Hintergrund

Die Aufmerksamkeitsdefizit‑/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) wurde in der Vergangenheit häufig zum Zentrum gesellschaftlicher Diskussionen [42]. Gerade in den letzten Jahren hat die Präsenz der Thematik auf Social-Media-Plattenformen wie TikTok rapide zugenommen und #adhd gehört heute zu den beliebtesten Hashtags für gesundheitsbezogene Inhalte [41]. Hier sprechen betroffene Personen über ihre Erfahrungen und kämpfen so für mehr gesellschaftliche Sichtbarkeit [5]. Für viele junge Menschen sind die sozialen Medien häufig einer der ersten Berührungspunkte mit der Erkrankung und manche erkennen sich in den Inhalten der Posts und Videos wieder [5]. Das Internet hat sich somit zu einer relevanten Säule der Aufklärungsarbeit über ADHS entwickelt [5]. Andererseits führt beispielsweise TikTok, wie bei vielen gesundheitsbezogenen Themen, auch zu einer massiven Verbreitung von Fehlinformationen [41]. Die generelle Skepsis gegenüber der Erkrankung, verbunden mit der Angst der Überdiagnostizierung hält weiter an [41]. Stereotype, die die Gültigkeit der Diagnose in Frage stellen, finden auch heute noch einen großen Zuspruch innerhalb der Gesellschaft [22]. Trotz der gesellschaftlichen Kontroverse, handelt es sich bei der ADHS um eine psychiatrische Erkrankung, die individuell mit einem erheblichen Leidensdruck für die Betroffenen verbunden sein kann [10]. Mit einer Prävalenz von 5,3 % gehört die ADHS zu den häufigsten psychiatrischen Erkrankungen im Kindes- und Jugendalter [24, 38]. Entgegen ursprünglicher Annahmen besteht die Symptomatik in den meisten Fällen bis ins Erwachsenenalter fort und betrifft in etwa 3,4 % der Bevölkerung [10, 12]. Charakteristika der Erkrankung finden sich in verschiedenen Lebensbereichen und wirken sich insbesondere auf die Alltagsbewältigung aus [15]. Die Planung des Alltags wird oftmals als schwierig erlebt, z. B. werden Termine vergessen und alltagsrelevante Gegenstände, wie Autoschlüssel oder Portemonnaie, gehen verloren [15]. Die ADHS darf jedoch keinesfalls als reines Störungsbild verstanden werden. Denn die Symptome sind auch mit persönlichen Stärken wie Kreativität und einer ausgeprägten Fähigkeit zum divergenten Denken assoziiert [33]. Sowohl die Stärken als auch die Schwächen der Betroffenen beeinflussen das Berufsleben [17, 28]. Der Umgang mit der Symptomatik kann hier zu einer besonderen Hausausforderung werden [17]. Doch nicht nur die krankheitsbedingten Beeinträchtigungen sind für die Belastung von Personen mit psychischen Erkrankungen verantwortlich [13]. Auch die mit der Krankheit verbundene Stigmatisierung stellt eine erhebliche zusätzliche Last dar [13].

Weltweit leben etwa 15 % der Menschen im erwerbsfähigen Alter mit psychischen Erkrankungen [40]. Trotz der hohen Prävalenz in der Bevölkerung ist das gesellschaftliche Bild von Personen mit psychischen Erkrankungen immer noch negativ besetzt, und die Stigmatisierung stellt ein globales Problem dar [4, 31]. Das Label „psychisch krank“ führt zu einem Bruch mit normativen Identitätsstandards [16]. Auch Menschen mit einer ADHS erleben Stigmatisierung und kämpfen mit deren Folgen [22]. Die Angst vor Diskriminierungserfahrungen am Ausbildungs- oder Arbeitsplatz auf Grund der Erkrankung nimmt bei den Betroffenen einen relevanten Stellenwert ein [22].

Definition

Die Aufmerksamkeitsdefizit‑/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) ist durch die Kernsymptome Unaufmerksamkeit, Hyperaktivität und Impulsivität gekennzeichnet [10]. Die Diagnose kann entweder anhand des ICD-10 (International Classification of Diseases − 10. Auflage) oder des DSM‑5 (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders, 5. Auflage) klassifiziert werden [9, 10]. ICD-10 kodiert die Erkrankung als „einfache Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung“ (F90.0; [9]).

Historischer Überblick

Bereits im Jahr 1845 porträtierte der Frankfurter Arzt Heinrich Hoffman, in seinem berühmten Kinderbuch „Stuwwelpeter“ Kinder, die durch ihr eigentümliches Verhalten auffielen, das uns heute an die ADHS-Kernsymptome Unaufmerksamkeit und Hyperaktivität erinnert [15]. Hans-Guck-in-die-Luft stürzt, abgelenkt von einer vorbeifliegenden Schwalbe, in den Fluss und der Zappel-Phillip rutscht so lange unruhig auf seinem Stuhl hin und her, bis er zum Ärger seiner Eltern nach hinten kippt und die Tischdecke mit sich reißt [18]. Georg Still beschrieb 1902 in seiner Studie über Kinder mit hyperaktiven Verhaltensauffälligkeiten die Symptomatik erstmals in einem medizinisch-wissenschaftlichen Kontext [15]. Schon damals wurde eine biologische Ursache, wie prä- oder postnatale organische Schädigungen vermutet [29]. In den 1950er-Jahren gelangten Begründungen, die den Ursprung im psychosozialen Umfeld der Personen suchten, in den damaligen wissenschaftlichen Diskurs. Die These einer organischen Ursache wurde jedoch weiterhin beibehalten [29].

Im Jahr 1980 wurde die Diagnose der „Aufmerksamkeits- und/oder Hyperaktivitätsstörung“ in das Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM-3) aufgenommen und ab 1987 als „Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung“ (ADHS) im DSM-3R weitergeführt. Das International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems (ICD) erkannte den Symptomkomplex 1992 als „hyperkinetische Störung“ in ihrem Klassifikationssystem an [29]. In den folgenden Jahren rückten die ADHS, ihre Genetik und Neurobiologie zunehmend den Fokus der kinder- und jugendpsychiatrischen Forschung. Zudem wurde immer deutlicher, dass die Erkrankung nicht auf die Kindheit limitiert ist. Die Diagnose erlangte auch in der Erwachsenen-Psychiatrie Relevanz [29].

Ätiologie

In den Entstehungsprozess einer ADHS fließen sowohl neurobiologische, psychosoziale und genetische Faktoren ein [24]. Es liegt eine starke genetische Prädisposition, mit einer Heritabilität von etwa 80 % vor [4, 11]. Die Neurobiologie der ADHS wird durch eine Minderaktivierung der frontostriatalen Netzwerke erklärt. Demnach kommt es zu einer Störung des inhibitorischen Systems [24]. Ursächlich hierfür könnten dysfunktionale dopaminerge, noradrenerge und adrenerge Transmittersysteme sein [30]. Psychosoziale Aspekte werden bei Kindern vor allem als Einflussfaktoren auf den Umgang und Verlauf der Erkrankung gesehen [30]. Beispielsweise können negative Interaktionsmuster mit engen Bezugspersonen in der Kindheit, wie Bestrafungstendenzen und fehlende positive Rückmeldungen, zu einer Verfestigung der Symptomatik führen [2, 30].

Symptome im Erwachsenenalter, Diagnostik und Therapie

Die Kernsymptome Unaufmerksamkeit, Impulsivität und Hyperaktivität beginnen bereits im Kindesalter und haben einen beständigen Charakter [30]. Diese werden als Kriterium A1 und A2 im Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM-5) aufgelistet und beziehen sich auf die letzten 6 Monate [10]. Bei Erwachsenen müssen mindestens 6 Symptome in Kriterium A1 und/oder Kriterium A2 erfüllt sein ([10]; Tab. 1).

Tab. 1 Diagnosekriterium A1 und A2 nach dem DSM‑5. (Nach [10])

Der DSM-5-Katalog ermöglicht die Unterscheidung in 3 Erscheinungsbilder:

  1. 1.

    dem kombinierten Erscheinungsbild,

  2. 2.

    dem vorwiegend unaufmerksamen Erscheinungsbild,

  3. 3.

    dem vorwiegend hyperaktiven/impulsiven Erscheinungsbild [10].

Eine zeitliche Konsistenz der Erscheinungsbilder ist nicht erforderlich. Zusätzlich kann in die Schweregrade leicht, mittel und schwer eingeteilt werden. Um, nach dem DSM‑5, die Diagnose einer ADHS vergeben zu können, darf die Symptomatik nicht im Rahmen einer psychotischen Störung aufgetreten sein und sich nicht durch andere psychiatrische Erkrankungen erklären lassen [10]. Das Verhalten Betroffener stellt sich als wiederkehrendes Muster dar [10]. Da die Symptomatik von der Umgebung häufig als unpassend oder irritierend wahrgenommen wird, erleben Betroffene bereits im Kindesalter eine Vielzahl an negativen Rückmeldungen [30]. Hieraus entwickeln Kinder oftmals ein unsicheres, negatives Selbstbild [30].

In der Diagnostik ist zu beachten, dass eine ADHS-Erkrankung im Erwachsenenalter meist mit psychiatrischen Komorbiditäten einhergeht [15]. Zu diesen zählen u. a. substanzbezogene Störungen, Angststörungen und Depression [15]. Darüber hinaus geraten Betroffene 3‑ bis 4‑mal häufiger in schwere Verkehrsunfälle als Menschen ohne eine ADHS-Symptomatik [3].

Die Erstellung eines Therapiekonzeptes sollte durch einen Facharzt/eine Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie, Neurologie, psychosomatische Medizin oder eine Psychologische Psychotherapeutin/einen Psychologischen Psychotherapeuten vorgenommen werden [1]. Im Gegensatz zu anderen psychischen Erkrankungen stellt die ADHS nicht zwingend eine Behandlungsindikation da. Die Leitlinie zu „Aufmerksamkeitsdefizit‑/Hyperaktivitätsstörung im Kindes,- Jugend- und Erwachsenenalter“ (AWMF-Registernummer 028045) empfiehlt ein multimodales therapeutisches Gesamtkonzept, welches sich an der individuellen Symptomatik, dem Funktionsniveau, der Teilhabe und den Präferenzen orientiert [1]. An erster Stelle stehen hierbei die Psychoedukation und die Behandlung psychiatrischer Komorbiditäten [1]. Führt die ADHS-Symptomatik weiterhin zu einer Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit, Lebensqualität und Teilhabe im Alltag, können Patient:innen durch eine Pharmakotherapie mit Psychostimulanzien und ergänzenden psychotherapeutischen Angeboten, wie einer kognitiven Verhaltenstherapie (KVT) zusätzlich unterstützt werden [1].

Stigmatisierung

Die Stigmatisierung hat schwerwiegende Konsequenzen [6]. Sie trägt dazu bei, dass viele Betroffene aus Angst oder Scham keine Therapie in Anspruch nehmen [6]. Zum einen besteht die Befürchtung, durch die Inanspruchnahme therapeutischer Angebote als „psychisch krank“ gelabelt zu werden und anschließend den Folgen des Labels ausgesetzt zu sein. Andererseits hält die Scham über die eigene Identität Menschen davon ab, die Symptomatik mit anderen zu teilen [6]. Aber was bedeutet Stigmatisierung in diesem Zusammenhang?

Ein Stigmatisierungsprozess durchläuft mehrere Stufen. Durch die mit dem Label assoziierten negativen Zuschreibungen entstehen Stereotype [21]. Werden diese als zutreffend wahrgenommen, entsteht ein Vorurteil. Das Vorurteil ist mit einer emotionalen Reaktion verbunden und löst schließlich einen Handlungsimpuls aus. Wird dieser ausgeführt, geht die Stigmatisierung in Diskriminierung über, die sowohl auf individueller als auch auf struktureller Ebene stattfinden kann [7, 21]. Der Zugang und die Teilhabe an der Mehrheitsgesellschaft werden der merkmaltragenden Gruppe oft erheblich erschwert [16].

Stereotype über psychische Erkrankungen haben einen starken gesellschaftlichen Rückhalt [31]. Vorurteile führen beispielsweise zu Emotionen wie Angst oder Wut beim Gegenüber. In der Folge distanzieren sich nichtbetroffene Personen häufig vom Umfeld der Betroffenen [37]. Richten Personen das stigmatisierte Bild gegen sich und verinnerlichen die damit verbundenen Stereotype und Vorurteile, wird dieser Prozess als Selbststigmatisierung bezeichnet [8]. Die Überzeugung, die negativen Zuschreibungen entsprächen der eigenen Identität, verstärkt den Wunsch, diese vor der Umgebung zu verbergen. Der Versuch der Verheimlichung schafft jedoch meistens zusätzliche Distanz [26].

Folgen für den Arbeitsalltag

Erwachsene, die an einer ADHS erkrankt sind, erfahren Stigmatisierung von verschiedenen Seiten [22, 34]. Zum einen wird die Validität der Diagnose hinterfragt [22]. Beispielsweise wird davon ausgegangen, dass die Erkrankung nur im Kindesalter vorkommt und Erwachsene ihre Symptome übertrieben darstellen [22]. Jedoch persistiert eine Residualsymptomatik der ADHS bei diagnostizierten Kindern bis zu 90 % im jungen Erwachsenenalter [32]. Weitere gesellschaftliche Vorurteile beziehen sich auf die medikamentöse Therapie mit Psychostimulanzien [25]. Diese werden durch eine recht einseitige mediale Berichterstattung über mögliche negative Folgen der Medikation verstärkt [25]. Trotz der nachgewiesenen positiven Effekte von Psychostimulanzien auf die Kernsymptome Unaufmerksamkeit, Impulsivität und Hyperaktivität, entscheiden sich viele Patient:innen oder Eltern von Patient:innen gegen die Einnahme [19]. Mediale Fehlinformationen und das assoziierte Stigma sind hierbei relevante Einflussfaktoren [19].

Das durch die Symptomatik bedingte Verhalten von Personen mit einer ADHS wird von der Umgebung häufig als störend oder unpassend empfunden [30]. Infolgedessen nehmen Nichtbetroffene eine ablehnende Haltung ein und reagieren mit Distanz [27]. Die Häufigkeit von Diskriminierungserfahrungen ist mit anderen psychischen Erkrankungen vergleichbar [22]. Laut einer Studie gaben 88,5 % der Befragten mit einer ADHS-Diagnose an, Diskriminierungserfahrungen in mehreren Lebensbereichen zu erleiden [22]. Diese Sorge bezieht sich zu einem großen Teil auf die Ausbildung oder den Beruf, ausgehend von Mitarbeitenden, Vorgesetzten, Lehrer:innen oder Professor:innen [22].

Bereits in der Grundschule interpretieren Erziehende das Verhalten von Kindern als „unreif“ oder „unangepasst“ [30]. Betroffene Kinder gelten in der Regel als ungezogen und schlechte schulische Leistungen werden fälschlicherweise mit „Disziplinlosigkeit“ erklärt. Das Stereotyp des:der „schlechte:n Schüler:in“ entsteht [30]. Dies scheint sich auch auf den späteren Bildungsweg auszuwirken. Menschen mit einer ADHS-Erkrankung haben durchschnittlich einen niedrigeren Bildungs- und Berufsstatus als Menschen ohne ADHS [36]. Erwachsene Betroffene sehen sich mit zusätzlichen Hürden beim beruflichen Aufstieg konfrontiert. Denn die Mehrheit der Befragten würde Kolleg:innen mit einer ADHS-Symptomatik zwar als Mitarbeitende akzeptieren, sie aber nicht für einen Job weiterempfehlen [34]. Zusätzlich gibt es einen Zusammenhang zwischen Selbststigmatisierung und Arbeitslosigkeit bei Menschen mit einer ADHS [22].

Menschen mit psychischen Erkrankungen neigen dazu, diese vor ihrer Umgebung geheim zu halten, um die negativen Folgen des Labels zu vermeiden [26]. Die Studie „Thriving at work with ADHD: antecedents and outcomes of proactive disclosure“ von Mc Instosh et al. konnte jedoch zeigen, dass ein offener Umgang mit der Erkrankung am Arbeitsplatz, bevor arbeitsbezogene Probleme aufkommen, einen positiven Einfluss auf die Arbeitsleistung hat [23]. Für den offenen Umgang ist es wichtig, im Arbeitsumfeld deutlich zu machen, dass eine Stigmatisierung der Betroffenen dort nicht toleriert wird [23].

Der Arbeitsalltag ist auch durch die Symptome mit einigen Schwierigkeiten verbunden [28]. Das Durchführen monotoner Tätigkeiten, rasches selektives Reagieren auf Reize oder das Ausblenden äußerer Reize wird zur besonderen Herausforderung am Arbeitsplatz [28]. Konzentriertes Arbeiten über eine längere Zeit ist für Betroffene oftmals nur unter erschwerten Bedingungen möglich, und alltägliche Stressoren können starke emotionale Reaktionen auslösen [28]. Eine ADHS bringt aber nicht nur Defizite mit sich, sondern auch eine Reihe an persönlichen Stärken, welche den Berufsalltag ebenso mitgestalten. Betroffene profitieren von Eigenschaften wie Kreativität, Ausdauer und einem hohen individuellen Energielevel [17]. Hyperfokussierung, Handlungsfähigkeit in Stresssituationen und ein ausgeprägtes divergentes Denken sind weitere charakteristische Merkmale der ADHS [17, 33]. Idealerweise sollte ein Arbeitsumfeld gewählt werden, in dem sich die individuellen Stärken entfalten können [15].

Dennoch gaben in der Studie „ADHD at the workplace: ADHD symptoms, diagnostic status, and work-related functioning“ von Fuermaier et al. 80 % der Befragten mit einer ADHS-Diagnose an, mindestens ein arbeitsbezogenes Problem zu haben [14]. Ein Großteil hatte das Gefühl, Aufgaben nicht effizient zu bewältigen und nur wenige glaubten, das eigene Potenzial ausschöpfen zu können. Menschen bleiben also häufig hinter ihren eigenen Ressourcen zurück [14]. Befragte schätzten ihre eigene Arbeitsleistung deutlich schlechter ein als Nichtbetroffene. Im Vergleich waren aber die Kündigungsraten oder Fehlzeiten am Arbeitsplatz nicht signifikant erhöht. Zum Zeitpunkt der Befragung befanden sich nur 55 % in einem bezahlten Arbeitsverhältnis [14]. Betroffene sind häufiger von Arbeitslosigkeit bedroht, brechen häufiger Ausbildungen ab oder wechseln den Arbeitsplatz [28]. Arbeitsbezogene Probleme korrelieren insbesondere mit dem Kernsymptom Unaufmerksamkeit, während Impulsivität und Hyperaktivität von den Betroffenen als weniger beeinträchtigend wahrgenommen werden [14].

Maßnahmen für die Chancengleichheit an Universitäten

Universitäten in Deutschland sind verpflichtet, Studierenden mit Behinderung, zu denen auch neurokognitive Beeinträchtigungen zählen, ein diskriminierungsfreies Studium zu ermöglichen [20]. Um Menschen mit einer ADHS das gleiche Recht auf Bildung zu gewähren wie Menschen ohne diese Beeinträchtigung, haben sie nach dem Universitätsgesetz (UG) ein Anspruch auf Nachteilsausgleich [20]. Ein Nachteilsausgleich kann z. B. die Anpassung der Prüfungsform oder der Prüfungsdauer unter Beibehaltung der Lernziele sein [20]. Dieser Anspruch kann dann geltend gemacht werden, wenn ein Attest mit Diagnose vorliegt. Hierbei handelt es sich je nach Hochschule um ein fachärztliches, klinisch-psychologisches oder psychotherapeutisches Attest, das eine krankheitswertige Funktionseinschränkung bestätigt [20]. In dem Artikel „Partizipation von Studierenden mit neurokognitiven Beeinträchtigungen am Beispiel von ADHS und spezifischen Lernstörungen“ von Kaufmann et al. [20] werden weitere Maßnahmen empfohlen, um eine tatsächliche Chancengleichheit im universitären Setting für Studierende mit einer ADHS zu erreichen. Betroffene könnten beispielsweise von alternativen Lehrkonzepten mit partizipativer Ausrichtung und persönlichen Leistungsbeurteilungen anstatt Noten profitieren [20].

Handlungsempfehlungen für den Arbeitsplatz bei ADHS

Trotz der Diagnose ADHS und der genannten Beeinträchtigungen ist es den Betroffenen durchaus möglich, positive Erfahrungen im beruflichen Kontext zu machen [35]. Da die Symptomatik die Personen bereits seit der Kindheit begleitet, erlernen sie im Laufe des Lebens selbst Strategien, die sie bei der Bewältigung von Herausforderungen anwenden [15]. Darüber hinaus können externe Faktoren angepasst werden, um den Arbeitsalltag zu erleichtern [23].

Um für ein besseres Verständnis von psychischen Erkrankungen am Arbeitsplatz zu sorgen, stellt die WHO (World Health Organisation) mit ihrer Richtlinie „Mental Health and Work“ Handlungsempfehlungen zur Verfügung [39]. So sollen z. B. Trainingsprogramme zu einem Abbau der Stigmatisierung führen [39].

Infobox 1: Strategien, um für ein besseres Verständnis von psychischen Erkrankungen am Arbeitsplatz zu sorgen [39]

  • Trainingsprogramme für Vorgesetzte: Vorgesetzte sollen hierdurch ihr Wissen über psychische Erkrankungen erweitern, um Sichtweise, Verständnis und Umgang gegenüber Betroffenen verbessern zu können.

  • Trainingsprogramme für Mitarbeitende: Mitarbeitende sollen hierdurch ihr Wissen über psychische Erkrankungen erweitern, um das assoziierte Stigma zu minimieren, einen adäquaten Umgang für sich selbst und Kolleg:innen in psychischen Belastungssituationen erlernen und befähigt werden, unterstützende Maßnahmen einzuleiten.

Bei der Konzeption und Durchführung von Anti-Stigma-Programmen ist es ratsam, Menschen mit eigener Erfahrung mit psychischen Erkrankungen einzubeziehen. Dies kann zu einem besseren Verständnis der Teilnehmenden beitragen und das Selbststigmatisierungserleben der Betroffenen minimieren [36].

Strategien können dabei helfen die ADHS-Symptomatik in den Arbeitsalltag zu integrieren, positive Erfahrungen werden zusätzlich durch eine wohlwollende Haltung und Unterstützung durch die Vorgesetzen bestärkt [35]. Das Centre for ADHD Awareness Canada (CADDAC) stellt einige Strategien für Betroffene und Vorgesetze bereit, um den Arbeitsalltag positiv zu gestalten [17].

Infobox 2 Strategien, um mit Unaufmerksamkeit am Arbeitsplatz umzugehen [17]

  • Für schwierige Aufgaben sollte eine Zeitperiode gewählt werden, in welcher die Aufmerksamkeit am höchsten ist.

  • Es wird empfohlen, einen Timer zu verwenden, um Zeiten festzulegen, in welchen die Aufmerksamkeit am größten ist.

  • Monotone Aufgaben sollten abwechselnd mit anregenden Aufgaben konzipiert werden.

  • Anweisungen können aufgeschrieben werden und für Meetings können Tonaufnahmen erstellt werden.

  • Wecker können dabei helfen, an Termine zu erinnern.

Infobox 3 Strategien, um mit Abgelenktheit am Arbeitsplatz umzugehen [17]

  • Angebot für eine zeitliche Flexibilität. Beispielsweise das Arbeiten in Zeitperioden, in denen es weniger Ablenkungsmöglichkeiten durch die Umgebung gibt

  • Möglichkeit zeitweise im Homeoffice zu arbeiten, wenn dies umsetzbar ist

  • Verwendung von Noice-Cancelling-Kopfhörern am Arbeitsplatz

  • Verwendung von Raumtrennern, Möglichkeit die Bürotür zu schließen

Infobox 4 Strategien, um mit Hyperaktivität am Arbeitsplatz umzugehen [17]

  • Regelmäßige Bewegungspausen einführen

  • Möglichkeiten für Bewegung nutzen, z. B. „Treppe statt Aufzug“ oder „Gang zu Kolleg:in statt Anruf“

  • Spaziergang zu oder von der Arbeit

  • Sportliche Aktivitäten in der Mittagspause

  • Verwendung von Stressbällen oder Fidget-Toys

Fazit für die Arbeitsmedizin

ADHS hat mit etwa 3,4 % eine relevante Prävalenz im Erwachsenenalter und ist demnach arbeitsmedizinisch bedeutsam. Für Betroffene ist der Arbeitsalltag mit einigen zusätzlichen Herausforderungen assoziiert. Die ADHS wird auch von individuellen Stärken wie Kreativität, Hyperfokus und einer ausgeprägten Fähigkeit für divergentes Denken geprägt. Jedoch rechnen Betroffene vermehrt mit Stigmatisierung und letztlich Diskriminierung am Arbeitsplatz. Personen sind gehäuft von Arbeitslosigkeit betroffen, brechen öfter die Ausbildung ab oder wechseln den Arbeitsplatz. Um ein sicheres Arbeitsumfeld für Betroffene zu schaffen, ist es als Arbeitsstelle ratsam, sich klar gegen die Stigmatisierung von psychischen Erkrankungen zu positionieren. Damit ein besseres Verständnis für Menschen mit psychischen Erkrankungen erlangt wird, helfen Trainingsprogramme für Betroffene und Vorgesetzte. Die Symptomatik kann durch die Anwendung von bestimmten Strategien besser in den Arbeitsalltag integriert werden.