1 Einleitung

Deutschland richtet seine Alphabetisierungs- und Grundbildungsstrategie gegenwärtig auf arbeitsorientierte Grundbildung. Dabei wird öffentlich finanzierte Grundbildung auch durch ökonomische Verwertbarkeit legitimiert und das Scheitern oder die Nicht-Teilnahme am Grundbildungsangebot kann gar als Verschulden der Betroffenen interpretiert werden. Demgegenüber wird versucht,Footnote 1 die Relevanz politischer Grundbildung zur Diskussion zu stellen.Footnote 2 Hier wird Grundbildung ein Eigenwert mit emanzipatorischem Potenzial zugesprochen (vgl. Ribolits 2009).

Da bisher keine Daten zum Verhältnis von LiteraritätFootnote 3 und politischer Teilhabe vorlagen, wird hier hilfsweise das Konstrukt der politischen Wirksamkeitserwartungen Footnote 4 aus dem Datensatz der seit 2013 verfügbaren PIAAC-Studie (vgl. Rammstedt 2013) herangezogen. Mithilfe dieser Daten lässt sich die Subpopulation der gering literalisierten Erwachsenen beschreiben; das ist hinsichtlich ihrer Teilhabe am Arbeitsmarkt und an Weiterbildung jüngst auch geschehen (vgl. Grotlüschen et al. 2016). Hier geht es nun um Fragen der politischen Teilhabe(-erwartungen). Parallel kann argumentiert werden, dass politische Extreme besonders dort gewählt werden, wo der Glaube an die politische Wirksamkeit, an eine solidarische Gemeinschaft und an gerechte Verteilung nachlässt (s. unten). Damit rücken drei Länder besonders in den Blick: Polen mit seiner neu gewählten nationalistischen Regierung, Frankreich mit dem knapp an den Regionalmehrheiten gescheiterten Front National und Deutschland mit Umfragewerten von über zehn Prozent für die Alternative für Deutschland (AfD) im Jahr 2015.Footnote 5

2 Arbeitsorientierte und politische Grundbildung: Problemaufriss

Seit 2011 die LEO-Studie 14,5 % der Deutschen bescheinigte, von funktionalem Analphabetismus betroffen zu sein (Grotlüschen und Riekmann 2012), wurde mit Bundes- und EU-Programmen vorrangig arbeitsorientierte Grundbildung gefördert. Die Bundesländer hingegen könnten auf Basis der Weiterbildungsgesetze durchaus auch kulturelle und politische Grundbildung in den Vordergrund stellen (einige tun das auch).

Die 2013 publizierte internationale Vergleichsstudie PIAAC bestätigte die Ergebnisse, indem sie auf der Lesekompetenzstufe 1 und darunter 17,5 % der Deutschen verortet, die Werte sind überdurchschnittlich in Bezug auf den OECD-Durchschnitt von 15,5 % (vgl. OECD 2013; Rammstedt 2013). Dem folgt der Versuch, diese Teilbevölkerung mit Leseförderung, beruflicher Grundbildung oder Bewerbungstrainings zu adressieren. Doch das Versprechen, durch Weiterbildung höhere und sicherere Arbeitseinkommen zu generieren, bleibt inhaltsleer, wenn sich alle Schichten weiterbilden und die Zahl der Arbeitsplätze unverändert bleibt. Dann entsteht lediglich ein Fahrstuhleffekt. Die Klientel glaubt dem Nutzenversprechen letztendlich auch nicht (vgl. Schiersmann 2006; Grotlüschen und Brauchle 2004). Erwachsene zu Weiterbildung einzuladen, kann folglich nicht allein durch bessere Berufs- und Einkommensaussichten legitimiert werden. Glücklicherweise hat Bildung jedoch auch einen Eigenwert, kann Emanzipation befördern und Teilhabe weit über die berufliche Teilhabe hinaus begünstigen. Das ist durch die politischen Rahmungen auch durchaus abgedeckt: Die 2012 unterzeichnete Nationale Strategie für Alphabetisierung und Grundbildung enthält ein relativ breites Verständnis von Grundbildung. Hier geht es keineswegs nur um den Arbeitsbezug:

Der Begriff der Grundbildung bezeichnet hier Kompetenzen in den Grunddimensionen kultureller und gesellschaftlicher Teilhabe, wie: Rechenfähigkeit (Numeracy), Grundfähigkeiten im IT-Bereich (Computer Literacy), Gesundheitsbildung (Health Literacy), Finanzielle Grundbildung (Financial Literacy), Soziale Grundkompetenzen (Social Literacy) (Partner der Nationalen Strategie, 2012).

Die Projekte der jüngeren Generation nehmen demzufolge auch Finanzielle Grundbildung (Mania und Tröster 2015) und Gesundheitsgrundbildung in den Blick und arbeiten mit Schuldnerberatungen und Pflegeeinrichtungen zusammen. Ansätze zur Computer Literacy und Social Literacy finden sich weniger. Eine Initiative, politische Grundbildung in das Zentrum zu rücken, wird auf Bundesebene derzeit nicht vorangetrieben, kann aber durch die Länder und einschlägige Verbände, z. B. Gewerkschaften und ihre Bildungsanbieter, durchaus priorisiert werden.

In der vorliegenden Analyse wird nunmehr gefragt, wie relevant politische Grundbildung für gering literalisierte Erwachsene ist, ob sie besonders von gesellschaftspolitischer Teilhabe abgekoppelt erscheinen, auf welche Weise die theoretische Begriffsentwicklung voranschreitet und welche empirischen Indikatoren vorliegen. Die Frage wird entlang jüngerer Theorien argumentativ entfaltet und zu Hypothesen verdichtet, die an die PIAAC-Daten gerichtet werden.

Die Herleitung folgt analog zum Muster der Weiterbildungsbeteiligung. Die dortige zentrale Argumentationsfigur lautet: Welche gesellschaftlichen Gruppen haben unterproportional an Weiterbildung teil? Ist eine höhere Weiterbildungsquote wünschenswert? Wie muss sie angelegt sein? Daraus resultiert für gering literalisierte Erwachsene gegenwärtig eine Fokussierung auf eine höhere Weiterbildungsbeteiligung, speziell an Alphabetisierungskursen.

Für die hier vorgelegte Analyse lautet die Frage demzufolge: Finden sich bei gering literalisierten Erwachsenen auch geringer ausgeprägte politische Wirksamkeitserwartungen und geringeres soziales Vertrauen als bei hoch literalisierten Gruppen und haben gering literalisierte Erwachsene weniger am freiwilligen Engagement teil? Wenn ja, sind höher ausgeprägte Werte in diesen Bereichen überhaupt wünschenswert? Sollten demzufolge nationale Literalitätsstrategien auch auf die begriffliche und praktische Weiterentwicklung politischer Grundbildung zielen?Footnote 6

Zur Beantwortung dieser Fragen wird nunmehr eine Analyse theoretischer Argumente vorgelegt, die die Bedeutung der o. g. Variablen in größeren Zusammenhang stellen und dabei auch deutlich über das der PIAAC-Studie latent zugrunde liegende Rational-Choice-Modell eines homo oeconomicus hinausgehen.

3 Verteilungsungleichheit und ihre Legitimation durch das Narrativ der Chancengleichheit

Die Annahmen über die wirtschaftliche und gesellschaftspolitische Lage in den USA und in Frankreich werden seit einigen Jahren durch jüngere Veröffentlichungen der politischen Wissenschaft und Ökonomie geradezu erschüttert. Höchsten Anteil an der Diskussion hat vermutlich der französische Ökonom Thomas Piketty (vgl. Kaufmann und Stützle 2015; Piketty 2014), der Steuerdaten der vergangenen Jahrhunderte analysierte und zu zwei folgenreichen Schlüssen kommt: Erstens steigen Kapitalzugewinne schneller als die Gewinne aus Arbeit; diese Schlussfolgerung gilt allerdings aufgrund von Pikettys Datenbasis als umstritten. Zweitens geht die ökonomische Verteilung in Frankreich und den USA seit etwa den 1980er Jahren wieder massiv auseinander, nachdem die Verhältnisse (vereinfacht gesagt) eigentlich seit den Revolutionen, Demokratien, Kriegen und sozialpolitischen Umwälzungen über gut 200 Jahre eher egalitärer geworden waren. Diese zweite Argumentationslinie wird durch die seit 2001 regelmäßig für Deutschland vorgelegten Armuts- und Reichtumsberichte Footnote 7 gestützt. Als Antwort schlägt Piketty eine global abgestimmte Steuerpolitik und eine höhere Besteuerung der reichsten Bevölkerungsteile vor (vgl. Kaufmann und Stützle 2015).

Auch wenn Piketty in den USA erst vor einem Jahr breit diskutiert wurde, ist er in Frankreich seit Langem für seine Analysen bekannt. Der gewerkschaftserfahrene Politikwissenschaftler und Demokratietheoretiker Pierre RosanvallonFootnote 8 nimmt denn Pikettys Analysen auch als Ausgangspunkt für seinen Theorieentwurf der „Gesellschaft der Gleichen“ (Rosanvallon 2013).

Rosanvallon nimmt die unerfüllte Verteilungsgleichheit als Ausgangspunkt und stellt ihr die Frage des Gemeinwesens zur Seite. Er fragt danach, welche Vorstellungen von Gemeinschaft herrschen und wie sich daraus die Verteilungsungleichheit legitimiert. Ein zentraler Aspekt ist in der gegenwärtigen Welt (da ist Deutschland mit den analysierten Ländern Frankreich und USA durchaus vergleichbar) die sogenannte Chancengleichheit. Sie enthält die Annahme, dass die Verteilung dann gerecht werde, wenn alle dieselben Chancen haben, sich durch Leistung für das jeweilige Einkommen zu qualifizieren.

Das Modell hat laut Rosanvallon drei Konsequenzen (2013, S. 303 f.). Erstens führt die Idee der Chancengleichheit zur Delegitimierung von Umverteilungsinstrumenten, wie Steuern, Sozialversicherungen und daraus finanzierten Transferleistungen (ebd.). Dadurch wird m. E. Versagen trotz angeblicher Chancengleichheit unmittelbar als individuelles Verschulden gedeutet („blaming the victim“). Die weiterhin wirksamen strukturellen Ausschlussfaktoren – die von Habitus bis Korruption reichen – werden dabei ausgeblendet und die Betroffenen werden für ihr Scheitern verantwortlich gemacht.

Zweitens hat die Idee der Chancengleichheit für die Obergrenze des kraft Leistung erreichten Einkommens keinen Begriff. „Das kann so weit gehen, dass sie die spektakulärsten Formen persönlicher Bereicherung billigt, wenn als ausgemacht gilt, dass sie sich individueller Leistung verdanken“ (ebd., S. 304). Selbst Einkommen von Geschäftsführungen, die mittlerweile das Zweihundertfache des/der Durchschnittsangestellten erreichen, sind durch dieses Motiv immer noch legitimiert.

Drittens ist auch die Untergrenze nicht zu benennen – es obliegt der Barmherzigkeit oder Humanität, den Mindestanteil für den Lebensunterhalt festzulegen, nicht aber staatsbürgerlicher Solidarität (ebd., S. 304). Damit geht auch einher, dass der Bezug dieser wohltätigen Leistung immer auch entzogen werden kann, dass Transferleistungen abgesenkt werden können und dass Bezieher/innen dieser Leistungen sich für ihren Status schämen.

Aus bildungswissenschaftlicher Perspektive formuliert Andrea Liesner: „In Deutschland entzündet sich die öffentliche Empörung (…) nicht am Abbau wohlfahrtsstaatlicher Sicherungen, sondern im Gegenteil am politischen Erhalt ihrer Reste“ (Liesner 2012, S. 59), nämlich der staatlichen Grundsicherung, die vermeintlich zu Passivität und Undiszipliniertheit der Bedürftigen führe.

Die Folgen der Chancengleichheitsidee, die als Narrativ existiert, aber in den realen Verteilungsstrukturen nicht das zentrale Prinzip darstellt,Footnote 9 zeigen sich laut Rosanvallon in „aufgekündigter Reziprozität“ (2013, S. 325), hier gedeutet als aufgekündigte Solidargemeinschaft.Footnote 10 Das begründet sich aus der laut Rosanvallon problematischen Annahme, dass die wechselseitige, ausgewogene Beteiligung einerseits und die Ablehnung des Trittbrettfahrens andererseits nicht mehr von der Mehrheit der Bevölkerung geteilt werden. Überspitzt formuliert haben die Oberschicht, die Mittelschicht und die Unterschicht je eigene Motive, unter Annahme der Entsolidarisierung der jeweils anderen nun selbst auch nichts mehr zur Gemeinschaft beizutragen:

  • Prominente, Wohlhabende und Superreiche stehen vor der Verlockung, in ihrem Land keine Steuern mehr zu zahlen, wenn sie sich dieser Gemeinschaft nicht mehr zugehörig oder verpflichtet fühlen.

  • Leistungsbeziehende spüren die Verachtung und Verhöhnung (Butterwegge 2015) ihres Status anstelle solidarischer Äußerungen gegenüber ihrer Gruppe und stehen vor der Frage, ihrerseits ihre Handlungsweisen daran anzupassen, indem sie sich Kontrollen entziehen und aus Normalitätserwartungen ausscheren.

  • Wenn Mittelschichtmitglieder sich sodann fragen, ob sie die Einzigen sind, die sich zwischen vermeintlichen Steuerflüchtlingen und vermeintlichen Sozialschmarotzer/inne/n noch an die Regeln der Reziproziät halten, liegt es nahe, sich entsolidarisiert zu verhalten. Dann setzen sie sich zur Wehr, und zwar sowohl gegenüber vermeintlichen Eliten als auch gegenüber Schwächeren, gegenwärtig den Zugewanderten.Footnote 11

Den hier angedeuteten, als „alternativlos“ postulierten wirtschaftspolitischen Entscheidungen (Steuersenkungen, Austeritätspolitik, Transfersenkungen) setzt nicht zuletzt Elinor Ostrom (2011), Wirtschaftsnobelpreisträgerin 2009, die Idee der „Commons“ bzw. „Allmende“, also der Gemeinschaftsnutzung von Ressourcen entgegen. Sie steht damit in einer Strömung der Postwachstumstheorie, die andere Formen des Wirtschaftens prüft. Ostrom kann empirisch und theoretisch nachweisen, unter welchen Bedingungen es bei Gemeinschaftsnutzung nicht zu Übernutzung kommt und wie ein flexibles Regelmodell den Eigennutz Einzelner einfangen kann. Ressourcen, wie Wasser, Land, Fahrzeuge, Wohnraum etc., können – so die Empirie – bei nachhaltiger, langfristiger Nutzung tatsächlich für alle bessere Erträge abwerfen als bei kurzfristiger Intensivnutzung. Allerdings bedarf auch das eines solidarischen Sinns für Gemeinschaft, der die Prinzipien der wirtschaftlichen Verteilung legitimiert.

Dieser Kreis von miteinander um Gemeinschaft und Verteilung ringenden gesellschaftlichen Schichten und Gruppen wird zudem erweitert, wenn man Jacques Rancières „Unvernehmen“ (Rancière 2002) ernst nimmt. Gegenüber den legitim am Tisch sitzenden und um Ressourcen ringenden Gruppen konstatiert Rancière, dass sogenannte Politik überhaupt erst entstünde, wenn die von ihm so bezeichneten Armen (2002, S. 26) sich zu Wort melden. So sind nämlich zunächst diese Armen – ob sie prekär arbeiten, Transferleistungen beziehen, jugendliche Eltern geworden sind, in Industrieanlagen monotoner und unterbezahlter Schichtarbeit nachgehen oder von ihrer Rente nicht leben können – diejenigen, die von Politik profitieren. Daher, so seine These, werde Armut von den jeweils herrschenden Gruppen auch seit Jahrtausenden verleugnet (2002, S. 27). Politik entsteht nunmehr, wenn der Anteil der Anteillosen sich äußert, zu Namen und Sprache findet, seinen Teil fordertFootnote 12 und insofern als Teil der Solidargemeinschaft anerkannt wird. Der Ansatz Rancières wurde 2009 durch Silke Schreiber-Barsch auf die Frage von der Teilhabe an Erwachsenenbildung bezogen (Schreiber-Barsch 2009), während Nora Sternfeld ihn für Bildungsprozesse insgesamt ausdeutet (Sternfeld 2009). Ein in jüngerer Zeit stark beachteter Anteil, der aus der Unsichtbarkeit herausgetreten ist, kann in den sogenannten funktionalen Analphabet/inn/enFootnote 13 bzw. gering literalisierten Erwachsenen gesehen werden.

4 Operationalisierung politischer Einflussnahme in PIAAC-Variablen

Diese gesellschaftliche Gruppe der Erwachsenen auf PIAAC-Lesekompetenzstufe 1 und darunter – weiterhin als gering literalisierte Erwachsene bezeichnet –, wäre mit Formalbildung oder Schichtzugehörigkeit nur unscharf beschrieben, denn Schicht oder formale Bildungstitel stellen nicht notwendigerweise die Kompetenz, z. B. Lesekompetenz, über die Lebensspanne sicherFootnote 14 und umgekehrt können Erwachsene unterer sozialer Lagen ohne Formalbildung durchaus kompetent, z. B. literalisiert sein. Daher wird hier die Lesekompetenz – in ihrer eingeschränkten Fassung international vergleichender Studien – herangezogen. Analog zu den referierten, auf Gesellschaftsschichten bezogenen Theorien ist insofern konkret hinsichtlich der Lesekompetenz anzunehmen, dass Entsolidarisierungstendenzen bei gering literalisierten Subpopulationen stärker ausgeprägt sind als bei höher literalisierten Erwachsenen.

Weiterhin ist anzunehmen, dass Entsolidarisierungstendenzen durch (1) geringes Vertrauen in die eigene Wirksamkeit hinsichtlich des Regierungshandelns, durch (2) begrenztes soziales Vertrauen und durch (3) wenig freiwilliges Engagement zum Ausdruck kommen.

Diese drei Aspekte, nämlich der politische und soziale Verbindlichkeits- und Verpflichtungsgrad und das entsprechend engagierte Handeln, sind konsistent aufeinander zu beziehen und sie liegen als international vergleichbar operationalisierte Fragestellungen seit der PIAAC-Erhebung vor.

Insofern konzentriert sich die empirische Analyse auf die nachfolgenden Annahmen:

  • Hypothese: Erwachsene auf und unter Kompetenzstufe 1 nehmen an, auf Regierungshandeln keinen Einfluss zu haben (Political Efficacy).

  • Hypothese: Erwachsene auf und unter Kompetenzstufe 1 vertrauen nur wenigen Menschen (Social Trust).

  • Hypothese: Erwachsene auf und unter Kompetenzstufe 1 beteiligen sich wenig am freiwilligen Engagement (Volunteering).

Die in der PIAAC-Studie verwendeten Begriffe, die in Klammern hinter den deutschen Begriffen stehen, bedürfen einer näheren Beleuchtung. PIAAC ist eine volkswirtschaftlich angelegte Studie mit latenter Dominanz von Rational-Choice-Annahmen. Diese finden sich durchaus auch, wenn man die politik- sozial- und wirtschaftswissenschaftliche Rückbindung der Konzepte „Political Efficacy“ und „Social Trust“ genauer untersucht. In abgemilderter Form ist im konzeptionellen Framework der PIAAC-StudieFootnote 15 auch von Outcomes die Rede, die jedoch nicht allein ökonomische Outcomes darstellen, sondern auch andere Lebensbereiche betreffen:

There is good empirical evidence that education not only affects labour market outcomes but is also a strong predictor of outcomes in other life domains. The [background questionnaire, AG] includes indicators of family formation (…), health (…), voluntary work (…), political efficacy (…) and social trust (OECD 2011, S. 46).

Im PIAAC-Theoriekonzept werden sodann die einzelnen Fragen definiert und begründet, wie aus der Tab. 1 hervorgeht.

Tab. 1 Definitionen und theoretische Rückbindung der verwendeten Variablen laut Conceptual Framework (OECD 2011, S. 46)

Political Efficacy“ basiert dabei auf der – wiederum aus der Theorieströmung rationaler Entscheidungen entstandenen – Unterteilung in interne und externe politische Wirksamkeitsüberzeugungen (vgl. Beierlein et al. 2014). Erstere bezeichnen die selbstzugeschriebenen Fähigkeiten, am politischen Geschehen teilnehmen zu können (z. B. einen Sachverhalt verstehen, an einem Protest teilnehmen oder wählen gehen), während Letztere die Überzeugungen zur Responsivität politischer Institutionen (z. B. Regierungen) betreffen. In PIAAC wird zwar nach dem wahrgenommenen Einfluss auf Regierungen gefragt, im Theoriekonzept wird damit aber auf die internale Political Efficacy abgestellt (s. oben). Damit ist nicht nur ein enger Politikbegriff vorausgesetzt, sondern auch eine Zuspitzung auf die individuelle Seite der Angelegenheit, während die strukturelle Frage der Responsivität von Politik unberücksichtigt bleibt. Zudem ist die Annahme eines rational handelnden Menschen (etwa als homo oeconomicus) immer wieder infrage gestellt worden, nicht zuletzt durch Pierre Rosanvallon, der dem den auf Reziprozität verwiesenen homo reciprocans entgegensetzt (2013, S. 319–320).

Das Konzept sozialen Vertrauens wiederum gilt als relevant für die Überlebensfähigkeit von Demokratien und konnte durch die Arbeiten von Coleman zu größerer Bekanntheit gelangen (Frings 2010).Footnote 16 Auch hier wird konzeptionell von rationalen Nutzenentscheidungen ausgegangen, wenngleich die jüngere Rezeption auf die Grenzen dieses Kausalmodells verweist.

Anders ist die Lage bei Voluntary Work oder Volunteering. Hier ist kein vergleichbar eindeutiges Konzept zu finden, vielmehr unterscheiden sich die Ansätze erheblich (v. a. zwischen Freiwilligenarbeit, Ehrenamt, bürgerschaftlichem oder freiwilligem Engagement). Zentrale Fragen sind dabei, inwiefern eine Organisationszugehörigkeit notwendige Voraussetzung für Engagement ist, oder ob erst die Übernahme eines Amtes (ehrenhalber) als ehrenamtliches Engagement gelten darf (vgl. Riekmann 2010). Hier kann nur das Theoriekonzept der PIAAC-Studie Auskunft geben, und das versteht Voluntary Work als Arbeit in Organisationen – mit und ohne (Wahl-)Amt. Engagement in Nachbarschaft und Familie kommt damit nicht zur Sprache.

Insgesamt scheint aber Konsens darüber zu herrschen, dass trotz eingeschränkter theoretischer Konstrukte eine kausale Beziehung zwischen Political Efficacy und Social Trust einerseits und einer stabilen Demokratie andererseits anzunehmen ist.Footnote 17 Auch werden durchaus unterschiedliche Formen politischer Partizipation durchweg als statistisch abhängig von politischen Wirksamkeitsgefühlen ausgewiesen (vgl. Vetter 1997, S. 36).

Weiterhin wird zumindest von Rosanvallon argumentativ entfaltet, in welcher Weise fehlender gesellschaftlicher Zusammenhalt einer Neuen Rechten Vorschub leistet respektive von ihr genutzt wird. Die Einzelannahmen stehen somit in einem argumentativen Gesamtzusammenhang und erlauben Hinweise auf demokratische Stabilität und die Gefahr rechtspopulistischer Ausnutzung phasenweiser Instabilität.

Die einzelnen Hypothesen werden nunmehr entlang der PIAAC-Daten geprüft und nach internationalen sowie intranationalen Unterschieden ausgewiesen. Die Berechnungen wurden im Rahmen einer Sonderanalyse im Auftrag der OECD generiert (Grotlüschen et al. 2016). Alle Berechnungen wurden von uns konzipiert und vonseiten der OECD mithilfe des PIAAC-Stata-Moduls (Repest) durchgeführt (deshalb ist der australische Datensatz in den Ergebnissen enthalten). Verwendet wurden die Fragen:

  • Engagement bzw. Volunteering: „In den letzten 12 Monaten, wie oft waren Sie – falls überhaupt – ehrenamtlich tätig, z. B. durch unbezahlte Arbeit für eine Wohltätigkeitsorganisation, eine politische Partei, eine Gewerkschaft oder eine sonstige gemeinnützige Organisation?“Footnote 18

  • Politische Wirksamkeit bzw. Political Efficacy: „Menschen wie ich haben keinerlei Einfluss darauf, was die Regierung macht.“Footnote 19

  • Soziales Vertrauen bzw. Social Trust: „Es gibt nur wenige Menschen, denen man voll vertrauen kann.“Footnote 20

Die Analyse wurde nach Ländern und Literalität durchgeführt. Die Ergebnisse der OECD-Partnerländer Zypern und Russland sind hier zwar jeweils mit in den Tabellen abgetragen, werden jedoch in die Auswertung der Daten nicht mit einbezogen.

5 Analyse und Ergebnisse der PIAAC-Daten nach Literalität und Land

Die nach der theoretischen Analyse folgende Empirie richtet sich auf die Beschreibung der gering und hoch literalisierten Subgruppen der OECD- und Partnerländer. Die vermuteten Unterschiede zeigen also die Verbreitung spezifischer Handlungen und Einstellungen in der Subgruppe auf, nicht jedoch die Begründung. Die hier gestellte Teilfrage lautet also, wie politische Wirksamkeit, soziales Vertrauen und freiwilliges Engagement zwischen und innerhalb der beteiligten Länder verteilt sind.

5.1 Ergebnisse: Erwachsene auf niedriger Kompetenzstufe nehmen an, auf Regierungshandeln keinen Einfluss zu haben

Political Efficacy ist hier zu verstehen als die eigene, subjektive wahrgenommene politische Wirksamkeit. Zur Operationalisierung wurde die Frage im PIAAC-Hintergrundfragebogen umgekehrt gestellt. Sie richtet sich auf den wahrgenommenen fehlenden Einfluss auf die Regierung. Der hier verwendete Indikator enthält die Annahme eines eng gefassten Politikbegriffs, in dem Regierungshandeln, staatliche Organe und Wahlen den politischen Raum repräsentieren. Es steht zu vermuten, dass eine Frage nach der regelmäßigen Beteiligung an Wahlen strukturell ähnlich beantwortet werden würde, weil auch Wahlen das Symbol repräsentativer Demokratie sind.

Abb. 1
figure 1

Politische Wirksamkeit (Top Two Negativantworten der Variable Political Efficacy) nach Kompetenzstufen und Land (Quelle: PIAAC-Daten, eigene Auswertung)

Knapp zwei Drittel der Deutschen (65 %) auf und unter Kompetenzstufe 1 nehmen an, auf Regierungen keinen Einfluss zu haben. Der Abstand zum Level 4 und darüber (23 %) ist mit über 40 Prozentpunkten erheblich und übertrifft die Abstände aller anderen Länder.

Während Deutschland im Erhebungsjahr 2012 zudem die breiteste Lücke zwischen hoch und gering literalisierten Erwachsenen aufweist, finden sich in Polen insgesamt etwas höhere Erwartungen politischer Wirksamkeit (Stufe 1 und darunter: 59 %; Stufe 4 und darüber: 31 %). Desolat ist hingegen die Situation in Frankreich. Resignativ äußern sich fast drei Viertel der gering literalisierten (73 %) und zudem – internationaler Höchststand – gut 56 % der höchst literalisierten Erwachsenen.

Zu betonen ist, dass diese Daten keineswegs besagen, dass die geringen politischen Wirksamkeitsgefühle gering literalisierter Erwachsener durch sie selbst verschuldet seien – vielmehr ist auf das Argument von Christoph Butterwegge zu rekurrieren, demzufolge besonders prekäre Gruppen tendenziell als Nichtwählende gelten und deshalb durch die (auf Wählerstimmen zielenden) politisch Handelnden nicht adressiert werden (Butterwegge 2015). Insofern hätten selbst die politisch aktivsten Vertreter/inn/en prekärer Gruppen mit der Aussage tatsächlich recht, dass sie – als Teil einer als „Nichtwählende“ etikettierten Gruppe – faktisch keinen Einfluss auf Regierungshandeln haben. Das bedeutet wiederum nicht, dass sie unpolitische Menschen wären: Von offenem Protest bis zum Genuss von Satiresendungen können sie unabhängig davon das gesamte Spektrum politischer Handlungen betreiben – einschließlich einer Hinwendung zu rechtspopulistischen Agitator/inn/en, die letztlich auch als politische Handlung anzuerkennen ist.

5.2 Ergebnisse: Soziales Vertrauen ist auf niedrigen Kompetenzstufen gering ausgeprägt

Das soziale Vertrauen stellt in dieser Analyse einen Indikator für das Gemeinschaftsempfinden der Bevölkerung dar, wie es von Rosanvallon angemahnt wird. Die Frage, wieweit nicht nur der Regierung, sondern den anderen Mitgliedern eines Staates vertraut wird, ist – wie oben ausgeführt – für die Legitimation von Verteilungsprozessen in Gesellschaften bedeutsam. Fürchten Mittelschichten von der Oberschicht die Steuerflucht und von der Unterschicht ungerechtfertigten Leistungsbezug, entsteht in der Mitte der Eindruck, ausgenommen zu werden. In allen drei Schichten stellen diese Wahrnehmungen und Handlungsweisen eine Bewegung zu einer entsolidarisierten Gemeinschaft dar.

Abb. 2
figure 2

Soziales Vertrauen (Top Two Negativantworten) nach Kompetenzstufen und Land (Quelle: PIAAC-Daten, eigene Auswertung)

Deutschland weist hier (gemessen am internationalen Vergleich) ein eher solides Gemeinschaftsgefühl auf, wirklich solidarisch scheinen jedoch vor allem die nordischen Länder mit den geringsten Misstrauenswerten bei beiden hier verglichenen Kompetenzstufen.

Der intranationale Vergleich zeigt in Deutschland mit 25 Punkten Abstand zwischen gering und hoch literalisierten Bevölkerungsteilen eine relativ große Lücke, jedoch – ausscherend aus der Gruppe der nordischen Länder – hat Norwegen mit 30 Punkten Abstand die international größte Spreizung zwischen den Kompetenzstufen. Könnte man sich die ungewöhnliche Position im internationalen Vergleich vielleicht noch mit Erfahrungen rechtsextremen Terrors (2011) erklären, erhellt ein solches Argument nicht unbedingt den Unterschied innerhalb der norwegischen Gesellschaft.

In Polen stimmen rund 80 % der gering literalisierten Erwachsenen der Aussage zu; damit ist das soziale Vertrauen dieser Schicht geringer als in Deutschland (76 %), jedoch höher als in Frankreich (85 %).Footnote 21 Rosanvallon, der seine Thesen aus französischen und US-amerikanischen Geschichtsbetrachtungen herleitet, konstatiert eine Entsolidarisierung Frankreichs insofern zu Recht; speziell die gering literalisierte Schicht misstraut ihren Landsleuten und scheint sich nicht mit ihnen in reziproken Beziehungen zu verstehen. Die internationalen Unterschiede sind zwar signifikant, jedoch eher gering im Vergleich zu den intra-nationalen Unterschieden.

5.3 Ergebnisse: Niedrige Kompetenzstufen gehen mit geringem freiwilligen Engagement einher

Geringes soziales und politisches Vertrauen müsste sich in einschlägigen Handlungsweisen – respektive Unterlassungen – niederschlagen. Es ist zu erwarten, dass gering literalisierte Erwachsene sich für ihre Gesellschaft im Durchschnitt seltener engagieren, weil sie weniger politische Wirksamkeit und geringeres soziales Vertrauen aufweisen. Das dürfte zu einem eher geringen Ausmaß an freiwilligem, längerfristigem Engagement bei Organisationen wie Kirchen und Gewerkschaften führen. Dabei geht es nicht zuletzt auch um Engagement für Gesellschaftsschichten, die sich in schlechterer sozialer Lage befinden als man selbst (das muss keine ökonomische Ebene haben, z. B. agieren deutschsprachige Überschuldete teilweise ehrenamtlich als Ämterlotsen für Migrant/inn/en mit geringen Deutschkenntnissen).

Hier spielen eine Reihe von In- und Exklusionstendenzen eine Rolle, etwa entlang der Differenzlinien Bildungsstand und Erstsprache, wie Befunde aus den Shell-Studien zeigen (Albert et al. 2015). Literalität ist insofern nicht unbedingt der ausschlaggebende Faktor. Ebenso wenig kann aus den Daten abgeleitet werden, dass gering literalisierte Erwachsene für ihr Fernbleiben im freiwilligen Engagement verantwortlich gemacht werden können – es ist eher zu erwarten, dass sie aus entsprechenden Organisationen schlicht abgedrängt werden.

Weiterhin ist hier das Wohlfahrtsregime relevant, denn die Frage, ob soziale Daseinsabsicherung durch freiwilliges Engagement und Spenden geschehen muss, oder ob sie durch ein umfassendes Sozialrecht gesichert erscheint, hat Einfluss auf das Empfinden einer Verpflichtung zum freiwilligen Engagement. Tatsächlich zeigt sich, dass die zwei Extreme – die traditionell eher neoliberal regierten angloamerikanischen Staaten mit ihrer Charity-Kultur ebenso wie die in sozialdemokratischer Tradition stehenden nordischen Länder mit verbrieftem Sozialrecht – sich am oberen Ende der Engagement-Skala vermischen, hier finden sich selbst unter gering Literalisierten Erwachsenen lediglich knapp zwei Drittel niemals Engagierter (Norwegen: 62 %, USA: 64 %), oder umgekehrt ein gutes Drittel Engagierter. Am anderen Ende der Skala liegen Frankreich (86 %) und Polen (87 %), hier kommen also nur noch 13 oder 14 % der gering literalisierten überhaupt mit freiwilligem Engagement in Berührung.

Abb. 3
figure 3

„Nie“ freiwillig Engagierte aus der Gruppe des Literalitätslevels „1 und darunter“ sowie „4 und darüber“ (Quelle: PIAAC-Daten, eigene Auswertung); die Unterschiede zwischen Deutschland und Polen/Frankreich sind signifikant, die Unterschiede zwischen Polen und Frankreich jedoch nicht

In Deutschland liegt der Wert der „nie“ freiwillig Engagierten auf Stufe 1 und darunter bei rund 81 %, verglichen mit den höchst literalisierten Erwachsenen, von denen 52 % angeben, sich nie zu engagieren. Die Mechanismen des Selbst- und Fremdausschlusses greifen insofern nicht nur hinsichtlich der Erwerbsbeteiligung. Sie finden sich auch im Bereich der Teilhabe und Teilnahme am lokalen und globalen Gemeinschaftsleben. Die Engagement-Anteile der Höchst-Literalisierten sind in allen Ländern höher. Die Hypothese ist insofern bestätigt, der Befund ist zudem international einheitlich.

Im Level 4 und darüber sind die Nie-Engagierten am geringsten in den Vereinigten Staaten, Norwegen, Kanada, Australien, Dänemark und Finnland. Die These, dass besonders als eher neoliberal geltende angloamerikanische Staaten ihre mangelnde soziale Absicherung dem Bereich des freiwilligen Engagements überlassen, interferiert hier also mit dem freiwilligen Engagement der als egalitär geltenden skandinavischen Staaten mit ihrer sozialdemokratischen Tradition. Der für die gering literalisierten Schichten geltende Befund ist für die höchst literalisierten insofern relativ deckungsgleich.

6 Diskussion im Verhältnis zu Freiwilligensurveys und Shell-Jugendstudien

Die Ergebnisse sind hinsichtlich der Freiwilligensurveys aus den Jahren 1999, 2004, 2009 und 2014 (Übersicht in Schmiade et al. 2014) durchaus erwartungskonform. Die Freiwilligensurveys zeigen, dass ein gutes Drittel (34–36 %) Engagierte/r in Organisationen oder Initiativen aktiv ist (vgl. Gensicke, Geiss 2010, S. 13). Als gesichert muss allerdings der Befund gelten, dass die organisatorischen Zusammenhänge des Engagements unterschiedlichen sozialen Gruppen nicht gleichermaßen zugänglich sind bzw. unterschiedlich von ihnen genutzt werden (vgl. Bremer und Kleemann-Göhring 2010). Der dort herangezogene Indikator des Bildungsstands wird durch den hier mithilfe der PIAAC-Studie verwendeten Indikator der Lesekompetenz strukturell bestätigt.

Hinsichtlich der politischen Interessen spiegelt sich der in den Shell-Jugendstudien gezeigte Befund, dass Bildungsstand und politisches Interesse korrelieren (vgl. Albert et al. 2015). Dies zeigt sich auf Basis der PIAAC-Daten entlang der Literalität und Political Efficacy entsprechend.

Die Shell-Jugendstudien zeigen zudem auch, dass das dort erhobene „politische Interesse“ nach einem Tiefstand 2002 (24 %) in den Jahren 2006 (39 %), 2010 (40 %) und 2015 (46 %) konstant zunimmt (Schneekloth 2015, S. 157). Damit ist allerdings nicht gesagt, dass sich das Interesse auf Regierungshandeln bezieht oder dass es ein demokratisches, fortschrittliches oder solidarisches Interesse sein müsse – auch ansteigendes rechtspopulistisches Interesse fällt unter diesen Indikator.

Seit 2015 wird die Frage nach der „Welt und Deutschland“ intensiver beforscht (vgl. Gensicke und Albert 2015). Jugendliche haben demnach mehr Angst vor Ausländerfeindlichkeit als vor Zuwanderung und interessieren sich stark (37 %) bis sehr stark (14 %) für das, was in der Welt vor sich geht. Die Tendenz steigt, auch die Bewertung des politischen Engagements steigt von 19 % im Jahr 2006 auf 33 % in 2015. Die weitere Analyse der Jugend in der „Welt und Deutschland“ wendet sich dem neu erstarkenden Nationalstolz zu. Die Identitäten Jugendlicher sind überwiegend auf Deutschland gerichtet, allerdings verstehen sich gleichzeitig große Teile der Jugendlichen voll und ganz als Weltbürger oder Weltbürgerin (28 %).

7 Diskussion im Verhältnis zu Rechtspopulismus

Politische Bildung wird allerorten beschworen, um die Ausfälle der Neuen Rechten einzudämmen. Damit muss sie überfordert sein, nichtsdestotrotz kann sie eine solide präventive und aufklärende Aufgabe übernehmen. Diese scheint angesichts der zunehmenden Lautstärke nationalistischer Töne auch notwendig.

Zur Erklärung von Nationalismus und Fremdenhass wird immer wieder auf Wendeverlierer, hohe Arbeitslosenquoten, hohe Jugendarbeitslosigkeit und Perspektivlosigkeit rekurriert (vgl. Heitmeyer 2002). Diese Erklärungsansätze sind verführerisch, übersehen aber, dass es immer auch ideologisch bewusst handelnde Akteure am rechten Rand geben muss, bevor beispielsweise gering literalisierte Erwachsene auf die Idee kommen können, Fremde für ihre Misere verantwortlich zu machen. Wilhelm Heitmeyers unpolitische Deutung neofaschistischer Umtriebe wird demzufolge auch grundlegend infrage gestellt (vgl. Dierbach 2010). Die soziologischen Hinweise auf eine auseinandergehende Einkommensschere und Delegitimierung von Sozialtransfers, die oben angeführt wurden, zeigen insofern nur den Boden auf, auf dem die Saat menschenverachtender Ideologie aufgehen kann. Bei anderer ideologischer Lage kann auch die Ideologie neuer linksgerichteter Parteien wie Syriza und Podemos die Anliegen der genannten Bevölkerungsgruppen aufnehmen und vertreten. Hier kann politische Bildung durchaus ansetzen.

Zudem weisen die Leipziger „Mitte-Studien“ (Decker et al. 2016) darauf hin, dass Rechtspopulismus vor allem dann gefährlich wird, wenn und weil er von der Mitte der Gesellschaft getragen wird.

Immer bringt jedoch eine Entsolidarisierungstendenz auch Legitimationsprobleme der gewählten Volksvertretungen mit sich. Wenn in Deutschland Hartz-IV-Empfänger/innen überproportional oft der Wahlurne fernbleiben, werden sie vom auf Wählerstimmen zielenden politischen Raum offenbar auch nicht mehr vertreten (vgl. Butterwegge 2015). Die Aussage der Leistungsempfänger/innen, man könne an der Regierungspolitik ohnehin nichts ändern, hat dann durchaus Hand und Fuß.

8 Desiderata und Bedarf an weiteren Analysen

Für die weitere Prüfung dieser hier lediglich deskriptiv und bivariat vorgelegten Ergebnisse sind weiterführende statistische Analysen notwendig, die vor allem zentrale soziodemografische Variablen konstant halten. Bedeutsam ist weiterhin die Beobachtung von Entsolidarisierungstendenzen im Zeitvergleich von Querschnittsanalysen. Dort, wo es inhaltlich angezeigt ist – und das ist es vor allem bei der Engagement-Frage –, ist zudem eine Analyse nach Wohlfahrtsregimes angebracht. Dabei ist der Forschungsstand zur Unterscheidung von Wohlfahrtsregimes auf die Frage des sozialen Engagements zu beziehen, nicht auf die generelle Weiterbildungsteilnahme (vgl. Kaufmann et al. 2014). Weiterhin ist es interessant, die politischen Wirksamkeitsempfindungen derjenigen Bevölkerungsteile und Geburtskohorten, die Systemumwälzungen erlebt haben, mit jenen zu vergleichen, die nur ein (als unbeeinflussbar, gar alternativlos wahrgenommenes) System kennen.

9 Schlussfolgerungen: Relevanz politischer Grundbildung?

Die Frage, ob von allen Gesellschaftsschichten Einfluss genommen werden kann und wird und ob Regierung und Gesellschaft auf eine gewisse soziale Kohäsion und Solidarität setzen können, ist m. E. angesichts der nach Europa Geflüchteten von erheblicher Bedeutung. Die durch Rosanvallon monierte Entsolidarisierung von Gesellschaften entsteht s. E. durch das Gefühl fehlenden Einflusses auf als abgehoben empfundene Regierungen (s. oben). Das Narrativ der Chancengleichheit delegitimiert Steuern und Transferleistungen, mit der Folge, dass alle sozialen Lagen auf Legitimationskonflikte hinsichtlich der Verteilungs(un)gleichheit stoßen:

  • Vom oberen Ende der gesellschaftlichen Hierarchie werden spektakuläre Fälle von Steuerflucht, überhöhten Managementgehältern und Korruption berichtet.

  • Innerhalb der transferleistungsempfangenden Bevölkerungsteile werden (gar von Regierungseite) „Faulpelze“Footnote 22 und „Integrationssimulanten“Footnote 23 vermutet.

  • Teile der mittleren sozialen Lagen inszenieren sich als selbstgerechte Spieß- und Wutbürger/innen.

Fraglich ist nunmehr, ob es sich bei diesen von den Medien viel beachteten Ausfällen um wenige schwarze Schafe bei einer insgesamt solidarischen Mehrheit handelt oder ob die Mehrheit davon ausgeht, langsam die Minderheit zu sein. Der Anteil der reziprok handelnden Gesellschaftsmitglieder, die es legitim finden, eine Solidargemeinschaft durch Steuern zu finanzieren und schwächere Mitglieder durch Sozialtransfers zu unterstützen, ist für eine wohlfahrtsstaatliche Gesellschaftsordnung bedeutsam. Die Skalenwerte der politischen Wirksamkeitserwartungen, des sozialen Vertrauens und des freiwilligen Engagements können als Indikatoren gelesen werden, wie gut es um eine so verstandene gesellschaftliche Solidarität steht.

Für die hier interessierende Frage der Literalität im Verhältnis zu politischer Wirksamkeit, sozialem Vertrauen und freiwilligem Engagement muss festgehalten werden, dass geringe Literalität bei allen drei Indikatoren mit geringeren Werten einhergeht. Dieser Zustand ist – aufgrund der wohlfahrtsstaatlich und demokratisch organisierten Gesellschaften, die hier betrachtet wurden – unbefriedigend. Er ist aber weiterhin auch deshalb unbefriedigend, weil die Ergebnisse als geringe politische Teilhabe gedeutet werden können. Politische Wirksamkeitsgefühle korrelieren mit politischem Handeln, und zwar sowohl mit konventionellen (z. B. Wahlbeteiligung) als auch mit unkonventionellen (z. B. Blockade einer Straßenkreuzung) Handlungen, wie die Politologin Angelika Vetter in einem umfassenden Band zur statistischen Erfassbarkeit von Political Efficacy zeigt (1997, S. 34 ff.). Vergleichsweise geringe Ausprägungen der politischen Wirksamkeitsgefühle – wie sie bei gering literalisierten Erwachsenen in allen OECD-Ländern zutage treten – deuten insofern auch darauf hin, dass die politische Teilhabe hier nur eingeschränkt gegeben ist.

Das wiederum stellt die anfängliche Frage neu. Wenn die geringere berufliche Beteiligung, höhere Gefahr der Exklusion vom Arbeitsmarkt oder Arbeit in prekären, gering entlohnten und teils auch unwürdigen Verhältnissen zu Programmen der arbeitsorientierten Grundbildung geführt haben – müssten dann nicht die hier vorgelegten PIAAC-Daten auch die Diskussion um die angemessene begriffliche und didaktische Fassung politischer Grundbildung anstoßen?

Neben der hier aufgeworfenen soziologischen Begründungslinie für politische Grundbildung ist jedoch auch eine emanzipatorische Begründungslinie relevant (zu Alphabetisierung und emanzipatorischer Bildung vgl. Ribolits 2009, S. 175 ff.). Es kann bei Grundbildungsangeboten nicht allein darum gehen, Menschen an die Bedingungen anzupassen, das führt eher zu „defensivem Lernen“ (Holzkamp 1993) oder zu „Lernwiderständen“ (Faulstich und Bayer 2006). Demgegenüber ist „expansives Lernen“ (Holzkamp 1993) auf eine Erweiterung der eigenen „Verfügungsmöglichkeiten“ gerichtet (Grotlüschen 2014). Hier lernen Erwachsene, für ihre Anliegen einzutreten und sie zu erweitern. Das kann erweiterte Zeitsouveränität, längerfristige Arbeitsplatzsicherheit, Kenntnis der Tarife und Rechte als Arbeitnehmer/in, bessere Einkommen und bezahlbares Wohnen ebenso enthalten wie beispielsweise eine bessere Eingebundenheit in Freiwilligenorganisationen oder erweiterte politische Einflussnahme in allen Varianten.

Es ist insofern aus demokratischer Sicht, aber auch auf Basis eines emanzipatorischen Bildungsverständnisses sinnvoll, Angebote der Alphabetisierung und Grundbildung nicht allein auf Arbeit (oder gar Beschäftigungsfähigkeit), sondern auch auf politische Beteiligung hin auszurichten. Dabei wird es allerdings darauf ankommen, die Angebote der Zielgruppe entsprechend aufzubauen, so dass sie politische Grundbildung nutzen können, um ihre Interessen zu klären und ihre Stimme zu Gehör zu bringen. Dazu wird es auch gehören, das Narrativ der Chancengleichheit kritisch zu hinterfragen und zu ganz neuen Legitimationen von Solidarität zu gelangen.