung des Zusammenspiels spricht ihm Ines Langemeyer als pädagogisches Verdienst zu, für

die Fallstricke des Verstehens und des didaktischen Vermittelns zu sensibilisieren, welche sich in paradigmatischen Verschiebungen zwischen Alltagsverstand und wissenschaftlichem Verstand auftun (Langemeyer 2020, S. 145).

Die Marginalisierung der pädagogischen Funktion des Erkenntnishindernisses kommentiert Bachelard mit den Worten, dass dem Erkenntnishindernis als pädagogisches Hindernis „zu wenig“ (Bachelard 1987 [1938], S. 52) Beachtung geschenkt wird, und verdeutlicht dies an Beispielen aus seiner Gymnasiallehrerzeit in Die Bildung des wissenschaftlichen Geistes (Bachelard 1987 [1938], z. B. S. 52 f., 81 ff., 103 ff., 105 ff., 335 ff.).

Der in Zeiten epistemischer Umwälzungen von Bachelard eingeforderte Bruch zwischen neu aufkommenden und historisch gegebenen Denkweisen hat dann nicht nur eine epistemologische Qualität, sondern auch eine pädagogische. Neu auf- und hinzukommende Denkweisen können nicht einfach übernommen werden, sondern benötigen die Negation zu den (auch eigenen) selbstverständlich gewordenen Vorstellungswelten. Mit Langemeyer gesprochen kann untermauert werden, dass für Bachelard daher

Bildungsprozesse in der Wissenschaft (…) nicht zweigeteilt, sondern zweiseitig (sind): Sie sind in einem individualpsychologischen und in einem gesellschaftlichen Sinne geschichtlich – und zwar nicht nacheinander, sondern genau in dem Weg über die Irrtümer, womit epistemologische Hindernisse (…) überwunden werden (Langemeyer 2020, S. 144; Hervorh. i.O.).

Eine pädagogische Intervention, die nicht diese komplementäre Wechselseitigkeit berücksichtigt, so könnte einer resümierenden Lektüre Bachelards stattgegeben werden, agiert daher auf verlorenem Posten.

4 Erwachsenenbildung im Horizont einer „culture continuée“ als Instanz zur Verarbeitung epistemischer Brüche

Vor dem Hintergrund der von Bachelard entwickelten Konzepte des epistemologischen Bruchs und des Erkenntnishindernisses erlangt nun ein bislang wenig berücksichtigter Gedanke Bachelards, den er am Ende seiner Untersuchung Die Bildung des wissenschaftlichen Geistes programmatisch setzt, besondere Bedeutung. Abseits seiner auf den Schulunterricht bezogenen pädagogischen Einsätze (Herzog 1995) und seiner für hochschuldidaktische Fragestellungen furchtbar gemachten Überlegungen (Langemeyer 2020), lädt die Lektüre Bachelards dazu ein, eine Reflexion auf Erwachsenenbildung anzustoßen, die ihr die Funktion einer lernförmigen Verarbeitung epistemischer Transformationsprozesse zuzuschlagen vermag. Dieser Profilierungsversuch wird nicht nur durch die bisherige Lektüre motiviert, sondern durch das von Bachelard kurz skizzierte Prinzip einer „ununterbrochenen Bildung“ (Bachelard 1987[1938], S. 362; Hervorh. i.O.) gestützt.

Auf der letzten Seite der Bildung des wissenschaftlichen Geistes skizziert Bachelard:

Wenn wir über die Lehrpläne hinaus bis zu den psychologischen Realitäten gingen, sähen wir ein, daß der wissenschaftliche Unterricht vollständig reformiert werden muß, es würde uns klar werden, daß die modernen Gesellschaften die Wissenschaft überhaupt noch nicht in ihre Allgemeinbildung integriert haben. Man entschuldigt sich mit dem Hinweis, die Wissenschaft sei schwierig und die Wissenschaften spezialisierten sich ständig weiter. Aber je schwieriger ein Werk ist, desto größer ist sein erzieherischer Wert. Je weiter eine Wissenschaft spezialisiert ist, desto mehr geistige Konzentration verlangt sie; desto größer ist auch die Interessenfreiheit, die sie beseelt. Das Prinzip der ununterbrochenen Bildung stellt übrigens die Grundlage einer modernen wissenschaftlichen Bildung dar (…) Nur im Werk der Wissenschaft kann man lieben, was man zerstört, kann man die Vergangenheit fortsetzen, indem man sie negiert, kann man seinen Lehrer ehren, indem man ihm widerspricht. Dann dauert die Schule das ganze Leben hindurch. Ein auf Schulzeit beschränkter Bildungsprozeß ist die Negation der wissenschaftlichen Bildung. Wissenschaft besteht nur durch eine permanente Schule, und diese Schule muß die Wissenschaft gründen. Dann werden die gesellschaftlichen Interessen endlich umgekehrt: die Gesellschaft wird für die Schule da sein und nicht die Schule für die Gesellschaft (Bachelard 1987 [1938], S. 362; Hervorh. i.O.).

Bei der ins Deutsche übersetzten Fassung der Bildung des wissenschaftlichen Geistes von Michael Bischoff, auf die im vorliegenden Beitrag durchgehend zurückgegriffen wird, ist zunächst ein Aspekt zu berücksichtigen, der für eine pädagogische Lektüre Relevanz hat. Während im französischen Originaltext von La Formation de l’esprit scientifique von Bachelard (1938) zwischen „formation“ und „culture“ differenziert wird, so ist diese Differenz in der deutsch übersetzten Ausgabe größtenteils getilgt. Beide Begriffe werden dort überwiegend mit „Bildung“ (seltener „Ausbildung“) übersetzt. Die von Bachelard eingeführte Unterscheidung in „formation“ und „culture“ ist indes pädagogisch von Gewicht, weil sie die für Erkenntnisgenerierung konstitutive Verschränkung beider Seiten thematisch werden lässt. Weiterhin, und darauf soll in Bezug auf das oben herangezogene Zitat von Bachelard hingewiesen werden, spricht Bachelard im französischen Originaltext an der entsprechenden Stelle nicht, wie es die deutsche Übersetzung vorschlägt, von einer „ununterbrochenen Bildung“, sondern von einer „culture continuée“. Im französischen Originaltext lautet es: „Le principe de la culture continuée est d’ailleurs à la base d’une culture scientifique moderne“ (Bachelard 1938, S. 283 f.; Hervorh. i.O.). Bachelard betont also das Prinzip einer „culture continuée“ als Grundlage moderner wissenschaftlicher Bildung.

Die zunehmende Bedeutung und der Anspruch der Ausgestaltung einer „culture continuée“ liegen für Bachelard darin, dass vonseiten wissenschaftlicher Erkenntnisentwicklung mit einer zunehmenden Komplexität ausgestattete Erkenntnisse erzeugt werden, die zum Teil „revolutionären Charakter“ (Bachelard 1987 [1938], S. 359) besitzen und dadurch neue Erkenntnisgrenzen eintragen, mit deren Konsequenzen ein Umgang gefunden werden muss. Für Bachelard zeichnete sich dies zu Beginn des 20. Jahrhunderts ab, weshalb für ihn die „heutige Wissenschaft (…) in zunehmendem Maße eine Reflexion über Reflexion“ (Bachelard 1987 [1938], S. 359) einfordere, und dass das „moderne wissenschaftliche Denken verlangt, daß man der ersten Reflexion“ (Bachelard 1987 [1938], S. 360) bzw. der ersten Erfahrung zu widerstehen habe. Daher „(muß) die wissenschaftliche Bildung in einen Zustand permanenter Mobilisierung versetzt werden“ (Bachelard 1987 [1938], S. 53), um der zunehmenden Ungewissheit der Wissensbestände gerecht werden zu können.

Eine gewonnene Erkenntnis stellt für Bachelard bisher geltende, jedoch latent gehaltene Erkenntnisannahmen und mit ihnen verbundene Wissensbestände infrage (Bachelard 1987 [1938], S. 345). Auch wenn Bachelard aus der „Position eines Liebhabers der Wissenschaften schreibt“ (Rheinberger 2017, S. 37) wäre es dennoch ein Missverständnis, daraus den Schluss zu ziehen, dass Bachelard Erkenntnishindernisse, hier z. B. das Alltagsdenken, prinzipiell pejorativ begreift. In dieser Hinsicht gelten Erkenntnishindernisse bzw. Erkenntnisirrtümer Bachelard aus epistemologischer Perspektive auch nicht als eine uneingeschränkt zu vermeidende Schwierigkeit, sondern die einmal aufgedeckten erkenntnishemmenden Wissensbestände treiben vielmehr die Entwicklung wissenschaftlichen Denkens voran. Die Beziehung zwischen Erkenntnis und Erkenntnishindernis ist von Bachelard als dialektisch konzipiert zu verstehen, denn mit voranschreitender Entwicklungszeit können einstmals weiterführende Erkenntnisse durchaus zu Erkenntnishindernissen werden. Mit Hans-Jörg Rheinberger gesprochen lässt sich dieser Sachverhalt präzise auf den Punkt bringen:

Zunächst einmal ist es das Alltagswissen, das sich dem wissenschaftlichen Wissen entgegenstellt. Im Fortgang des Wissens wird aber die jeweils erreichte Stufe der Erkenntnis selbst jeweils wieder zum Hindernis ihrer eigenen Überwindung. Diese Überwindung stellt sich dann immer wieder als ein ‚Bruch‘ mit dem vorhandenen Wissen dar. Hindernis und Bruch sind die beiden Seiten einer Medaille (…) (Rheinberger 2019, S. 8).

Eine neue wissenschaftliche Erfahrung benötigt daher die vorangegangene alte Erfahrung, von der sich durch ein Non produktiv abgestoßen werden kann, „denn ohne dies handelt es sich ganz eindeutig nicht um eine neue Erfahrung“ (Bachelard 1980 [1940], S. 24). Kurzum: „Irrtum, du bist kein Übel“ (Bachelard 1987 [1938], S. 349). Gleichwohl redet Bachelard damit nicht einer naiven Fehlerfreundlichkeit das Wort, sondern er sensibilisiert für die entschiedene Auseinandersetzung mit epistemologischen Fragen und problematisiert vielmehr ihre Aussparung im Horizont wissenschaftlicher Forschung.

Was sich jedoch als ein Erkenntnishindernis erweist bzw. erweisen wird, manifestiert sich für Bachelard erst rückblickend und auch erst dann, wenn eine Erkenntnis als Hindernis bzw. Irrtum intelligibel gemacht wird.Footnote 8 Diese Perspektive einer – in Bachelards Terminologie gesprochene – „Rekurrenz“ (récurrence) (Bachelard 1987 [1938], z. B. S. 341) lässt sich als iterierender „Berichtigungs- und Reorientierungsprozess“ (Rheinberger 2006, S. 43) auffassen, der zur Erkenntnisgewinnung führt und für Bachelard unabgeschlossen bleibt (Bachelard 1987 [1938], S. 344 ff.). Im Horizont dieser „Haltung eines offenen, rekurrenten Zweifels an der Vergangenheit sicheren Wissens“ (Bachelard 1988 [1934], S. 163; Hervorh. i.O.) folgt für Bachelard die Einsicht, dass heutige neue Erkenntnisse bereits morgen wieder zu Erkenntnishindernissen „degenerieren“ (Bachelard 1987 [1938], S. 47) können. Die Qualität, plötzlich die Einstufung eines Erkenntnishindernisses zu erhalten, ist folglich keine substanziell bestimmbare Eigenschaft, sondern vielmehr von der gesellschaftlich-historischen Konstellation im Verlauf einer übergreifenden Transformationsbewegung abhängig und somit relational zu fassen (z. B. Ebner von Eschenbach 2021b). Es führt daher auch in eine Sackgasse, den Anspruch zu erheben, Erkenntnishindernisse vorausschauend zu antizipieren und ihnen vorbeugen zu wollen. Vor dem Hintergrund der Bachelardschen Dialektik zwischen Erkenntnis und Erkenntnishindernis sind letztere vielmehr als lebendiger Ausdruck einer resonanten Irritationsfähigkeit zu verstehen, die einen produktiven Umgang mit Unbestimmtheit ermöglichen (Schäffter 1997). Die Auseinandersetzung und Korrektur des Wissens avanciert daher zum Motor eines iterativen Erkenntnisentwicklungsprozesses, ohne dass den neu hervorgebrachten Erkenntnissen ein totaler Geltungsanspruch zukommt, sondern eine je neue gewonnene Erkenntnis bleibt vorläufig, aber keinesfalls unwirksam (Schäfer 2021). In Zeiten gesellschaftlicher Kontingenzsteigerung erweist sich daher vielmehr die Ignoranz gegenüber obsolet gewordenen (Vor‑)Annahmen und Erkenntnissen als problematisch und erkenntnishinderlich für die Navigation in unbestimmten Übergängen (z. B. Ebner von Eschenbach 2021c).

Episteme Transformationsprozesse entfalten hoch komplexe Dynamiken, die geltende Begründungs- und Fundierungsmuster erodieren und bislang gewohnte Erfahrungen und bewährte Wissensbestände plötzlich und unvermutet als kontingent und häufig obsolet, zumindest korrekturbedürftig, erkennbar werden lassen (Schäffter 2001). Der Widerstand des Denkens gegenüber den historisch-epistemischen Transformationsdynamiken und die Beharrung des Denkens auf Gewohntem erweisen sich daher für Bachelard als besondere Herausforderungen (Bachelard 1987 [1938], S. 41) für Erkenntnisentwicklung und sind ebenso von Gewicht für lebensweltliche Zusammenhänge (Ebner von Eschenbach 2019, S. 101–109). Entscheidend ist nun, dass Erwachsenenbildung sich der epistemischen Dynamik gesellschaftsstruktureller Transformationsprozesse annimmt und sie lernförmig zu verarbeiten anstrebt, dergestalt dass sie Überschreitungserfahrungen ermöglicht, indem sie, wie wir weiter oben mit Arnold feststellten, die Erfahrung des epistemischen Bruches nicht beseitigt. Eine Erwachsenenbildung, verstanden als Instanz zur Verarbeitung epistemischer Brüche, wäre danach ein resonantes irritationsfähiges Unterfangen, das sich auf die Gleichzeitigkeit und auch Konkurrenz differierender Epistemologien einzustellen und ihre Wechselseitigkeit auszuloten hätte (Horsthemke 2020). Im Horizont einer weltweit ausgedehnten Erwachsenenbildung verschärft sich diese Situation: Die Verarbeitung der vielfältigen epistemologischen Profile wird dann zu einer Herausforderung für die Gestaltung von Übergangssituationen, die nicht mehr auf nationalstaatliche Grenzen eingeschränkt sind, sondern deren Bezüge komplexer werden und sich in der Folge verkomplizieren. In diesem Sinne ließe sich der Forderung von Tanja Obex und Edgar Forster (2021) anschließen und für eine „epistemische Neugier“ in der Erwachsenenbildung zu plädieren. Wenngleich diese skizzierte Kontur einer Erwachsenenbildung als Instanz zur Verarbeitung epistemischer Brüche noch weichgezeichnet ist, sollte ihre Offenheit nicht abschrecken, sondern vielmehr einladen, mitzudenken.