1 Ein originelles Geschichtsbuch

Die Volkshochschulen in Deutschland haben sich im Jahr 2019 die Gelegenheit zur öffentlichen publizistischen Selbstdarstellung ihrer Geschichte und ihrer Erfolge nicht entgehen lassen, die sich für sie dadurch bot, dass vor 100 Jahren „das Volksbildungswesen, einschließlich der Volkshochschulen“ im Grundrechteteil der „Verfassung des Deutschen Reiches“ (Weimarer Verfassung) vom 11. August 1919 in Art. 148 Abs. 4 verankert worden ist: „Das Volksbildungswesen, einschließlich der Volkshochschulen, soll von Reich, Ländern und Gemeinden gefördert werden.“Footnote 1 Die herausragende verfassungsrechtliche Stellung, die die Volkshochschulen als einzige explizit genannte Organisationsform des „Volksbildungswesens“ im „Schatten“ der heftigen politischen Auseinandersetzungen um den „Weimarer Schulkompromiss“ erlangt haben, ist der Ausgangspukt für eine historische Kontinuitätsgeschichte, die die deutschen Volkshochschulen im vergangenen Jahr mit einem großen Festakt in der Frankfurter Paulskirche und der Veröffentlichung eines konzeptionell und methodisch originellen Geschichtsbuchs gefeiert haben (Schrader und Rossmann 2019).Footnote 2

Die Originalität liegt zunächst darin, dass es den Herausgebern gelungen ist, über hundert den Volkshochschulen verbundene Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, zahlreiche Leitende und Mitarbeitende an Volkshochschulen sowie einzelne Politikerinnen und Politiker zur Mitarbeit zu gewinnen und dadurch das Konzept einer kollektiven, gemeinschaftlich verantworteten Geschichtsschreibung zu realisieren. Die methodische Voraussetzung dafür war die Entscheidung, dem ehrfurchtgebietenden Anlass eines 100-jährigen Jubiläums in einer dezidiert nicht-monumentalen literarischen Form zu entsprechen, indem die Kontinuitätsgeschichte gleichsam in einzelne Elemente zerlegt wurde, um sie – so der Untertitel – in „100 Geschichten ihres Alltags“ zu erzählen. Durch diesen Kunstgriff wird die 100-jährige Geschichte in einen 100 Stimmen umfassenden „Erzählchor“ und in ebenso viele historische bzw. historiographische Miniaturen transformiert. Das Strukturprinzip dieser Darstellungsform bestand darin, für jeweils ein Jahr ein ausgewähltes singuläres „Ereignis“ aus der Geschichte der Volkshochschulen und der Zeitgeschichte zu präsentieren. In diesem Ereignis, oftmals in einem biographischen Porträt von Akteurinnen und Akteuren verdichtet, soll sich eine pädagogische Praxis, eine programmatische Intention, eine verbandspolitische Entwicklung und nicht zuletzt der gesetzlich-politische Rahmen der Volkshochschule in Deutschland wie in einem Prisma spiegeln. An historischen Zeugnissen konnten die Autorinnen und Autoren auf Fotos, Interviews, Zeitungsartikel, Plakate, Filme, Grafiken und Textdokumente zurückgreifen, die aber erst dadurch zu uns sprechen und reden, dass sie zu Elementen unterschiedlicher und frei gewählter literarischer Darstellungsformen werden.

2 Erzählungen in vielfältigen literarischen Darstellungsformen

Es sind, wie die Herausgeber betonen und in einer luziden Einleitung rechtfertigen, allesamt Erzählungen, die sich zu einem Teil im Stil historischer und oftmals anregend spannender Kurzreportagen präsentieren, wie etwa die erste und sozusagen grundlegende „dramatische Erzählung in drei Akten“ von Josef Schrader darüber, wie 1919 das „Volkshochschulwesen, einschließlich der Volkshochschulen“ Eingang in den Verfassungstext gefunden hat. Oder auch der Bericht über den Sprengstoffanschlag auf die 1999 in der Saarbrücker Volkshochschule gezeigte Wanderausstellung „Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944“, erzählt von der damaligen Leiterin Sigrid Schöll (Das Attentat auf die Wehrmachtausstellung in Saarbrücken, S. 200–201).

Besonders anschaulich wird dabei auch die Gleichzeitigkeit von Ereignissen in den beiden deutschen Staaten der Nachkriegsära, wie etwa jene zwischen dem Gründungstag des Deutschen Volkshochschulverbandes in West-Berlin und dem von sowjetischen Panzern niedergeschlagenen Arbeiteraufstand in Ost-Berlin am 17. Juni 1953 (Heidi Staschen: Wir haben gesehen, wie die Panzer aufgefahren sind, S. 100–101). Und wie ein Echo aus der jüngeren Vergangenheit, das in unsere unmittelbare Gegenwart hineinhallt, liest sich die Geschichte über die 1973 etablierten Sprach- und Integrationsbildungskurse an der Volkshochschule Jena, als chilenische Flüchtlinge in der DDR eintrafen, die nach dem vom US-amerikanischen CIA unterstützten Militärputsch gegen den sozialistischen Präsidenten Salvador Allende ihre Heimat verlassen hatten (Gudrun Luck: Deutschunterricht für chilenische Flüchtlinge, S. 144–145).

Zu einem anderen Teil sind es aber auch fiktionale Erzählformen, zum Beispiel der fiktionale Monolog eines Arbeiters über seine Motive zur Teilnahme an einem Volkshochschulkurs im Jahr 1920 (Christine Zeuner: Das pädagogische Laboratorium Dreißigacker, S. 26–27) oder der fiktive Brief von Theodor Bäuerle aus der Gestapo-Haft. Der frühere Leiter der Stuttgarter Volkshochschule, der in diesem Brief aus dem Jahr 1942 Rechenschaft ablegt, habe, so wird fiktional erzählt, „eine Zeit lang gehofft, ja sogar fest geglaubt, die Volksbildungsbewegung […] könne auf dem ideologischen Boden des neuen Regimes fortgeführt werden“ (Dagmar Mikasch-Köthner: Ein ungeschriebener Brief aus der Gestapohaft, S. 72–73). Die Realität von Verfolgung und Terror gegenüber den Wenigen, die die Kraft zum Widerstand gegen den Nationalsozialismus aufbrachten, tritt den Leserinnen und Lesern dann noch einmal in dem Porträt Adolf Reichweins, der im Schauprozess vor dem Volksgerichtshof am 20. Oktober 1944 gezeigt wird, bewegend vor Augen. Noch am selben Tag wurde Reichwein in Plötzensee hingerichtet (Ullrich Amlung: Pädagoge im Widerstand, S. 76–77).

In eindrücklicher Weise werden die Perspektiven der handelnden Akteure und ihre Intentionen, für die sie selbst nicht mehr sprechen können, dadurch zur Geltung gebracht, dass wir beispielsweise in Form eines fiktiven Tagebucheintrags nicht nur zu Zeugen ihrer Reflexionen und Probleme, sondern auch zu ihren Gesprächspartnern werden. Dadurch könnten sich die Leserinnen und Leser aufgefordert fühlen, sich an der Bearbeitung und Lösung von Problemen zu beteiligen, die zum Teil bis heute nicht erledigt sind. So reflektiert Willy Strzelewicz, der erste Leiter der 1957 gegründeten Pädagogischen Arbeitsstelle (PAS), aus der 1994 das DIE hervorgeht, im Jahr 1959: „Seit zwei Jahren […] beschäftigt mich die Frage, wie wir Volkshochschulen helfen können, die richtigen Mitarbeiter für steigende Hörerzahlen zu gewinnen. Die Erwachsenenbildung hat diese Frage bisher auffallend vernachlässigt“ (Josef Schrader: Geburtsstunde der Falkensteiner Seminare, S. 112–113). In der Marginalspalte zu diesem fiktiven Tagebucheintrag ist das Wort „Professionalisierung“ gesetzt worden – und damit der thematische Fokus des Ereignisses benannt.

3 Theoretische Interpretationsebene durch analytische Begriffsarbeit

Diese jedem Beitrag beigegebenen thematisch-inhaltlichen Begriffe ergeben ein sozusagen „historisch gesättigtes“ Begriffs- und Beschreibungsvokabular, durch welches das inhaltliche Programmangebot und die institutionell-organisatorische Entwicklung der Volkshochschulen, ihre bildungspolitische und bildungstheoretische Programmatik und mit einem besonderen Nachdruck auch die verbandspolitische Entwicklung erkennbar wird. Erst durch diese analytische Begriffsarbeit erhalten die einzelnen historisch verbürgten Ereignisgeschichten eine theoretische Interpretationsebene, durch die es möglich wird, „im Singulären das Allgemeine der Geschichte der Volkshochschulen“, wie es in der Einleitung heißt (S. 14), sichtbar zu machen. Dieses Allgemeine wird auch greifbar in der Fähigkeit der Volkshochschulen, auf gesellschaftliche Entwicklungen und Problemlagen mit neuen Programm- und Angebotsstrukturen zu reagieren. Doch dass in dieser institutionellen Reaktions- und Wandlungsfähigkeit allein kein hinreichendes Erfolgskriterium für die Zukunft der Volkshochschulen liegt, zeigt sich in dem am Ende der Einleitung von den Herausgebern konstatierten, erklärungsbedürftigen Paradoxon, dass die Volkshochschulen trotz ihrer historischen Erfolgsgeschichte „unablässig um ihre Legitimation ringen“ müssen (S. 18) und der „Bedarf an Legitimationsarbeit […] ungebrochen [ist]“ (S. 20). Dieses Paradoxon, das die Volkshochschulen mit den von den Kirchen verantworteten Einrichtungen für Erwachsenenbildung teilen, ist gewissermaßen der Stachel in ihrem kulturellen Gedächtnis, als dessen Grundriss man diesen Band auch lesen darf.

4 Eine Einladung, die Traditionsgeschichte der Volkshochschulen fortzusetzen

Dass dieser Widerspruch zwischen Erfolgsgeschichte und Legitimationsunsicherheit im Kontext einer sozusagen verfassungspolitisch inspirierten Geschichtsschreibung mit aller Schärfe zu Bewusstsein kommt, betrachte ich als einen besonderen Gewinn dieses eindrucksvollen Zeugnisses einer kollektiven Erinnerungsarbeit. Und aus der institutionellen Binnensicht der Volkshochschulen ist es gewiss auch legitim, dass sie den verfassungspolitischen Erfolg, in der Weimarer Verfassung explizit genannt worden zu sein, als Ausgangspunkt und Impuls für die historische Konstruktion einer 100-jährigen Kontinuitätsgeschichte in Anspruch nehmen. Doch die tatsächliche historische Wirksamkeit dieses verfassungspolitischen Erfolges beschränkt Josef Schrader in seiner instruktiven Ereignisgeschichte völlig zurecht darauf, dass der Artikel 148 Absatz 4 in den Jahren nach 1919 zwar einerseits „einen historisch beispiellosen Gründungsschub der Volkshochschulen“ gestützt hat; zugleich merkt er aber auch ebenso kurz wie etwas rätselhaft an, dass mit der Verfassung „eine Hoffnung auf spätere Erfüllung“ verbunden sei. Doch: „Diese Erfüllung steht für die Erwachsenenbildung noch aus“ (S. 25). Eine Hoffnung, deren Erfüllung noch aussteht, lässt sich mit einer berühmt gewordenen Idee von Ernst Bloch als „ein noch unabgegoltenes Erbe“ verstehen, als ein noch einzulösendes Versprechen. In etwas kleinerer begrifflichen Münze wäre sie auch als Frage zu verstehen, ob und warum uns ein Ereignis, das weit zurückliegt, „etwas angeht“. Diese Frage beantwortet der Jubiläumsband zwar nicht, aber er will mit seiner Konzeption, 100 Geschichten zu erzählen, besonders den Mitarbeitenden der Volkshochschulen, darüber hinaus aber auch den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern und allen anderen, die sich der Volkshochschule verbunden wissen, Anknüpfungs- und Identifikationsmöglichkeiten dafür bieten, „sich in eine Tradition zu stellen, in der sie arbeiten und lernen möchten und die sie weiterentwickeln können“ (S. 12).

Was die Herausgeber in ihrer Einleitung als eine historiographisch und wissenschaftlich legitime Darstellungsmethode und auch als eine kompensatorische Reaktion auf das Fehlen einer umfassenden „Gesellschaftsgeschichte der Volkshochschulen“ rechtfertigen, erweist sich in seinem praktisch-politischen Sinn als eine Einladung, sich in die Traditionsgeschichte der Volkshochschulen „einzuschreiben“ und sie dadurch fortzusetzen.

Ich lese daher diese vielstimmige und vielschichtige Erzählung der Geschichte der Erwachsenenbildung als implizite Aufforderung und auch als ein politisches Plädoyer, es nicht bei der Konstatierung einer paradoxen, zu ermüdender Legitimationsarbeit zwingenden aktuellen Situation zu belassen. Dafür genügt es jedoch nicht, ja man wird mit einigen Gründen schon die Möglichkeit bezweifeln dürfen, „sich in eine Tradition zu stellen“, weil dies einen kritisch-reflektierenden und einen wert- und sinnkonstitutiven hermeneutischen Aneignungsprozess voraussetzt, der eine begründete Stellungnahme, ein moralisches „Sich-verhalten-müssen“ zu der erzählten Geschichte impliziert.

5 Skizze zur Idee einer historisch-normativen Geschichtsschreibung

Ich möchte daher eine weiterführende Interpretationsperspektive vorschlagen, indem ich die Idee einer historisch-normativen Geschichtsschreibung – also eine Erinnerungsarbeit – der Erwachsenenbildung zu skizzieren versuche. Ihr liegt die Intuition und Überzeugung zugrunde, die sich jedoch erst durch die konkrete Rekonstruktionsarbeit als theoretische Voraussetzung begründen lässt, dass sich in den Institutionen und in der Praxis des „Volksbildungswesens“, also der Erwachsenenbildung (die schon allein aus historiographischer Sicht nicht mit „Weiterbildung“ und „Lebenslangem Lernen“ zu identifizieren ist) ein normativer Gehalt verkörpert findet.Footnote 3 Für diese Rekonstruktionsarbeit ist eine Erweiterung der historischen Interpretationsperspektive notwendig, die die Geschichte der Volkshochschulen in einem Spannungsverhältnis von Institution, Werten und Praktiken interpretiert (Joas 2011) und die historische Realität politischer Kämpfe berücksichtigt.

Wenn man davon ausgeht, so ist zunächst zu betonen, dass die dem Jahr 1919 vorausgehende Entwicklungsgeschichte der Volkshochschulen in die Betrachtung einbezogen und entsprechend gewürdigt wird. Denn erst aus dieser Vorgeschichte erwächst – als normatives Resultat einer gesellschaftspolitischen Revolution – die für das säkulare Bewusstsein höchste Form der Anerkennung, nämlich die Anerkennung als verfassungsmäßiges Grundrecht. Damit erfährt die Realgeschichte der „Volksbildung“, als deren Ausgangspunkt üblicherweise die Epoche der Aufklärung und in Deutschland die idealistische Philosophie firmiert, zugleich eine normativ-systematische Bedeutung, wenn und soweit sie als eine politische Artikulations- und Emanzipationspraxis des liberalen Bürgertums und der Arbeiterbewegung verstanden wird. Dieser historisch situierte Interpretationshorizont eines geschichtlichen politischen und kulturellen Kampfes um Anerkennung könnte die 100-jährige Kontinuitätsgeschichte der Volkhochschulen um eine geschichtliche Erfahrungsdimension erweitern, die sie in eine fortschrittsoptimistische und zugleich herrschaftssensible Bildungsgeschichte einbezieht.Footnote 4

Eine solche historisch reflektierte Bildungstheorie stünde auch nicht im Widerspruch zu einer geschichtstheoretisch fundierten Erzählmethode; sie würde aber im Bewusstsein, dass „Bildungsfragen Machtfragen“ sind (Heinz-Joachim Heydorn) der verfassungsrechtlichen Anerkennung des „Volksbildungswesens einschließlich der Volkshochschulen“ den Charakter und die Funktion eines „Geschichtszeichens“ (Kant 1964, S. 357)Footnote 5 zuschreiben können.

Die Idee des „Geschichtszeichens“ hat Immanuel Kant im Zusammenhang mit der Frage eingeführt, inwiefern mit guten Gründen von einem „Fortschreiten der Menschheit zum Besseren“ gesprochen und damit die Idee des Fortschritts als eine historisch erfahrbare Realität aufgewiesen werden könnte. Als ein solches Geschichtszeichen hat Kant „die Revolution eines geistreichen Volks, die wir in unseren Tagen haben vor sich gehen sehen“ (Kant 1964, S. 358) interpretiert und als eine „Begebenheit“ bestimmt, die „auf eine Beschaffenheit und ein Vermögen [des Menschengeschlechts, A. S.] hinweist, Ursache von dem Fortrücken desselben zum Besseren, und (da dieses die Tat eines mit Freiheit begabten Wesens sein soll) Urheber desselben zu sein“ (ebd., S. 356). Und an anderer Stelle weiter: „[E]in solches Phänomen in der Menschheitsgeschichte vergißt sich nicht mehr, weil es eine Anlage und ein Vermögen in der menschlichen Natur zum Besseren aufgedeckt hat, dergleichen kein Politiker aus dem bisherigen Verlauf der Dinge herausgeklügelt hätte“ (ebd., S. 362).

6 Revolutionierung des Bildungssystems – historische Kontextualisierung der verfassungsrechtlichen Verankerung der Erwachsenenbildung

Die hier angedeutete historische und theoretische Perspektiverweiterung hat zur Konsequenz, dass die verfassungsrechtliche Anerkennung des „Volksbildungswesens einschließlich der Volkshochschulen“ im Kontext der Verfassungsverhandlungen als eine Revolutionierung des ganzen Bildungssystems begriffen werden muss. Diese Revolutionierung war in einem unmittelbaren Sinne der Umsturz eines Herrschaftssystems, das ein klassenbewusstes, standesrechtlich gegliedertes Bildungssystem zur Voraussetzung hatte. Bis zum Ende des Ersten Weltkrieges war es die fraglos und weithin unangefochtene Reproduktionsbasis eines monarchisch-militärischen Herrschaftssystems, das sich, bis weit in die Arbeiterschaft hinein, aufgrund der ökonomisch-imperialistischen Interessen des Bürgertums auch dessen ideologischer Unterstützung sicher sein konnte. Das Ende des Ersten Weltkrieges war „der Anfang vom Ende des bürgerlichen Zeitalters“ (Mommsen 2004).Footnote 6 In bildungsgeschichtlicher Hinsicht war die Niederlage im Ersten Weltkrieg das Ende eines Bildungssystems, das von den bürgerlich-adeligen Eliten des Wilhelminischen Reiches im Glorienschein des Sieges des deutsch-französischen Krieges von 1970/71 und der dadurch hergestellten nationalen Einheit als unmittelbares und unabdingbares Herrschaftsinstrument eines imperialistischen Expansionsstrebens entwickelt und verstanden wurde. Aus der Perspektive der herrschenden Eliten, die sich im Bewusstsein, der Geschichte und des Aufstiegs zur Weltgeltung sicher zu sein, noch selbstbewusst als „herrschende Klasse“ bezeichneten (Heydorn 2004, S. 207), bestand „Bildung“ zwar nur in der sich ausdifferenzierenden „gymnasialen Bildung“. Aber gleichzeitig wurde das Schulsystem durch den Ausbau der Mittelschulen und durch die Modernisierung des Gymnasiums auf die Bedürfnisse hin entwickelt, die zu befriedigen notwendig seien, „wenn wir unsere Weltstellung erhalten wollen“ (ebd., S. 207). Dient das Gymnasium der Selbstvergewisserung der herrschenden Klasse, so dient die intendierte Verbesserung der Mittelschulen zugleich dem Zweck, die großen Mittelschichten durch die eröffnete Möglichkeit des Bildungsaufstiegs zu integrieren, um „dadurch der von unten herandrängenden Wucht der bildungslosen Menge begegnen zu können“ (ebd., S. 215).

Gemessen an diesen Bildungsdiskursen der traditionellen Eliten des Wilhelminischen Reiches (Wolfgang J. Mommsen) erhält die Einbeziehung des „Volksbildungswesens einschließlich der Volkshochschulen“ in das demokratisch-republikanische Verfassungssystem ihren herrschaftskritischen Sinn.Footnote 7 Ebenso zeigte der sogenannte „Weimarer Schulkompromiss“, dass sich die liberalen bürgerlichen Parteien (Deutsche Demokratische Partei, Zentrumspartei) und die Mehrheitssozialdemokratische Partei in der Absicht der Revolutionierung der „Basisinstitution“ des gestürzten monarchisch-militärischen Herrschaftssystems grundsätzlich einig waren. Der zwischen ihnen ausgehandelte „Weimarer Schulkompromiss“ begründete die Einführung einer einheitlichen Grundschule für alle und implizierte die Aufhebung des Privilegs, in privaten „Vorschulen“ oder auch durch familieninterne Vorbildung den Übergang ins Gymnasium vorzubereiten. Davon unberührt blieb die Kontinuität der „höheren (gymnasialen) Bildung“, ganz zu schweigen von den Universitäten, die in ihrer konservativen, demokratiefeindlichen Ideologie unverändert fortbestehen konnten. Letztere bildeten so auch weiterhin das Reproduktionsreservoir für die künftigen Eliten der zukünftigen faschistischen Herrschaft.Footnote 8

7 Geschichtsschreibung der Erwachsenenbildung im Zeichen des innerinstitutionellen Fortschritts und mit einem politisch-moralischen Bewusstsein

Im Horizont einer hier nur skizzierten bildungshistorisch-politischen Rekonstruktionsperspektive erhielte die Konzeption einer narrativen, auch an sozialgeschichtlichen und politischen Kontexten orientierten Geschichtsschreibung, die ihren Ausgangspunkt bei dem zumindest aus heuristischen Gründen gerechtfertigten „Geschichtszeichen“ der erstmaligen grundrechtlichen Anerkennung der Erwachsenenbildung – „einschließlich der Volkshochschulen“ – nimmt, eine paradigmatische Funktion. Dadurch käme ihr auch über das rituelle Erinnerungsdatum hinaus eine aus der historischen Selbstreflexion der Erwachsenenbildung gewonnene theoretische Begründungsfunktion für den normativ-politischen Anspruch einer freien und auf freiwilliger Teilnahme beruhenden Erwachsenenbildung zu. Sie könnte sich in einem normativen Sinn als ein Freiraum sozialen Lernens und als kulturelles Übungs- und Erprobungsreservoir demokratischer Teilhaberechte verstehen und gleichzeitig als eine Bildungsinstitution, in der nach Bedarf die Fähigkeiten erworben und gestärkt werden können, die für eine selbstbestimmte Lebensführung im Sinne der Idee eines „guten Lebens“ jenseits beruflicher Selbstbehauptungszwänge nötig und wünschenswert sind.

Dafür müsste im Kontext der Erinnerung an die bleibenden Erfolge der Verfassungs- und Bildungsrevolution von 1919, die ja auch die Durchsetzung des in der Arbeiterbewegung lange geforderten Rechts auf den Acht-Stunden-Tag beinhaltete, als sozialpolitische Ermöglichungsbedingung für Erwachsenenbildung eine Politik der konsequenten Reduktion gesellschaftlicher Arbeitszeit entwickelt werden. Aus dem Prinzip einer institutionellen Selbstverantwortung der Erwachsenenbildung und ihrer Trägerinstitutionen und Organisationsformen ließen sich exemplarisch zwei Aufgaben für eine überinstitutionelle und überverbandliche Geschichtsschreibung zur Erwachsenen- und Weiterbildung und speziell zur Geschichte der Volkshochschulen in Deutschland formulieren.

Erstens: Im Sinne eines geschichtspolitischen Perspektivwechsels sollte das historische Faktum der grundrechtlichen Verankerung der Erwachsenenbildung trotz des durchaus kontingenten Charakters seiner Genese als eine historisch situierte Wertentscheidung mit einem bleibend-fordernden normativen Anspruch interpretiert werden.

Zweitens: Die in den 100 Geschichten enthaltenen Momente einer Fortschrittgeschichte sollten in einer innerinstitutionellen Entwicklung der Erwachsenenbildung bewusst gemacht und systematisch weiterentwickelt werden. Die Erarbeitung dieses Jubiläumsbandes ist ein ebenso überzeugendes wie inspirierendes Zeugnis für das Gelingen einer kollektiven wissenschaftlichen Pionierarbeit. Es könnte und sollte darüber hinaus aber auch der Auftakt für ein Forschungsprojekt zur Geschichtsschreibung der Erwachsenenbildung sein, in dem dieses Geschichtswerk selbst (ergänzt um einen separaten Anhang zu den Quellen und der Bezugsliteratur, auf die in dem Jubiläumsband verzichtet wurde) zum Gegenstand einer forschungsmethodologischen Reflexion gemacht wird. Im Zusammenhang mit den zahlreichen lokalen Forschungsarbeiten zur Geschichte der Volkshochschulen, die im Zeichen des rituellen Erinnerungsdatums entstanden sind, könnte dieser Jubiläumsband nicht nur als ein erfolgreiches wissenschaftsinnovatives Projekt, sondern zum Impuls für ein geschichtswissenschaftliches Forschungsprojekt werden, das dem Praxisfeld und den Akteurinnen und Akteuren der Erwachsenenbildung zu einem historisch reflektierten Selbstverständnis und der akademischen Disziplin Erwachsenenbildungswissenschaft im Kontext ihrer wissenschaftspolitischen Einbindung in die Erziehungswissenschaften zu einem fundierten historisch-politischen Selbstbewusstsein verhelfen könnte.

Auch wenn sich manche Themen, Probleme und Herausforderungen im Laufe der letzten hundert Jahre scheinbar unverändert wiederholt haben, gibt es auch innerinstitutionelle Fortschritte, die trotz, oder gerade wegen der angesprochenen Dauerlegitimationskrise hervorgehoben und bewusst gemacht werden können. Dafür möchte ich abschließend auf zwei Geschichten zurückgreifen.

Als Basis für eine innerinstitutionelle Fortschrittsgeschichte kann exemplarisch auf die Ergebnisse einer inzwischen breiten Programmforschung zurückgegriffen und die Fähigkeit der Volkshochschulen (und anderer Einrichtungen der Erwachsenenbildung) zu einer „geistesgegenwärtigen“ Programmentwicklung als eine ihrer Kernkompetenzen vorausgesetzt werden. Als besonders wichtiges Modell dieser Fähigkeit, ein sich mit den gesellschaftlichen Bedarfen änderndes und sich erweiterndes Programmprofil als innerinstitutionelle Praxis verankert zu haben, wäre beispielhaft auf die Angebote zur sprachlich-kulturellen Integration zu verweisen. Sie haben nicht nur eine lange Tradition (Hartmut Boger: Deutsch für Ausländer, S. 104–105), sondern dienen auch als empirischer Beleg für die demokratiefördernde Funktion und für den Beitrag der Volkshochschulen zur Bewältigung eines gesellschaftlichen Problems. Dass ihnen dabei auch politische Fortschritte im öffentlichen Diskurs – mit Kant gesprochen: der öffentlichen „Denkungsart“ – gleichsam zu Hilfe kommen müssen, zeigt in sehr eindrücklicher Weise der Bericht der langjährigen Präsidentin des DVV, Rita Süssmuth, über den zähen Aushandlungsprozess des 2005 in Kraft getretenen Zuwanderungsgesetzes, das zumindest auf politischer Ebene die jahrelange Verleugnung der gesellschaftlichen Realität beendete, dass „Deutschland kein Einwanderungsland“ sei und damit „den Beginn eines längst überfälligen Paradigmenwechsels in der Migrationspolitik (markiert)“ (S. 212).

Ein anderes Beispiel für Fortschritte in der institutionellen Entwicklung der Volkshochschulen bietet der Bericht von Mitarbeiterinnen der Volkshochschule Berlin, die nach einem jahrelangen politischen Kampf nicht nur eine Krankheitsausfallzahlung, sondern auch ab dem 1. August 2018 eine tarifvertraglich abgesicherte Honorarerhöhung erstritten haben, die nicht durch eine Erhöhung der Kursgebühren, sondern durch den Landeshaushalt des Berliner Senats abgesichert wird (Beate Strenge: Nur nicht aufgeben, S. 238–239). Der Fortschritt im Blick auf eine gratifizierte Anerkennung ist eine Zwischenetappe im Kampf für die Verbesserung sowohl des gesellschaftlichen Status’ als auch für eine existenzsichernde Bezahlung der pädagogischen Mitarbeitenden. In historischer Hinsicht ist der Zwischenerfolg der Berliner Mitarbeitenden aber auch ein eindrucksvoller empirischen Beleg für die Kontinuität des Themas Finanzierung und die anhaltend notwendige Legitimationsarbeit. Ebenso wie das Thema Programmatik wird das der Finanzierung viermal verhandelt (1929, 1949, 1971 und 2018).

Das selbstermutigende Motto der Berliner Kolleginnen: „Nur nicht aufgeben“ könnte zum Impuls für eine weiterentwickelte historisch-normative Forschung zur Geschichte der Erwachsenenbildung, „einschließlich der Volkshochschulen“, werden, die „mit dem praktisch-moralischen Interesse“ durchgeführt wird, „uns heute Lebende zur Fortsetzung eines zum Stillstand gekommenen Prozesses des geschichtlichen Fortschritts zu motivieren.“ (Honneth 2018, S. 326).