Unter muskuloskeletalen Erkrankungen (MSKE) versteht man u. a. entzündliche und degenerative Erkrankungen des Bewegungsapparats [4]. MSKE sind verantwortlich für chronische Schmerzen, körperliche Funktionseinschränkungen und Verlust an Lebensqualität [4]. Die Krankheitslast ist beachtlich: Nach den zwischen 2008 und 2011 erhobenen Daten der „Studie zur Gesundheit Erwachsener in Deutschland“ (DEGS) betrug die Arthroseprävalenz 22,3 % bei Frauen und 18,1 % bei Männern, rheumatoide Arthritis lag bei 3,2 % der Frauen und 1,9 % der Männer vor [4]. An Osteoporose erkrankten 13,1 % der Frauen und 3,2 % der Männer [4]. In der zwischen Oktober 2019 und März 2020 durchgeführten Studie „BURDEN 2020 – Die Krankheitslast in Deutschland und seinen Regionen“ lag die 12-Monats-Prävalenz für Rückenschmerzen bei 61,3 % und für Nackenschmerzen bei 45,7 % [13]. Über 15 % der Studienteilnehmenden gaben an, Schmerzen im Bereich des unteren und oberen Rückens sowie des Nackens zu haben, und 15,5 % der Befragten berichteten davon, unter chronischem Rückenschmerz zu leiden [13]. Frauen gaben häufiger an, von Rücken- und Nackenschmerzen betroffen zu sein als Männer [13]. Dabei berichteten 23,2 % bzw. 6,4 % der Studienteilnehmenden von „starken“ bzw. „sehr starken“ Schmerzen [13].

Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen (SVR) dokumentierte bereits im Jahr 2001 eine Über‑, Unter- und Fehlversorgung von Patientinnen und Patienten mit Rückenschmerzen [16]. Der Bericht aus dem Jahr 2018 ergab, dass ein Großteil der Versorgungsprobleme weiterhin besteht [17]. Einer der Gründe für die Versorgungsdefizite sieht der SVR in der mangelnden Gesundheitskompetenz der Bevölkerung und betont die Notwendigkeit einer ärztlichen Aufklärung und präventiven Lebensstilberatung zur Therapie muskuloskeletaler Beschwerden. So empfiehlt der SVR zur Behandlung unspezifischer Rückenschmerzen beispielsweise die Durchführung von Bewegung und Körperübungen anstelle von Bettruhe und Schonverhalten [17]. Explizit wird die Stärkung der sprechenden Medizin sowie eine evidenzbasierte, leitliniengerechte Versorgung hervorgehoben [17]. Trotz der eindeutigen Evidenz für die positiven Auswirkungen regelmäßiger körperlicher Aktivität bei der Behandlung muskuloskeletaler Schmerzen [22] und der Empfehlungen des SVR findet die ärztliche Lebensstilberatung zur Förderung von Selbstwirksamkeit und Gesundheitskompetenz der Patientinnen und Patienten bislang meist noch unzureichend statt [18]. Wesentliche Gründe scheinen hierfür die fehlende Vergütung, Zeitmangel, Desinteresse und mangelnde Compliance der Patientinnen und Patienten sowie Informationsmangel und fehlende Vernetzung mit Partnerinnen und Partnern außerhalb des Gesundheitswesens zu sein [6, 14, 18].

Der Selektivvertrag zur Versorgung im Fachgebiet Orthopädie in Baden-Württemberg (FAV Orthopädie) gemäß § 73c SGB V hat das Ziel, der Über‑, Unter- und Fehlversorgung bei muskuloskeletalen Beschwerden und Erkrankungen entgegenzusteuern, die Wissen-Praxis-Lücke zu verkleinern und letztlich die Patientenversorgung zu verbessern [25, 26]. Mit dem FAV Orthopädie verändern sich auch wichtige systemische Rahmenbedingungen, um eine leitliniengereichte Versorgung mit vermehrtem Fokus auf nichtmedikamentöse Therapien zu begünstigen. Diese veränderten Rahmenbedingungen umfassen u. a. die Vergütung der ärztlichen Lebensstilberatung durch eine Beratungspauschale, womit der Zeitdruck im Behandlungsalltag gemindert werden soll. Zudem fokussiert der FAV Orthopädie auf die Förderung der Weiterqualifikation von Ärztinnen und Ärzten und dem medizinischen Praxisfachpersonal im Sinne der leitliniengerechten und evidenzbasierten orthopädischen Versorgung (inkl. nichtmedikamentöser Maßnahmen), die Bereitstellung praktischer Informationen zu Lebensstilangeboten in den einzelnen Präventionsbereichen (s. oben) für Patientinnen und Patienten sowie die verbesserte Schnittstellenkommunikation zwischen Fachärztinnen und Fachärzten für Orthopädie und Hausärztinnen und Hausärzten [25]. Der FAV Orthopädie wurde als Erweiterung des AOK-Facharzt-Programms zum 01.01.2014 versorgungswirksam. Über den FAV Orthopädie können die Versicherten der AOK Baden-Württemberg bzw. der Bosch BKK versorgt werden, die bereits im AOK-HausarztProgramm eingeschrieben sind.

Ein zentrales inhaltliches Element des FAV Orthopädie ist eine strukturierte motivationale und präventive Beratung zur Lebensstiländerung und Stärkung des Selbstmanagements. Das Beratungskonzept wurde nach unseren Informationen nicht validiert [25]. Die Beratung sieht eine Informationsvermittlung in 4 Stufen vor [25].

  • Stufe 1 (Anatomie und Funktion): Ärztinnen und Ärzte sollen den Patientinnen und Patienten die Anatomie und Funktion der betroffenen Gelenke bzw. Körperregionen erklären. Hierfür können auch die speziell durch den FAV Orthopädie zur Verfügung stehenden Abbildungen zur Anatomie von Wirbelsäule, Kniegelenk, Knochen und Handgelenk benutzt werden.

  • Stufe 2 (Gesundheit im Alltag): Ärztinnen und Ärzte sollen für der vorliegenden Gesundheitsstörung entsprechend Eigenübungen vermitteln bzw. regionale Bewegungsangebote empfehlen.

  • Stufe 3 (Gesundheitsangebote der AOK/Bosch BKK): Ärztinnen und Ärzte sollen mithilfe von einem grünen Rezept unter Angabe der Diagnose gemäß ICD-10 ein Gesundheitsangebot verschreiben (z. B. Angebote der AOK). Der an die Patientinnen bzw. Patienten ausgehändigte ausgefüllte Bogen „Beratungsempfehlungen im Orthopädievertrag“ dient für diese als Gedächtnisstütze und erleichtert die weitere Betreuung im AOK-Gesundheitszentrum.

  • Stufe 4 (Selbsthilfe vor Ort) Ärztinnen und Ärzte sollen auf die Angebote lokaler Selbsthilfegruppen, wie z. B. die der der Rheuma-Liga, verweisen.

Um die Implementierung der routinemäßigen Beratung zu erleichtern, wurden den am FAV Orthopädie teilnehmenden Ärztinnen und Ärzte diverse schriftliche Materialien zu den einzelnen Informationsstufen zur Verfügung gestellt. Darüber hinaus sieht der FAV Orthopädie eine Entlastung des ärztlichen Personals durch speziell weitergebildete (80-stündiger Weiterbildungslehrgang) medizinische Fachangestellte (sog. Entlastungsassistentinnen und Entlastungsassistenten; EFA) vor, die in Absprache mit den Ärztinnen und Ärzten Beratungsaufgaben innerhalb der einzelnen Informationsstufen übernehmen [25]. Bis November 2020 absolvierten 144 medizinische Fachangestellte die EFA-Schulung.

Die Implementierung von evidenzbasierten Versorgungsmodellen können in der Praxis von vielfältigen Faktoren beeinflusst werden [24, 26]. Die Identifikation dieser Faktoren ist wesentlich für den Erfolg des Implementierungsprozesses [26]. Damit derartige Versorgungsmodelle oder Programme ihre intendierten Effekte entfalten können, ist es zudem von großer Bedeutung, dass diese auch in der Form umgesetzt werden, wie sie ursprünglich vorgesehen waren (Implementierungstreue; [9]). Die Überprüfung von Implementierungstreue kann nicht nur helfen, die Daten zur Wirksamkeit zu interpretieren, sondern auch durch Feedbackmechanismen zur Qualitätssicherung und zur Verbesserung des Programms beizutragen [9].

Ziel der vorliegenden Untersuchung war zu erfassen, ob der FAV Orthopädie aus Sicht der vertragsnehmenden Ärztinnen und Ärzten und medizinischen Fachangestellten im Evaluationszeitraum zwischen Oktober 2018 und September 2020 wie intendiert im Praxisalltag umgesetzt werden konnte. Des Weiteren wollten wir untersuchen, inwiefern die im FAV Orthopädie festgehaltene motivationale und präventive Lebensstilberatung sowie Informationsvermittlung gemäß dem 4‑stufigen Beratungskonzept wie geplant durchgeführt werden konnten bzw. welche fördernde und hemmende Faktoren hierbei eine Rolle spielen könnten.

Methodik

Die vorliegende Evaluation der Implementierbarkeit des FAV Orthopädie in den Praxisalltag aus Sicht von Ärztinnen und Ärzten und medizinischen Fachangestellten war ein Teil der Gesamtevaluation des Vertrags, die zwischen Oktober 2018 und September 2020 im Rahmen eines vom Innovationsfond gefördertes Projekt (Förderkennzeichen: 01VSF17002) durch ein Konsortium bestehend aus 6 Partnern durchgeführt wurde.

Zur Evaluation der Implementierbarkeit des FAV Orthopädie wurde eine anonyme onlinebasierte Fragebogenerhebung (SoSci Survey) in den am FAV Orthopädie teilnehmenden Praxen (587 Ärztinnen und Ärzte; 410 Praxen; Stand: Dezember 2018) innerhalb Baden-Württembergs durchgeführt (positives Ethikvotum von lokaler Ethikkommission von Fachbereich 05, Psychologie und Sportwissenschaften der Goethe-Universität Frankfurt: Datum: 19.10.2018, Nr. 2018-45). An die Ärztinnen und Ärzte und die medizinischen Fachangestellten der Praxen haben wir jeweils einen nicht personalisierten Umfragelink per E‑Mail oder Fax geschickt. Nach der Teilnahmeaufforderung wurden 2 Erinnerungen versendet. Gemäß dem Evaluationsmodell „Hexagon-Tool“ wurde die Implementierbarkeit des FAV Orthopädie anhand von 6 Dimensionen (Bedarf: „War in der Patientenversorgung Bedarf für die Inhalte des Facharztvertrages-Orthopädie § 73c und ist dieser Bedarf durch die Implementierung der Versorgungsinhalte ganz oder größtenteils gedeckt?“ Integration: „Konnte die durch den Facharztvertrag-Orthopädie § 73c zu verändernde Patientenversorgung in den bestehenden Praxisbetrieb implementiert werden, ohne dass dieser grundlegend durcheinandergebracht oder sogar verschlechtert wurde?“, Ressourcen: „Konnten bestehende Ressourcen für die Durchführung der Neuerungen/Anpassungen genutzt werden (Equipment vor Ort, Manpower Ärzte, Praxispersonal, Administration); inkl. der Schulung derselben?“, Evidenz: „Besteht aus Ihrer Sicht wissenschaftliche Evidenz für die Wirksamkeit der neuen/zusätzlichen Versorgungsmaßnahmen resultierend aus dem Facharztvertrag-Orthopädie § 73c und sind die durch den Facharztvertrag-Orthopädie § 73c erwarteten Resultate in der Versorgung besser als ohne den Facharztvertrag-Orthopädie § 73c?“, Reproduktion: „War/ist voraussichtlich das Programm für alle Patienten der eingeschlossenen Diagnosegruppen anwendbar sowie standardisiert und nachhaltig im Praxisalltag angekommen?“ und Implementierung: „Konnte das Programm in dem Umfang und inhaltlich so wie festgelegt/ohne Abstriche bei Ihnen integriert werden?“) von den Teilnehmenden erfragt [1]. Hierzu mussten diese für jede einzelne Dimension auf einer 5‑stufigen Likert-Skala das Maß an Zustimmung (ja, eher ja, neutral, eher nein, nein) beurteilen, wobei die Endstufen „ja“ eine eher gute und „nein“ eine eher schlechte Implementierbarkeit kennzeichneten. Zur deskriptiven Auswertung wurde für jede Dimension die relative Häufigkeit berechnet. Hierbei wurden die Antworten „ja“ und „eher ja“ zusammenfassend als zustimmend gewertet. Zudem wurde für jede Dimension der Mittelwert (Likert-Skala) berechnet (Maß an Zustimmung: 5 = ja, 4 = eher ja, 3 = neutral, 2 = eher nein, 1 = nein).

Erfasst wurden zudem folgende Endpunkte:

  • Bei den Ärztinnen und Ärzten und den medizinischen Fachangestellten: Umsetzung der Beratung nach dem 4‑stufigen Beratungskonzept (Häufigkeiten der Nennungen in Prozent)

  • Bei den Ärztinnen und Ärzten und EFA: Barrieren bei der Patientenberatung (zeitlich; räumlich; sprachlich (die Patientinnen und Patienten verstehen mich schlecht/nicht); kognitiv (die Patienten verstehen die Inhalte des Gesprächs schlecht/nicht); Bereitschaft der Patientinnen und Patienten (Patientinnen und Patienten wünschen keine Beratung); Sonstige; es gibt keine Barrieren; Häufigkeiten der Nennungen in Prozent).

  • Bei den Ärztinnen und Ärzten und EFA: selbsteingeschätzter Beratungserfolg hinsichtlich einer positiven Lebensstiländerung der Patienten separat in den Bereichen Bewegung/Sport, Ernährung, Tabakentwöhnung, Stressbewältigung (4-stufigen Antwortskala: erfolgreich, eher erfolgreich, eher erfolglos, erfolglos; „Wie hoch schätzen Sie die Erfolgsaussichten ein, dass Ihre Beratungsgespräche zu einer positiven Lebensstiländerung der Patientinnen und Patienten führen?“; Häufigkeiten der Nennungen in Prozent).

Die Fragen bzw. die Antwortmöglichkeiten zu den Barrieren und zum selbsteingeschätzten Beratungserfolg wurden in Anlehnung an das im „Ärzte-Survey zur Prävention kardiovaskulärer Erkrankungen in Baden-Württemberg“ eingesetzte Instrument formuliert, das mittels kognitiver Interviews validiert und im Rahmen einer Pilotstudie getestet wurde [8, 19].

Ergebnisse

Von den 587 angeschriebenen Ärztinnen und Ärzten (410 Praxen) haben 191 (33 %) und 101 medizinische Fachangestellte (davon 28 mit abgeschlossener EFA-Qualifikation, Berufserfahrung: 14 ± 10,2 Jahren) die Fragen bzgl. der Implementierbarkeit des FAV Orthopädie im Praxisalltag beantwortet. Tab. 1 zeigt die Charakteristika der teilnehmenden Ärztinnen und Ärzte.

Tab. 1 Charakteristika der teilnehmenden Ärztinnen und Ärzte

Implementierbarkeit

Die Ergebnisse hinsichtlich der Beurteilung der Implementierbarkeit anhand der 6 Dimensionen (Hexagon) stellte sich wie folgt dar:

  • Bedarf: Die große Mehrheit der Ärztinnen und Ärzte (n = 170/89 %) und der medizinischen Fachangestellten (n = 69/68 %) gaben an, dass der Bedarf für die Inhalte des FAV Orthopädie in der Patientenversorgung gedeckt werden kann.

  • Integration: Die große Mehrheit der Ärztinnen und Ärzte (n = 180/94 %) und der medizinischen Fachangestellten (n = 85/84 %) gaben an, dass sich die Versorgung der Patientinnen und Patienten gemäß FAV Orthopädie gut in den Praxisbetrieb integrieren lässt.

  • Ressourcen: Die große Mehrheit der Ärztinnen und Ärzte (n = 164/86 %) und der medizinischen Fachangestellten (n = 74/73 %) sahen die Patientenversorgung gemäß FAV Orthopädie unter Einsatz der vorhandenen Ressourcen als gewährleistet an.

  • Evidenz: Die große Mehrheit der Ärztinnen und Ärzte (n = 160/84 %) und der medizinischen Fachangestellten (n = 52/51 %) gaben an, dass aus ihrer Sicht wissenschaftliche Evidenz für die Wirksamkeit der Vertragsinhalte für eine verbesserte Patientenversorgung bestehen würde.

  • Reproduzierbarkeit: Die große Mehrheit der Ärztinnen und Ärzte (n = 159/83 %) und der medizinischen Fachangestellten (n = 74/73 %) gaben an, dass die Versorgung gemäß FAV Orthopädie für den Großteil der Patientinnen und Patienten nachhaltig anwendbar ist.

  • Implementierung: Die große Mehrheit der Ärztinnen und Ärzte (n = 164/86 %) und der medizinischen Fachangestellten (n = 73/72 %) gaben an, dass der FAV Orthopädie im vorgegebenen Umfang und mit den entsprechenden Inhalten ohne Abstriche umgesetzt werden kann.

Zusammengefasst zeigt sich sowohl für die befragten Ärztinnen und Ärzte als auch für die medizinischen Fachangestellten eine positive Einschätzung der Umsetzung des FAV Orthopädie im Praxisalltag. Die zentralen Tendenzen liegen für alle sechs abgefragten Dimensionen bei beiden Berufsgruppen auf der Zustimmungsseite. Die Ärztinnen und Ärzte beurteilten dies insgesamt etwas besser als die medizinischen Fachangestellten (Abb. 1). Die medizinischen Fachangestellten und EFA unterschieden sich bis auf die Dimension „Ressourcen“ (4,2 ± 1 vs. 3,5 ± 1; p < 0,05) in keiner weiteren Dimension signifikant (Bedarf: 3,9 ± 1 vs. 3,6 ± 1; Integration: 4,3 ± 1 vs. 3,9 ± 1; Evidenz: 3,6 ± 1 vs. 3,6 ± 1; Reproduktion: 4 ± 1 vs. 3,9 ± 1; Implementierung: 4 ± 1 vs. 3,7 ± 1; p > 0,05).

Abb. 1
figure 1

Implementierung aus Praxisperspektive (Ärztinnen und Ärzte n = 191, medizinische Fachangestellte n = 101); Maß an Zustimmung (5 = ja, 4 = eher ja, 3 = neutral, 2 = eher nein, 1 = nein)

Angaben zur motivationalen und präventiven Lebensstilberatung

Die Daten zu den umgesetzten Beratungsstufen werden in Abb. 2 dargestellt.

Abb. 2
figure 2

Beratung innerhalb der einzelnen Informationsstufen (Mehrfachantwort, Ärztinnen und Ärzte n = 53, medizinische Fachangestellte n = 81, mit EFA-Qualifikation n = 28; Häufigkeit der Nennung der einzelnen Antwortoptionen in Prozent)

Barrieren zur Lebensstilberatung und selbsteingeschätzter Beratungserfolg

Fast zwei Drittel der befragten Ärztinnen und Ärzte (n = 34; 64 %) und fast alle EFA (n = 27; 96 %) gaben an, dass bei der Beratung der Patientinnen und Patienten mindestens eine Barriere vorlag. Etwa ein Drittel der Ärztinnen und Ärzte (n = 19) sowie 2 % der EFA (n = 1) sahen dahingegen keine Barrieren (Abb. 3).

Abb. 3
figure 3

Barrieren zur routinemäßigen Lebensstilberatung (Mehrfachantwort, Ärztinnen und Ärzte n = 53, EFA n = 28; Häufigkeit der Nennung der einzelnen Antwortoptionen in Prozent)

Der selbsteingeschätzte Beratungserfolg bezüglich Lebensstiländerung in den Themenfeldern Bewegung, Ernährung, Tabakentwöhnung und Stressbewältigung stellte sich wie folgt dar (Abb. 4).

Abb. 4
figure 4

Selbsteingeschätzter Beratungserfolg in den einzelnen Lebensstilbereichen, (Ärztinnen und Ärzte n = 53, EFA n = 28; Häufigkeit der Nennung der einzelnen Antwortoptionen in Prozent)

Diskussion

Ziel unserer Untersuchung war es, die Implementierbarkeit des FAV Orthopädie aus Sicht der vertragsnehmenden Ärztinnen und Ärzte sowie der medizinischen Fachangestellten zu dokumentieren. Wir konnten zeigen, dass beide Berufsgruppen die Implementierbarkeit insgesamt positiv bis sehr positiv beurteilten, wobei dies bei den Ärztinnen und Ärzte noch ausgeprägter war als bei den Praxismitarbeitenden. Beim FAV Orthopädie zeigt sich eine hohe Zustimmung für sowohl prozessbezogene Faktoren (Integrierbarkeit, Nutzung von Ressourcen) als auch für die wissenschaftliche Evidenz für die Diagnostik und Therapie, die sich im Vertrag widerspiegelt. Dies ist von großer Relevanz, weil außerhalb des FAV Orthopädie die evidenzbasierte, leitliniengerechte Versorgung immer noch nicht die Regel ist [18, 21]. Auch ist ein Zusammenhang zwischen Einstellungen und Überzeugungen von Behandlerinnen und Behandlern und Patientinnen und Patienten bezüglich chronischen Rückenschmerzen dokumentiert [2]. So folgen Behandlerinnen und Behandler mit rein biomedizinischer Orientierung seltener die evidenzbasierten Empfehlungen zur Diagnostik und Therapie [2]. Beim Vergleich der beiden Berufsgruppen fällt auf, dass nur ca. die Hälfte der medizinischen Fachangestellten von der wissenschaftlichen Evidenz für die Wirksamkeit der Vertragsinhalte für eine verbesserte Patientenversorgung überzeugt ist. Dies impliziert die Notwendigkeit einer kontinuierlichen Weiterqualifizierung des Praxispersonals.

Des Weiteren wollten wir die Implementierungstreue der Lebensstilberatung erfassen. Unsere Daten legen eine hohe bis sehr hohe Implementierungstreue im Sinne der Beratungsstufen nahe. Jede Stufe wurde erwartungsgemäß häufiger von Ärztinnen und Ärzten als von den Praxismitarbeitenden angeboten. Stufen 1–3 wurden fast von allen Ärztinnen und Ärzten angesprochen. Dies öffnet die Möglichkeit, die Gesundheitskompetenz und Selbstwirksamkeit von Patientinnen und Patienten zu steigern, die wiederum die nachhaltige Lebensstiländerung günstig beeinflussen kann [18, 23].

Trotz hoher Beratungsprävalenz, lassen sich nach wie vor Herausforderungen feststellen. Der FAV Orthopädie hat durch die Einführung einer Beratungspauschale eigentlich zeitliche Ressourcen für die Beratung geschaffen. Dennoch wurde dieser Aspekt, zusammen mit räumlichen Barrieren als Hindernis für die routinemäßige Beratung beschrieben. Weitere hemmende Faktoren waren vor allem aus Sicht der Ärztinnen und Ärzte kognitive und sprachliche Barrieren seitens der Patientinnen und Patienten. Sprachliche Verständigung ist eine Grundlage einer qualitativ hochwertigen und personenzentrierten Versorgung. Sprachliche Barrieren stellen allerdings in Deutschland eine tägliche Herausforderung im Gesundheitswesen dar [5, 11]. In einer qualitativen Untersuchung gaben Ärztinnen und Ärzte an, dass Sprachbarrieren zu zeitaufwändigeren Behandlungen führten oder Behandlungen manchmal sogar gänzlich unmöglich machten [11]. Entsprechend könnte die Sprachbarriere „mitverantwortlich“ für das genannte zeitliche Hindernis im Versorgungsalltag im FAV Orthopädie sein. In Praxen mit hohen Migrationsanteil wäre eine kultursensible Beratung [7] angebracht. Das Hinzuziehen von professionellen Übersetzerinnen und Übersetzern, nicht aber von Laiendolmetschenden, kann die Versorgungsqualität für Menschen mit nicht ausreichenden Sprachkenntnissen verbessern [5, 12]. Inhalte zur interkulturellen Beratungskompetenz ließen sich beispielsweise in die EFA-Ausbildung integrieren. Denkbar wäre im FAV Orthopädie der Einsatz von Patientenmaterialien in leichter Sprache bzw. in den wichtigsten Fremdsprachen zu allen Informationsstufen sowie den lokalen Gesundheitsangeboten [15]. Die trotz Herausforderungen insgesamt als erfolgreich zu bezeichnende Implementierung lässt sich auch durch die dokumentierten positiven Einstellungen von Ärztinnen und Ärzten sowie des Praxisfachpersonals erklären [15].

Die Bereitschaft der Patientinnen und Patienten, die Gesundheitsempfehlungen auch umzusetzen, schätzen beide Berufsgruppen als eher weniger ausgeprägt ein. Diese angeblich fehlende Motivation wird häufig als Barriere genannt [6], aber durch Patientenangaben eher widerlegt [10]. Auch in einer in Rheinland-Pfalz bei älteren Patientinnen und Patienten durchgeführten Studie gaben über drei Viertel der Teilnehmenden an, sich dafür entschieden zu haben, ein von der Hausärztin oder vom Hausarzt empfohlenes Angebot „nach dem Ausprobieren längerfristig wahrzunehmen“, und 82 % sind grundsätzlich stärker an einem Gesundheitskurs interessiert, wenn ihr Hausärztin bzw. Hausarzt diesen empfiehlt [27].

Der selbsteingeschätzte Beratungserfolg der beiden Berufsgruppen im FAV Orthopädie lag relativ nahe beieinander. Allerdings zeigten sich große Unterschiede bei beiden Berufsgruppen je nach Lebensstilbereich. Während im Bereich Bewegung die große Mehrheit der Ärztinnen und Ärzte sowie des Praxisfachpersonals (81 % bzw. 77 %) die Erfolgsaussichten, dass ihre Beratungsgespräche zu einer positiven Lebensstiländerung führen als erfolgreich oder eher erfolgreich beschrieben, lag der Wert im Bereich Ernährung bei 43 % bzw. 56 % und im Bereich Stressmanagement bei 61 % bzw. 56 %. Im Bereich Tabakentwöhnung sehen sich beide Berufsgruppen mehrheitlich als eher erfolglos oder als erfolglos in ihren Bemühungen. Obwohl die Vergleichbarkeit unserer Daten mit Ergebnissen anderer Studien nur eingeschränkt möglich ist, scheinen Vertragsnehmende des FAV Orthopädie ihre eigenen Erfolgsaussichten im Bereich Bewegung durchaus höher einzuschätzen als Ärztinnen und Ärzte in anderen Studien [3, 14, 19]. Die geringen Erfolgsaussichten im Bereich der Tabakentwöhnung bestätigen dahingegen andere Befunde [14, 20].

Unsere Studie liefert erste Daten zur Implementierbarkeit und Implementierungstreue aus Sicht der am FAV Orthopädie teilnehmenden Ärztinnen und Ärzte und des Praxisfachpersonals. Die Resultate bieten Anhaltspunkte für Verbesserungen, um die motivationale und präventive Lebensstilberatung noch breiter anbieten zu können. Als Einschränkung muss die verhältnismäßig geringe Rücklaufquote vor allem beim Praxisfachpersonal festgehalten werden. Dies könnte die Repräsentativität der Daten einschränken. Auch wurde das von uns eingesetzte Befragungsinstrument nicht validiert, auch wenn wir uns auf validierte Fragebögen gestützt haben. Es ist nicht auszuschließen, dass sich eher Personen an der Studie beteiligt haben, die positiver gegenüber des FAV Orthopädie eingestellt sind (Selbstselektionsbias).

Fazit

Die hier vorliegenden Ergebnisse liefern erste Hinweise dafür, dass der FAV Orthopädie nachhaltig in den Praxisalltag integriert und eine routinemäßige Lebensstilberatung angeboten werden konnte. Somit kann man davon ausgehen, dass der FAV Orthopädie die biopsychosoziale und leitliniengerechte Versorgung stärkt. Dennoch bleiben einige Hindernisse wie räumliche und zeitliche Einschränkungen sowie sprachliche und kognitive Barrieren seitens der Patientinnen und Patienten bestehen. Diesen könnte durch das Hinzuziehen von professionellen Dolmetschenden und mehrsprachigen Patientenmaterialien entgegengewirkt werden. Auch zeigt sich im Bereich Ernährung und insbesondere Tabakentwöhnung eine bescheidene selbsteingeschätzte Wirksamkeit seitens der Ärztinnen und Ärzte bzw. des Praxisfachpersonals für die tatsächliche Umsetzung einer Lebensstiländerung. Die Gründe hierfür sollten in weiteren Untersuchungen beleuchtet werden, um entsprechende Maßnahmen entwickeln zu können.