Bei Gefährdungsbeurteilungen physischer Belastungen kann zwischen beobachtungs- und messdatenbasierten Methoden unterschieden werden. Messdatenbasierte Verfahren zeichnen sich durch Objektivität und Genauigkeit aus und werden zunehmend kostengünstiger und praktikabler. Dieser Artikel gibt eine Übersicht zu potenziellen messtechnischen Verfahren und unterstützt betriebliche Akteure bei der Auswahl geeigneter Methoden für die jeweilige Bewertungssituation.

Die Durchführung der Gefährdungsbeurteilung physischer Belastungen ist ein zentraler Bestandteil deutscher Arbeitsschutzrichtlinien, Vorschriften, Gesetze und Rechtsverordnungen. Arbeitgeber sind verpflichtet (Arbeitsschutzgesetz [3], § 5 I–III), im Rahmen der Gefährdungsbeurteilung die relevanten Gefährdungen an Arbeitsplätzen, -bereichen oder bei auszuführenden Tätigkeiten zu erfassen, zu bewerten, Schutzmaßnahmen abzuleiten und deren Wirksamkeit zu überprüfen. Gefährdungsbeurteilungen tragen zur Prävention arbeitsbezogener Muskel-Skelett-Belastungen bei, was als ein wichtiges Ziel der Gemeinsamen Deutschen Arbeitsschutzstrategie (GDA) von Bund und Ländern sowie Trägern der gesetzlichen Unfallversicherung vereinbart wurde.

Zur Verbesserung der Prävention und des Arbeitsschutzes macht die Europäische Agentur für Sicherheit und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz (European Agency for Safety and Health at Work, EU-OSHA) in der aktuellen Kampagne „Gesunde Arbeitsplätze – entlasten Dich!“ auf die Förderung von Präventionsmaßnahmen und Gefährdungsbeurteilungen in Verbindung mit arbeitsbezogenen Muskel-Skelett-Erkrankungen (MSE) aufmerksam [12]. Bis 2022 möchte die EU-OSHA eine Übersicht geeigneter Methoden und Bewertungsinstrumente bereitstellen.

Zwischen 20 und 57 % aller arbeitsbezogenen MSE betreffen den Hand-Arm-Schulter-Bereich [24]. Fehlbelastungen der oberen Extremitäten sind damit eine häufige Ursache für krankheitsbedingte Arbeitsausfälle. Für Gefährdungsbeurteilungen ist es erforderlich, entsprechende Risikofaktoren im Vorfeld zu identifizieren, um eine Auswahl geeigneter Expositionsbewertungsmethoden treffen zu können. Neben hoch repetitiver oder kraftvoller Arbeit sowie ungünstigen Haltungen wurden auch Kombinationen aus Kraftanforderungen und dem Bewegungsverhalten als arbeitsbedingte Risikofaktoren der oberen Extremität bereits quantitativ beschrieben [25].

Für Gefährdungsbeurteilungen physischer Belastungen wurde bereits 2010 ein 5‑stufiges Ebenenmodell vorgeschlagen [11], das die Grundlage für das Vorgehen im Projekt „Mehrstufige Gefährdungsanalyse physischer Belastungen am Arbeitsplatz“ (MEGAPHYS) [6, 9] darstellte sowie im Bereich der oberen Extremität angewandt werden kann. Die Ebenen lassen sich in beobachtungsbasierte (Grob-Screening, Spezielles Screening, Experten-Screening) und messtechnische Verfahren (betriebliche Messung, Labormessungen/Simulationen) einteilen.

Der Vorteil von beobachtungsbasierten Methoden liegt vor allem in der einfachen und praxisnahen Anwendung, insbesondere bei zusätzlicher Beurteilung von Arbeitsplatzumgebungen, -bedingungen oder -organisation [6, 9]. Sie sind vorteilhaft für erste Expositionsabschätzungen. In der Literatur werden jedoch auch einige Limitationen beschrieben. Beobachtungsbasierte Verfahren können durch subjektive Erfahrungen beeinflusst werden [13]. Das heißt, zwischen unterschiedlichen Beobachtenden kann es zum Teil zu erheblichen Unterschieden bei der Bewertung kommen. Weitere Einflussfaktoren sind z. B. Blickwinkel (Verdeckung), Tagesform oder Erinnerungsvermögen [13, 16, 17, 23]. Holtermann et al. [17] merken in diesem Zusammenhang ebenfalls an, dass erfahrene Beobachter benötigt werden, was kostenintensiv für jede beobachtete Arbeitszeiteinheit ist und meist kurze Beurteilungssequenzen oder limitierte Stichprobenanzahlen zur Folge hat. Beobachtungen können auch zu ethischen Komplikationen führen, z. B. bei Tätigkeiten in der Pflege [17]. Beobachtungsverfahren scheinen für grobe Erhebungen ausreichend zu sein, jedoch sind für weitere Untersuchungen ergänzende technische Methoden mit höherer Reliabilität von Vorteil [13, 23].

Lin et al. [18] weisen bspw. darauf hin, dass messwertbasierte Systeme in den letzten Jahren praktikabler und genauer geworden sind, längere Betriebszeiten ermöglichen und in der Lage sind, mehr Daten als früher zu speichern bzw. zu verarbeiten. Diese Verfahren sind objektiv, weisen einen hohen Detaillierungsgrad auf und ermöglichen eine genaue Quantifizierung von Expositionen. Ebenfalls werden technische Methoden für die Erstellung objektiver Expositionskataster [10] und für Analysen komplexer Arbeitsplätze mit schnell wechselnden oder parallel vorkommenden Belastungsarten [15] eingesetzt. Auch für Risikoabschätzungen zur Evaluation von Interventionen werden messtechnische Methoden empfohlen [23]. Messtechnische Methoden zur Erfassung der physischen Arbeitsbelastung unterliegen keinen subjektiven Verzerrungen, sind in der Regel auch an verdeckten oder engen Arbeitsplätzen anwendbar und weisen eine hohe Validität und Reliabilität auf [16]. Limitationen waren bisher ein gegenüber Beobachtungsverfahren höherer Zeit- und Kostenaufwand (oftmals bedingt durch aufwendige Instrumentierungen und Auswertungen), eine Nutzung vorrangig durch Experten und eine mögliche Interferenz mit dem Arbeitsablauf [14]. Durch den Technikfortschritt werden jedoch die objektiven und genauen Systeme immer praktikabler und günstiger [13, 18] und bereits international zur Gefährdungsbeurteilung empfohlen [16]. Das bietet gute Voraussetzungen für andere Nutzergruppen und künftige Weiter- und Neuentwicklungen messwertgestützter Methoden bzw. Bewertungsverfahren auch im Rahmen der hierzulande durchzuführenden Gefährdungsbeurteilung physischer Belastungen, z. B. im Bereich der oberen Extremität. Bisher war es in der betrieblichen Praxis sehr schwierig, die geeignete messtechnische Methode für die jeweiligen Zwecke auszuwählen.

Das Ziel dieser Arbeit ist es daher, eine übersichtliche Kategorisierung am Beispiel aktuell verfügbarer Methoden für die messtechnisch basierte Gefährdungsbeurteilung arbeitsbedingter physischer Belastungen im Bereich der oberen Extremität zu erstellen. Beispiele sollen die Einsatzbereiche verdeutlichen und betriebliche Praktiker zukünftig bei der Auswahl geeigneter messtechnischer Verfahren unterstützen.

Messmethoden zur Belastungsquantifizierung

Zur objektiven Quantifizierung arbeitsbezogener Muskel-Skelett-Belastungen der oberen Extremität sind zahlreiche Methoden verfügbar. Kamerabasierte Methoden als Basis für automatisierte Bewegungsanalysen unter Verwendung von passiven oder aktiven, reflektierenden Markern sind überwiegend an spezielle stationäre Laborumgebungen gebunden. Entsprechend sind solche Methoden nur eingeschränkt für den mobilen Einsatz geeignet und somit in Abhängigkeit von den Rahmenbedingungen wenig praktikabel für eine praxisnahe Gefährdungsbeurteilung vor Ort, z. B. an nichtstationären Arbeitsplätzen. Für Quantifizierungen werden heutzutage auch videobasierte Mustererkennungen (nicht markerbasiert) verbunden mit biomechanischen Modellierungen verwendet [1]. Wenn die Arbeitsabläufe und Arbeitsinhalte dies erlauben, lassen sich videobasierte Verfahren oftmals problemlos in der Praxis an industriellen Arbeitsplätzen einsetzen, da als Hardware nur eine Videokamera, ein Smartphone oder Tablet benötigt wird. Jedoch ist hier zur Bewertung der Arbeitsplatzbelastungen eine spezifische zusätzliche Videoanalyse-Software notwendig. Zudem sind die bisher verfügbaren Bewertungsansätze häufig nur auf bestimmte Bewegungsmuster bezogen. Obwohl eine Datenerfassung prinzipiell möglich ist, erfordert die nachfolgende Auswertung somit erhöhte Aufwände, wie z. B. einen zusätzlichen Programmieraufwand. Problematisch ist ein Kameraeinsatz auch an Arbeitsplätzen, an denen aus datenschutzrechtlichen, ethischen oder betrieblichen Gründen keine Videoaufzeichnungen erfolgen dürfen. Nicht nur für derartige Arbeitsplätze, sondern auch für den Einsatz an nichtstationären Arbeitsplätzen eignen sich daher personengetragene Bewegungssensoren. Die Bandbreite erstreckt sich dabei vom Einsatz einzelner Beschleunigungssensoren bis hin zur Anwendung von Inertialsensoren als Multisensorsysteme, synchronisiert mit weiterer Sensorik, z. B. zur Erfassung von Kräften oder physiologischer Vorgänge.

Kategoriensystem

In der Literatur werden messtechnische Verfahren zur Erfassung und Bewertung beruflicher körperlicher Aktivität und spezifischer physischer Arbeitsbelastungen in einem Kategoriensystem eingeteilt, das eine Differenzierung in 3 Messsystem-Kategorien vorsieht [8, 16, 17, 29]. Im Folgenden wird dieses Kategoriensystem als Grundlage genutzt, um eine entsprechende Klassifizierung messtechnischer Systeme zur Erfassung und Bewertung arbeitsbezogener Belastungen der oberen Extremitäten vorzunehmen.

Kategorie 1

Hierzu zählen Messverfahren mit 1–2 Sensoreinheiten, welche die Belastung einer spezifischen Lokalisation (z. B. Handgelenk, Ellenbogen) abbilden. Solche Verfahren basieren in der Regel auf dem Einsatz von Bewegungs‑, Haltungs- oder Positionssensoren wie Accelerometer (Beschleunigungsmesser) oder Goniometer (Winkelmesser). Diese Sensoren waren früher oft kabelgebunden und kostenintensiv und ihre Handhabung setzte spezielle Kenntnisse für die Sensoranbringung und Datenauswertung voraus. Durch technische Optimierung sind die zur Erfassung von Arbeitsbewegungen geeigneten Systeme heute kostengünstiger und nutzerfreundlicher. Sie sind beispielsweise häufig kabellos, und durch intelligente Algorithmen werden Fehler bei der Anbringung oder Datenauswertung vermieden [29].

Kategorie 2

Mit Messverfahren mit ≥ 2 Sensoreinheiten lassen sich Belastungen eines Lokalisationsbereichs betrachten (Kette von Lokalisationen, z. B. Schulter-Ellenbogen-Hand-Bereich). Die Sensoreinheiten können in smart textiles eingearbeitet oder individuell am Körper angebracht werden. Neben Sensorik zur Bewegungserfassung (z. B. Inertialsensoren) kann beispielsweise Elektromyographie (EMG), Nahinfrarotspektroskopie (NIRS) oder Hand-Arm-Vibration(HAV)-Erfassungssensorik zum Einsatz kommen. Es gibt eine Reihe an wearables, die anhand von Inertialsensoren, Dynamometern und Oberflächen-EMG zur biomechanischen Datenerfassung bei der Arbeit als Basis für die Risikobewertung geeignet sind [22].

Kategorie 3

Bei diesen komplexen Messverfahren werden viele Sensoren kombiniert, um die Belastung mehrerer Ketten von Lokalisationen oder des gesamten Körpers zu betrachten. Hierzu zählen Multisensorsysteme, die in der Regel auf Inertialsensoren basieren, aber auch mit weiterer Messtechnik kombinierbar sind (z. B. Computer-unterstützte Erfassung und Langzeit-Analyse von Belastungen des Muskel-Skelett-Systems (CUELA), Xsens, [28]).

Methodenüberblick und Anwendungsbeispiele

Eine prinzipielle Übersicht zu den 3 Kategorien von Messsystemen ist in Abb. 1 illustriert. Beispiele für die jeweilige Messsystemkategorie für die Erfassung und Bewertung arbeitsbezogener Belastungen der oberen Extremitäten sind in Abb. 2 zusammengefasst. Hierbei erscheinen wegen der hohen Praktikabilität die Kategorien 1 und 2 für den Einsatz im Betrieb besonders bedeutsam. Beispiele für derartige Sensorik und mögliche Bewertungsansätze, die aus der Literatur herangezogen werden können, werden in Abb. 3 präsentiert.

Abb. 1
figure 1

Kategorisierung von Messsystemen zur Erfassung und Bewertung arbeitsbezogener Belastungen der oberen Extremitäten in Anlehnung an die in der Literatur beschriebenen Klassifizierungen von Messungen physischer Aktivitäten. (Nach [8, 16, 17, 29])

Abb. 2
figure 2

Beispiele für mobile, körpergetragene messtechnische Methoden (Kategorien 1–3) zur Expositionsermittlung der oberen Extremität. Einschätzung bezüglich der erforderlichen Expertise für die Anbringung von Sensoren, der möglichen Anzahl von Probanden, des Zeit‑/Kostenaufwands pro Proband und die Empfehlung bezüglich der Nutzergruppen basieren auf der PEROSH-Klassifikation (Partnership for European Research in Occupational Safety and Health, PEROSH). (Nach [4, 7, 9, 16, 17, 26, 28, 29, 30])

Abb. 3
figure 3

Beispiele für Messtechnik, Ausgabeparameter und zugrundeliegende Bewertungsansätze für Geräte der Messsystemkategorien 1 und 2. (Nach [2, 4, 5, 7, 9, 19,20,21, 26, 27, 30])

Anwendungsszenarien aus der betrieblichen Praxis

Szenario a)

Nach Umstrukturierungen in der Montagelinie treten bei Monteuren von Heckklappenkabelbäumen häufig Beschwerden im Schulterbereich auf. Da die Kabelbäume vorrangig über Schulterniveau montiert werden, entstehen Körperzwangshaltungen und problematische Gelenkbelastungen. Der Ergonomieexperte des Unternehmens wird beauftragt, besonders hohe Schulterbelastungen während der Montage zu identifizieren, um mögliche Verbesserungsmaßnahmen im Arbeitsprozess entwickeln zu können. Da nach der Tätigkeitsbeobachtung und orientierenden Bewertung ungünstige Oberarmhaltungen (z. B. Armhebungen über 60°) als Ursache für die Fehlbelastungen im Bereich der Schulter angenommen werden, eignet sich in diesem Fall zur Quantifizierung der Belastung ein einfaches System der Kategorie 1, wie z. B. der Einsatz eines Smartphones in Kombination mit einer entsprechenden Applikation (Abb. 3, Kategorie 1, Haltung, Oberarm). Die kostengünstige Applikation stellt unabhängig von Arbeitsplätzen und Teiltätigkeiten objektive Parameter bereit, wie z. B. Perzentile von Winkelverteilungen, prozentuale Schichtanteile ungünstiger Armhaltungen oder den Median der Winkelgeschwindigkeit, welche sich nicht genau durch Beobachtungen quantifizieren lassen. Basierend auf den Daten zur kumulativen Dauer von Armhebungen über 60° sowie zur Dauer von ununterbrochenen Armhebungen über 60° während einer typischen Arbeitsschicht lassen sich Belastungsspitzen genauer als durch die Beobachtung von umschriebener Dauer identifizieren. Durch die objektiven Parameter und den Vergleich von Winkeldaten mit empfohlenen Schichtschwellwerten sind Maßnahmen zur Reduktion der durchschnittlichen Winkelgeschwindigkeit denkbar, welche sich durch Beobachtungen nicht objektiv evaluieren lassen. Anhand des Schichtbelastungsprofils können dann gegebenenfalls Maßnahmen zur Reduzierung der Schulterbelastung abgeleitet werden, beispielsweise durch Job- bzw. Arbeitsplatzrotationen.

Szenario b)

In einer großen Filiale im Lebensmitteleinzelhandel berichten die Beschäftigten von Beschwerden im Bereich der Handgelenke und Ellenbogen, vor allem bei Kassiertätigkeiten, weniger jedoch bei dem Auffüllen der Regale mit neuen Waren. Ausgehend von der Tätigkeitsbeobachtung wird vermutet, dass hochfrequente Beugungen der Handgelenke und Ellenbogen sowie Verdrehungen der Unterarme kombiniert mit den Warengewichten bei Tätigkeiten am Kassenband zu typischen Beschwerden und Erkrankungen im erweiterten Lokalisationsbereich (Handgelenk/Ellenbogen) führen können. Um den Belastungsunterschied zwischen beiden Arbeitsplätzen zu quantifizierten, sollen jeweils die Belastungen im Hand-Arm-Bereich durch eine Arbeitsschutzfachkraft verglichen werden. Zur einfachen Handhabung eignet sich beispielsweise ein mit Inertialsensoren bestücktes smart textile aus Kategorie 2 zusätzlich zu einer handelsüblichen Waage für die Erfassung der Warengewichte. Die ermittelten Ergebnisse wie Winkel-Zeitverläufe, Anzahl und Gewichte bewegter Waren und die Bewertung des Ausmaßes der Repetition vor dem Hintergrund von Daten aus der Literatur können genutzt werden, um objektive Belastungsprofile zu erstellen. Diese Ergebnisse können die Basis für fundierte Anpassungen des Kassentisches sein, um ergonomische Tätigkeiten zu ermöglichen.

Szenario c)

In einem Unternehmen, das sich auf Wegebau mit Betonsteinpflaster spezialisiert hat, steht die Geschäftsführung vor der Überlegung, eine neue kostenintensive Maschine anzuschaffen, welche die manuelle Steinsetzung in großen Teilen ersetzen soll. Die Geschäftsführung erhofft sich von der Maschine einen wirtschaftlichen Vorteil aufgrund der Zeitersparnis und der Reduzierung krankheitsbedingter Arbeitsausfälle. Die Beschäftigten hatten häufiger über Beschwerden in mehreren Lokalisationen (Arme, Schultern, Nacken, Rücken, Knie) geklagt. Daher ist in Kooperation mit einer Hochschule ein wissenschaftliches Projekt zum Vergleich des Pflasterns mit und ohne maschinelle Unterstützung geplant. Unter Berücksichtigung des Zeitfaktors sollen für beide Arbeitsweisen die Auswirkungen auf das Muskel-Skelett-System genau quantifiziert werden. Da die erwarteten Effekte auf den Bewegungsablauf komplex sind und den gesamten Körper betreffen, müssen die Genauigkeit und der Detaillierungsgrad der Ausgabeparameter sehr hoch sein. Daher ist für dieses Projekt ein Multisensorsystem der Kategorie 3 mit Oberflächen-EMG und HAV-Erfassungssensorik und mehreren hinterlegten Bewertungsansätzen zur Belastungsbeurteilung bei mehreren Lokalisationen geeignet. Durch die umfangreiche Messtechnik lassen sich komplexe Bewegungen, Haltungen, Kraftaufwendungen und mögliche Belastungen durch maschinenbedingte Schwingungen quantifizieren. Anhand der ermittelten Expositionsdaten beim Pflastern mit und ohne maschinelle Unterstützung lassen sich jeweils Schichtbelastungsprofile erstellen, in welchen beispielsweise Belastungen der Bandscheiben, ungünstige Körperhaltungen und Belastungsspitzen durch Repetitionen und hohe Kräfte enthalten sein können. Der ermittelte Expositionsunterschied soll in Kombination mit der zeitlichen Betrachtung bewertet werden und kann die Grundlage für die Kaufentscheidung liefern.

Diskussion und Ausblick

Die Methodenübersicht und Anwendungsbeispiele im vorliegenden Artikel sollen betrieblichen Praktikern einen aktuellen Einblick in messtechnische Erfassungsmethoden sowie die zur Bewertung der Belastungen herangezogenen möglichen Parameter aus der Literatur ermöglichen. Eine in der Literatur empfohlene Messsystemkategorisierung zur Erfassung und Bewertung physischer Aktivitäten [8, 16, 17, 29] wurde erweitert auf den Bereich der oberen Extremität angewandt. Dieses Vorgehen und die erarbeitete Übersicht bieten eine Orientierung für die Einsatzmöglichkeiten einer messdatenbasierten Gefährdungsbeurteilung arbeitsbezogener physischer Belastungen der oberen Extremität. Die erarbeiteten Empfehlungen im Hinblick auf unterschiedliche Nutzergruppen können darüber hinaus als Hilfestellung dienen, welche Art von Messtechnik für die jeweilige Beurteilungssituation am ehesten geeignet sein könnte.

Mit zunehmender Komplexität der Messsysteme steigen die Anforderungen an die erforderliche Expertise für die Anbringung von Sensoren und die Datenanalyse und somit der Zeit- und Kostenaufwand. Auch der Datenschutz ist bei der Expositionserfassung mit wearable technology einzuhalten. Neben der Weiterentwicklung von Bewertungsverfahren ist auch die Festlegung und Bereitstellung praktikabler kommerzieller Sensorik bzw. entsprechender Messsysteme wünschenswert. In diesem Zusammenhang ist auch die gezielte messtechnische Analyse einzelner Parameter und ausgewählter Lokalisationen denkbar. Durch ein spezifischeres Set-up und einfach zu bedienende Messtechnik wäre zukünftig eine deutliche Reduzierung von Aufwand und Komplexität bei betrieblichen Messungen möglich. Software gestützt sind so auch schnellere und objektive Auswertungen möglich, wobei zielstellungsabhängig die Analysen problemlos erneut durchgeführt oder erweitert werden können. Neben Wissenschaftlern könnten auch betriebliche Praktiker Messdaten erheben. Um mögliche Fehlinterpretationen von Daten und damit verbundene fehlerhafte Gefährdungsbeurteilungen zu vermeiden, wird prinzipiell empfohlen sich über Möglichkeiten und Grenzen der jeweiligen Methode genau zu informieren. Dies gilt allerdings nicht nur für Messverfahren, sondern auch für alle anderen Verfahren der Gefährdungsbeurteilung.

Zur Expositionserfassung und -bewertung sind für die Lokalisationen Hand/Oberarm (Repetition, Haltung), Hand/Unterarm (Kraft, Haltung) und Ellenbogen/Oberarm (Repetition, Kraft, Haltung) bereits kommerziell verfügbare Sensoren mit Ausgabeparametern und Bewertungsansätzen als Grundlage für den Einsatz in der messdatenbasierten Gefährdungsbeurteilung physischer Belastungen vorhanden (Abb. 3). Perspektivisch ist es jedoch empfehlenswert, dass Bewertungsverfahren, die aktuell auf Daten zurückgreifen, die mit nicht kommerziell verfügbarer Sensorik erhoben werden, weiterentwickelt und auf die Verwendung von Messdaten aus der Anwendung kommerziell verfügbarer Sensorik übertragen werden. Walmsley et al. [28] stellen dazu z. B. 13 kommerzielle wearable Sensoren vor, welche sich für eine entsprechende Übertragung eignen. Damit werden beispielsweise für MEGAPHYS entwickelte Bewertungen (z. B. Repetitionsscore (RepScore) [9, 26]) und darauf aufbauende Ansätze (z. B. measurement-based Threshold Limit Value for Hand Activity Level (mTLV for HAL) [26]) für betriebliche Praktiker verfügbar und können die messdatenbasierte Gefährdungsbeurteilung physischer Belastungen unterstützen. Die im Projekt MEGAPHYS entwickelten und validierten Bewertungsverfahren für messtechnische Analysen arbeitsbezogener Muskel-Skelett-Belastungen können als Grundlage für die Bewertung lokalisationsbezogener Belastungen mittels Messsystemen der Kategorien 1–3 genutzt werden. Schnittstellen zu entsprechender kommerzieller Messtechnik werden derzeit am IFA definiert und implementiert, um den Zugang zu der Methodik für betriebliche Praktiker zu erleichtern.

Vor diesem Hintergrund empfiehlt sich die Anpassung des Ebenenmodells der Gefährdungsbeurteilung aus dem Jahr 2010 [11]. Dabei könnten Kategorie-1-Systeme durch eine einfache Handhabung das Spezielle Screening ergänzen. Der Einsatz von Kategorie-2-Systemen könnte durch detaillierte Expositionserfassungen das Niveau des Experten-Screenings erweitern. Einfache messtechnische Verfahren können Untersuchende zukünftig auch auf Screening-Niveau durch objektive Analysen unterstützen und somit einen neuen Standard in der Gefährdungsbeurteilung physischer Belastungen ermöglichen.

Fazit für die Praxis

  • Eine Klassifizierung von kommerzieller und nicht kommerzieller Messtechnik sowie objektiver Bewertungsverfahren steht nun für die messdatenbasierte Gefährdungsbeurteilung physischer Belastungen der oberen Extremität zur Verfügung.

  • Die Zuordnung der messtechnischen Lösungsansätze zu den Kategorien 1 bis 3 erfolgte unter anderem auf Basis von unterschiedlichen Nutzergruppen.

  • Der Einsatz messdatenbasierter Gefährdungsbeurteilungen wird in Ergänzung zum bisherigen Vorgehen empfohlen.

  • Die Weiterentwicklung von Sensorik inklusive Software zur Bewertung der Expositionsdaten ist zu befürworten, um zukünftig betrieblichen Praktikern den Einsatz der messdatenbasierten Gefährdungsbeurteilung bzw. Zugriff auf Messdaten zu ermöglichen.