Zusammenfassung
Die gesundheitlichen Auswirkungen von Schicht- und Nachtarbeit sind Gegenstand vieler wissenschaftlicher Untersuchungen. Das Spektrum möglicher Erkrankungen und Endpunkte, die mit Schicht- und Nachtarbeit assoziiert sind, reicht von chronischen Erkrankungen wie Krebs, Herz-Kreislauf-Erkrankungen über Schlafstörungen, psychische Belastungen bis hin zu Reproduktionsstörungen und Unfällen. Im Juni 2019 stufte die Internationale Krebsagentur (IARC) Nachtarbeit als wahrscheinlich krebserregend ein (Gruppe 2A) und bestätigte damit ihre Einschätzung aus dem Jahr 2007. Die Expertengruppe der IARC weist dabei auf die immer noch sehr heterogenen Studienergebnisse hin. Während der überwiegende Teil der populationsbasierten Fall-Kontroll-Studien positive Assoziationen zwischen Schichtarbeit und Krebserkrankungen zeigte, wurde in vielen Kohorten-Studien keine Assoziation beobachtet. Die Frage, ob erhöhte Krebsrisiken tatsächlich auf Schicht- oder Nachtarbeit zurückgeführt werden können, kann daher zurzeit nicht zweifelsfrei beantwortet werden. Der folgende Beitrag gibt einen Überblick zu offenen Fragen und Aspekten der Schichtarbeitsforschung am Beispiel von Krebserkrankungen und diskutiert die aktuelle arbeitsmedizinische Einschätzung.
Abstract
The health effects of shift and night work have been the subject of many scientific studies. The spectrum of possible diseases and endpoints associated with shift and night work range from chronic diseases, such as cancer and cardiovascular diseases, over sleep disorders and psychological stress up to reproductive disorders and accidents. In June 2019 the International Agency for Research on Cancer (IARC) classified night work as probably carcinogenic to humans (group 2A), thus confirming its previous assessment from 2007. The IARC expert group pointed out the continuing large heterogeneity of the study results. The majority of population-based case-control studies showed positive associations between shift work and cancer, whereas in many cohort studies no such associations were observed. Therefore, the question as to whether increased cancer risks can actually be attributed to shift or night work cannot yet be answered with certainty. This article provides an overview of open questions and aspects of shift work research using the example of cancer and discusses the current implications for occupational health.
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Hintergrund
Etwa viereinhalb Millionen Beschäftigte in Deutschland arbeiteten laut Mikrozensus 2017 in Nachtarbeit [1]. Sie arbeiten vor allem in Berufen mit langen Servicezeiten oder Industrien, in denen Maschinen aus wirtschaftlichen Gründen dauerhaft betrieben werden müssen. Üblich ist Schicht- und Nachtarbeit weiterhin insbesondere in der Versorgung von Patienten und Pflegebedürftigen, zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und im Katastrophenschutz, im Transportwesen, in der Energieversorgung, in der Gastronomie und im Bauwesen. Eine Beschäftigung in Schicht- oder Nachtarbeit stellt für viele eine große Beanspruchung dar. Die Zahl der gesundheitlichen Endpunkte, die im Zusammenhang mit Schichtarbeit wissenschaftlich untersucht wurden – zum Teil bereits seit mehreren Jahrzehnten – und bei denen ein negativer Einfluss durch die Schichtarbeit vermutet wird, ist groß. Unter anderem werden Zusammenhänge mit verschiedenen Krebserkrankungen (insbesondere Brustkrebs, Prostatakrebs und Kolorektalkarzinome), kardiovaskulären Erkrankungen, Diabetes, Schlaf- und Aufmerksamkeitsstörungen sowie psychischen Störungen und Erkrankungen diskutiert. Im Juni 2019 traf sich eine Expertengruppe der Internationalen Krebsagentur (International Agency for Research on Cancer [IARC]) und bewertete die wissenschaftliche Evidenz der Kanzerogenität von Schichtarbeit neu. Während in der vorausgegangenen Bewertung im Jahr 2007 der Schwerpunkt auf „langjähriger Schichtarbeit, die zirkadiane Störungen beinhaltet“ („shift work that involves circadian disruption“) lag, fasste die Expertengruppe nun die wissenschaftliche Evidenz für die Kanzerogenität von „Nachtschicht“ zusammen. Die IARC kam dabei zum selben Ergebnis, sie stufte Nachtarbeit als „wahrscheinlich krebserregend für den Menschen“, Gruppe 2A, ein. Dabei begründen die Autoren ihre Einstufung mit einer ausreichenden wissenschaftlichen Evidenz aus tierexperimentellen Studien und starker Evidenz aus mechanistischen Studien. Die wissenschaftliche Evidenz aus den humanepidemiologischen Studien wird als eingeschränkt eingestuft (vgl. [2] „in sum the working group classified night shift work in group 2A, ‚probably carcinogenic to humans‘, based on limited evidence of cancer in humans, sufficient evidence of cancer in experimental animals, and strong mechanistic evidence in experimental animals“). In der aktuell vorliegenden Bekanntmachung der aktuellen Einschätzung verweist die Autorengruppe auf die große Heterogenität der Originalstudien [2]. Die wesentlichen Probleme für die Einschätzung der Rolle von Schichtarbeit für Krebserkrankungen anhand der aktuellen Literatur sollen im Folgenden am Beispiel Brustkrebs und Prostatakrebs erläutert werden.
Zirkadiane Störungen und Light-at-night-Hypothese
Zirkadiane Störungen sind ein Schlüsselbegriff, wenn es um die Erforschung der Wirkungen von Schichtarbeit geht. Hierunter versteht man Störungen in den biologischen Tagesrhythmen, die durch (Umwelt‑)Faktoren bei Nachtschichten ausgelöst werden [3]. Die sog. Light-at-night-Hypothese (LAN) postuliert eine Erhöhung von Sexualhormonen infolge einer Reduktion der nächtlichen Ausschüttung von Melatonin aufgrund von Licht in der Nacht, die dann das Risiko für hormonsensible Tumoren erhöhen könnte [4]. Aufgrund der vielfältigen Wirkungen von Melatonin auf den Körper ist die LAN eine der Kernhypothesen für einen Zusammenhang zwischen Schichtarbeit und Erkrankungen. So spielt Melatonin in denjenigen biologischen Prozessen eine Rolle, die bei Krebszellen dereguliert sind (den sog. „hallmarks of cancer“, wie z. B. genomische Instabilität, Apoptose oder Entzündungsprozesse). Jedoch können neben der Unterdrückung der nächtlichen Melatoninsekretion durch die Lichteinwirkung in der Nacht auch andere, sowohl direkte als auch indirekte Mechanismen zwischen Schichtarbeit und Krankheitsentstehung eine Rolle spielen. Mögliche Mechanismen sind z. B. Schlafstörungen, verbunden mit Veränderungen der Immunabwehr, Schwierigkeiten, eine gesunde Ernährung einzuhalten, Zigarettenkonsum, Veränderungen der Immunabwehr oder Änderungen im Vitamin-D-Haushalt durch zu geringes Tageslicht [5].
Komplexität der Beschreibung von Nachtarbeit
Die meisten tierexperimentellen und epidemiologischen Studien konzentrierten sich bisher auf die LAN und somit auf den möglichen Einfluss von Nachtarbeit auf das Krebsrisiko. Auch in den USA wurde der Einfluss von Nachtschichtarbeit und Licht auf Grundlage eines Reviews des National Toxicology Programs (NTP) der US-amerikanischen Gesundheitsbehörde diskutiert [6]. Während tierexperimentelle Studien die kanzerogene Wirkung unterschiedlicher Lichtregimes untersuchen können, wurden in den epidemiologischen Studien zu Krebserkrankungen die Assoziationen zwischen unterschiedlichen Merkmalen vorausgegangener Schicht- und Nachtarbeit mit der Zielerkrankung untersucht. Somit gibt es bislang keine Studie, die das Ausmaß zirkadianer Störungen und einen Zusammenhang mit Krebserkrankungen bei Schichtarbeitern prospektiv beobachtet hat. Hierfür wäre eine umfassende Erhebung der zirkadianen Störungen im Zeitverlauf notwendig, die sowohl den Chronotyp, aber auch verschiedene zirkadiane Rhythmen beinhalten würde. Es fehlen weiterhin verlässliche Methoden, diese retrospektiv zu erheben. Epidemiologische Studien fokussierten bisher hauptsächlich auf Nachtarbeit als Beschäftigung, bei der mit dem höchsten Grad an zirkadianer Störung zu rechnen ist. Die Beschreibung von Schicht- oder Nachtarbeit stellt jedoch ein konzeptionelles Problem der bisherigen epidemiologischen Forschung dar. Insbesondere frühere Studien unterschieden sich oft noch im Hinblick auf die Definitionen, was unter Schicht- bzw. Nachtarbeit verstanden wird. Die International Labor Organization (ILO) definiert Nachtarbeit z. B. als Arbeit, die mindestens 7 Arbeitsstunden lang ist und den Zeitraum von Mitternacht bis 5 Uhr morgens umfasst [7]. Im Mikrozensus wird von Nachtarbeit ausgegangen, wenn eine Tätigkeit zwischen 23 und 6 Uhr morgens ausgeübt wird [1]. Diese Diskrepanz spiegelt sich auch in epidemiologischen Untersuchungen wider. So werden in manchen Studien Beschäftigte in Nachtarbeit nur als solche bezeichnet, wenn mindestens 50 % ihrer Tätigkeit in Nachtarbeit stattfindet, während in anderen eine Nachtschicht pro Monat ausreichend ist. Weiterhin ist nicht in allen Studien das Schichtsystem im Sinne von Rotationsrichtung oder regulären/irregulären Schichtsystemen beschrieben. Analysen zum Antwortverhalten bei Mehrfachbefragungen haben jedoch gezeigt, dass der Begriff Nachtarbeit in der Regel intuitiv konsistent verwendet wird [8, 9]. Empfehlungen einer IARC Working Group zur Erfassung von Schicht- und Nachtarbeit in epidemiologischen Studien [10] hatten zur Folge, dass viele neue Studien wichtige Aspekte von Schichtarbeit, die in früheren Untersuchungen fehlten, berücksichtigen. Demnach sollten Studien zu Schichtarbeit neben Fragen zu konkreten Arbeitszeiten den Umfang und die Intensität der Schichtarbeit (insbesondere die Dauer der Schichten), Schichtrotation und Rotationsrichtung, Ruhezeiten und auch Informationen zu Jetlag, Schlaf und Beleuchtung umfassen. Die Beschreibungen von Schichtsystemen haben sich in jüngeren epidemiologischen Studien demnach deutlich verbessert [10]. Jedoch hat der einzelne Studienteilnehmer mit zurückliegender Schichtarbeitshistorie zumeist mehrere Schichtsysteme durchlaufen, die von Früh- bis Nacht-, von vorwärts- und rückwärtsrotierenden Wechselschichten bis Dauerschichten und von regulären bis Split- oder Wochenend-Schichten reichen. Diese individuellen Biographien können mit unterschiedlichen Belastungen einhergehen.
Individuelle Faktoren und Chronotyp
Individuelle Faktoren spielen für eine mögliche Beanspruchung durch Schichtarbeit eine bedeutende Rolle. Neben Alter und Geschlecht wird in neueren Studien auch der individuelle Chronotyp von Beschäftigten berücksichtigt [11]. Der Chronotyp beschreibt, wie die biologische innere Uhr einer Person im Alltag getaktet ist. Man unterscheidet hierbei grob Frühtypen, Intermediärtypen und Spättypen. Frühtypen haben keine Schwierigkeiten, früh aufzustehen, kommen an Werktagen bei untertägigen Arbeitszeiten bezüglich der Schlafzeiten gut zurecht und entwickeln eher ein Schlafdefizit am Wochenende, wenn sich der Schlaf z. B. durch private Aktivitäten am Abend hinauszögert. Idealerweise werden zirkadiane Störungen – also die Abweichung der Arbeits- und Wachzeiten von der inneren Wachzeit – für jede Person in Abhängigkeit vom individuellen Chronotyp bestimmt [12]. Zwar wurde vor einigen Jahren ein Instrument zur Erhebung des Chronotyps bei Beschäftigten im Schichtbetrieb entwickelt, jedoch kann sich der Chronotyp im Verlauf des Lebens ändern [13]. Es liegen bisher keine Verfahren für eine retrospektive Bestimmung vor. In wissenschaftlichen Studien ist es somit schwierig, das Ausmaß einer zirkadianen Störung über Jahre hinweg zu erfassen.
Aktueller Kenntnisstand zu Schichtarbeit und Brustkrebs
Informative und qualitativ hochwertige Studien wurden insbesondere zu Brustkrebs und Prostatakrebs durchgeführt, darunter auch einige wenige mit Probanden aus Deutschland [9, 14,15,16]. In dem Bericht des NTP zur Kanzerogenität von Nachtarbeit und Licht in der Nacht werden über 30 Originalstudien zu Schichtarbeit und Brustkrebs aufgeführt, ergänzt durch eine Reihe von Substudien an den gleichen Studienpopulationen (z. B. zu genetischen Varianten) sowie Metaanalysen und Reviews.
Hier wird darauf hingewiesen, dass das Ausmaß einer zirkadianen Störung in keiner der veröffentlichten Studien direkt gemessen wurde. In den vorliegenden Kohortenstudien erfolgte die Klassifikation einer Exposition gegenüber Schichtarbeit oftmals eher grob als „jemals tätig in Schicht- oder Nachtarbeit“. In den Fall-Kontroll-Studien waren zum Teil detailliertere Analysen möglich, jedoch ist ihre Aussagekraft durch die Möglichkeit eines sog. Recall Bias, also der Verzerrung der Ergebnisse durch fehlerhafte Erinnerung zu zurückliegenden Expositionen, eingeschränkt. Es zeigte sich in den Fall-Kontroll-Studien ein bis zu 50 % erhöhtes Brustkrebsrisiko. Die Risikoschätzer waren in einzelnen Studien höher, wenn nicht der Faktor „Nachtschichten“ sondern explizit „Nachtschichten in Wechselschicht“ oder „permanente Nachtschichten“ untersucht wurden [17]. Jedoch zeigten die Risikoschätzer in diesen Studien aufgrund der kleinen Anzahl exponierter Fälle eine hohe Variabilität mit weiten 95 % Konfidenzintervallen. Kohortenstudien zeigten dagegen insgesamt keine deutliche Tendenz für eine Risikoerhöhung. Zu berücksichtigen ist bei allen Studien auch die Heterogenität der untersuchten Studienpopulationen (Krankenschwestern, Armeeangehörige bzw. populationsbasierte Stichproben mit verschiedenen Berufsgruppen sowie Studien aus verschiedenen Ländern) und die Art der untersuchten Vergleichspersonen. Der überwiegende Teil der bisherigen Studien wurde in den USA und Europa, einige aber auch in Asien durchgeführt.
Merkmale der Schichtarbeitsexposition
Eine weitere Schwierigkeit bei der Beurteilung eines Zusammenhangs zwischen Schichtarbeit und Krebserkrankungen ist, dass die einzelnen Studien keine konsistenten Assoziation mit einem bestimmten Expositionsmaß (z. B. Dauer in Schichtarbeit, Gesamtzahl geleisteter Nachtschichten, Länge der Nachtschichten) gefunden haben. So wurde aufgrund der Ergebnisse einiger älterer Studien zunächst der Verdacht geäußert, dass insbesondere eine dauerhafte Tätigkeit in Nachtschichtarbeit das Risiko für Brustkrebs erhöht. In etwa der Hälfte der vom NTP aufgeführten, qualitativ hochwertigen Studien war das Brustkrebsrisiko durch lange Schichtarbeit (überwiegend für mehr als 15 Jahre) erhöht, jedoch erreichten nicht alle Studien das formale statistische Signifikanzniveau. Einzelne Studien berichteten auch über eine statistisch signifikante Verdopplung des Risikos bei langjähriger Nachtarbeit im Vergleich zu Tagarbeit, jedoch zeigten die Ergebnisse weite Konfidenzintervalle. (Ergebnisse von epidemiologischen Studien werden oftmals als sog. Odds-Ratios oder relative Risiken mit statistischen Vertrauensintervallen angegeben. Liegen diese statistischen Maßzahlen bei 1, so ist das geschätzte Risiko nicht erhöht oder verringert, liegen sie bei 2, so handelt es sich um eine Erhöhung des geschätzten Risikos um 100 %, also einer Verdopplung.) Studien mit deutlichen Risikoerhöhungen über 100 % stehen jedoch auch Untersuchungen hoher Qualität gegenüber, die keine Erhöhung des Brustkrebsrisikos zeigen konnten. Eine Studie (geringer Qualität) berichtete sogar über eine Verringerung des Risikos nach langjähriger Nachtarbeit [6].
Um auf Grundlage einer größeren Studienpopulation genauere Aussagen zu potenziellen Risiken von Schichtarbeit treffen zu können, wurde auf Initiative des IPA eine gepoolte Studie der fünf großen populationsbasierten Fall-Kontroll-Studien zu Brustkrebs durchgeführt [18]. Hier zeigte sich ein um 25 % erhöhtes Brustkrebsrisiko lediglich für prämenopausale Frauen. Für prämenopausale Frauen mit Schichtarbeit in hoher Arbeitsintensität (häufige und lange Nachtschichten) wurden darüber hinaus erhöhte Brustkrebsrisiken oberhalb des Verdopplungsrisikos beobachtet, ohne dass eine Expositions-Wirkungs-Beziehung mit der Dauer der Schichtarbeitstätigkeit konsistent bestätigt werden konnte. Andere Studien, die eine hohe Intensität der Nachtarbeit untersuchten, berichteten ebenfalls deutlich erhöhte Risiken zum Teil auch oberhalb des Verdopplungsrisikos. Aufgrund kleiner Fallzahlen waren die 95 % Konfidenzintervalle der Ergebnisse in diesen Studien sehr weit und häufig auch nicht statistisch signifikant [6].
Nur wenige der bisher durchgeführten Studien berücksichtigten den Chronotyp in der Analyse. Für die Ermittlung des Chronotyps bzw. der zirkadianen Präferenz wurden dabei unterschiedliche Verfahren verwendet. Insbesondere ist problematisch, dass die Zeitpunkte für die Erhebung des Chronotyps, der mit dem Lebensalter stark variiert, unterschiedlich gewählt wurden. Tendenziell zeigten sich dabei höhere Risiken für Frühtypen, was mit der Hypothese einer verstärkten zirkadianen Störung durch Nachtschichten insbesondere bei dieser Gruppe vereinbar wäre.
Schichtarbeit und Prostatakrebs
Mögliche Zusammenhänge zwischen Schicht- bzw. Nachtschichtarbeit und Prostatakrebs wurden in über zehn Originalstudien untersucht. Dabei zeigte sich bei etwa der Hälfte der Studien eine deutliche Risikoerhöhung für eine „Tätigkeit jemals in Nachtschicht“, bei einigen Studien auch oberhalb des Verdopplungsrisikos. Die 95 % Konfidenzintervalle der Ergebnisse waren für diese Studien weit. Größere Studien mit hohen Fallzahlen und präziseren Ergebnissen tendierten dabei zu geringeren Risikoerhöhungen. Bei längerer Schichtarbeitsdauer wurden tendenziell höhere Risikoschätzer beobachtet, jedoch zeigt die Mehrzahl der Studien keine konsistente Dosis-Effekt-Beziehung [6]. Auch für die Entstehung von Prostatakrebs weist die Studienlage eine Tendenz zu einem erhöhten Krebsrisiko auf, insbesondere nach langjähriger Tätigkeit in Nachtschichten. Die Abschätzung von beruflichen Risiken für die Entstehung eines Prostatakarzinoms ist – neben der heterogenen Definition von Schicht- und Nachtarbeit in den einzelnen Studien – vor dem Hintergrund einer möglichen Überdiagnose von Prostatatumoren durch eine Screening-Untersuchung auf das Prostata-spezifische Antigen (PSA) erschwert, die zu einer Verzerrung der Zusammenhänge führen kann [14].
Heterogenität der Ergebnisse aufgrund der Studiendesigns
In Fall-Kontroll-Studien wurden zumeist höhere Risikoschätzungen als in Kohortenstudien beobachtet. Vor allem in den neueren Kohortenstudien wurden keine Assoziationen gesehen. Die Eignung von Kohorten ist aufgrund der großen Zeitspanne zwischen Untersuchung der Endpunkte und Erhebung der Exposition zu Beginn der Kohorten als geringer einzuschätzen. So reicht der Zeitraum des Studienbeginns zum Teil bis in die sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts zurück. Fall-Kontroll-Studien beinhalten hingegen durch die retrospektive Erhebung von Expositionscharakteristika die Gefahr einer Überschätzung aufgrund von Recall Bias und einer verzerrten Kontrollpopulation. Arbeitszeiten und Lebensgewohnheiten, die länger zurückliegen, lassen sich häufig nicht mehr genau nachvollziehen. Die Heterogenität der bisherigen Studien hinsichtlich Art der Studienpopulation, Auswahl der Vergleichspersonen, Detailtiefe der erhobenen Schichtangaben, der unterschiedlichen Adjustierungen sowie der Durchführung in unterschiedlichen Ländern erschwert die übergreifende Interpretation der Ergebnisse. Zudem beobachteten die meisten Studien in Subgruppenanalysen (z. B. nach Dauer in Schichtarbeit) nur wenige exponierte Fälle, sodass die Konfidenzintervalle für diese Risikoschätzer sehr weit sind. Weiterhin ist unklar, wie groß der sog. „healthy worker effect“ bei Schichtarbeitern ist, der dann auftritt, wenn nur gesundheitlich besonders gut ausgerüstete Personen in Schichtarbeit verbleiben [19]. Aus diesen Gründen kann eine zusammenfassende übergreifende Risikoquantifizierung für Beschäftigte in Schicht- und Nachtarbeit auf Basis der aktuellen Ergebnisse nicht zweifelsfrei vorgenommen werden. Eine Übersicht zu den Vor- und Nachteilen verschiedener Studiendesigns ist in Tab. 1 dargestellt.
Schichtarbeit als Berufskrankheit?
In Deutschland gibt es bisher keine anerkannte Berufskrankheit aufgrund gesundheitlicher Folgen einer Tätigkeit in Schicht- oder Nachtarbeit. Nach § 9 Abs. 1 Satz 2 SGB VII kommen als Berufskrankheiten Erkrankungen in Frage, die nach der medizinischen Wissenschaft durch besondere Einwirkungen verursacht sind, denen bestimmte Personengruppen durch ihre Arbeit in erheblich höherem Grade als die übrige Bevölkerung ausgesetzt sind und die dem „vorherrschenden medizinisch-wissenschaftlichen Kenntnisstand“ entsprechen. Für die fallbezogene Beurteilung des ursächlichen Zusammenhangs zwischen schädigender Einwirkung und Erkrankung genügt hierbei eine hinreichende Wahrscheinlichkeit. Eine Überhäufigkeit einer Erkrankung in einer Personengruppe kann in der Regel bei einer Verdoppelung des Erkrankungsrisikos sicher angenommen werden. Ergebnisse von Studien zu Personen in arbeitsbedingtem Schichtbetrieb, die v. a. nach langjähriger Nachtarbeit eine Verdopplung des Brust- oder Prostatakrebsrisikos erreichten, sind aufgrund der geringen Zahl von exponierten Fällen durch weite Konfidenzintervalle gekennzeichnet und somit ist die Datenlage als noch unzureichend einzuschätzen. In Dänemark wird der arbeitsbedingte Zusammenhang von Brustkrebs mit Nachtarbeit anerkannt. Die Beschäftigten wiesen in den entschädigten Fällen zwischen 2007 und 2011 eine Berufsgeschichte von mehr als 20 Jahren Schichtarbeit mit mehr als einmal Nachtarbeit pro Woche auf [20]. Nach neuen Kriterien können dort Fälle mit mindestens 25 Jahren regelmäßiger Nachtschichtarbeit dem Ausschuss für Berufskrankheiten zur Prüfung vorgelegt werden. Ob potenzielle Risiken eher bei einer hohen Intensität von Nachtschichten und bereits in jungen Lebensjahren erhöht sind oder in Abhängigkeit von der Dauer der Beschäftigung an einem Arbeitsplatz mit Nachtschichtarbeit ansteigen, ist gegenwärtig schwer zu beurteilen.
Offene Fragen und aktuelle Aspekte
Schon eine schlichte Suche in der internationalen Literaturdatenbank PubMed über den Zeitraum des letzten Jahres (März 2019 bis März 2020) ergibt zehn neuere epidemiologische Studien zum Zusammenhang zwischen Schichtarbeit bzw. Light-at-night und Brustkrebs sowie zwei zu Prostatakrebs. Dies verdeutlicht, dass diese Themen weiterhin intensiv beforscht werden. Es ist nicht auszuschließen, dass zukünftige Studien mit einer besseren Trennschärfe nach unterschiedlichen Schichtsystemen, individuellen Faktoren und verschiedenen Begleitexpositionen Szenarien aufdecken, die zu einer besonderen Gefährdung beitragen. Aktuell werden (vielfach auch kritisch) Optionen einer Beleuchtung am Arbeitsplatz, die mögliche negative Folgen von nächtlicher Arbeit abmindern könnten, diskutiert. Es fehlen jedoch belastbare Erkenntnisse aus arbeitsmedizinischen Feldstudien [21, 22]. Auch Unterschiede im Hinblick auf berufliche Exposition gegenüber Schadstoffen, Lärm oder Stress zwischen Beschäftigten mit und ohne Schichtarbeit, wie kürzlich in einer australischen Studie beschrieben, könnten eine Rolle spielen [23]. Weiterhin unterscheiden sich Schichtarbeiter möglicherweise im Hinblick auf ihr Gesundheitsverhalten. Das Risiko durch einen frühen Beginn des Rauchens bei Frauen im Hinblick auf die Entstehung von Brustkrebs wurde bei Schichtarbeit bislang kaum untersucht [24]. Auch ein verändertes Gesundheitsverhalten durch seltenere Arztbesuche ist denkbar. Diese könnten zukünftige Ansatzpunkte für die Prävention sowie zum Schutz der Beschäftigten vor den negativen Auswirkungen von Schichtarbeit liefern. Zukünftige Forschung wird all diese Aspekte im Idealfall berücksichtigen. Interventionsstudien mit mittelbaren bzw. beobachtbaren Studienparametern könnten den Weg für verbesserte Schichtsysteme ebnen. Informationsmaterial für Präventionsmaßnahmen und Literaturempfehlungen für unterschiedliche Zielgruppen lassen sich im Internet z. B. auf den Seiten der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (DGUV), Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) oder Initiative Neue Qualität der Arbeit (INQA) finden [25]. Für die betriebsmedizinische Praxis sei neben verschiedenen DGUV-Informationsschriften auf die angekündigte arbeitsmedizinische Leitlinie (AWMF S2k-Leitline Nacht- und Schichtarbeit, Registernummer 002–030) verwiesen, deren Fertigstellung für Juli dieses Jahres geplant ist.
Fazit
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Das Problem der heterogenen Studienlage erschwert eindeutige Schlussfolgerungen hinsichtlich einer beruflichen Verursachung von Krebserkrankungen bei Beschäftigten in Schicht- oder Nachtarbeit.
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Der wissenschaftliche Kenntnisstand zur ursächlichen Rolle von Nachtarbeit bei Krebserkrankung ist nicht zweifelsfrei belegt. Positive Assoziationen zwischen langjähriger Nachtarbeit oder Schichtarbeit mit hoher Intensität (viele Nachtschichten oder viele Stunden mit Nachtschicht pro Woche) und Krebserkrankungen wurden hauptsächlich in Fall-Kontroll-Studien mit detaillierten Expositionsbeschreibungen gefunden.
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Es liegen keine genauen Erkenntnisse vor, ob langjährige Schichtarbeit als schädlich einzuschätzen ist und welche Schichtsysteme mit einer geringen Belastung für den Einzelnen einhergehen. Es ist auch unklar, ob Schichtarbeit in jüngerem/höherem Alter als risikoreicher einzuschätzen ist.
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Rabstein, S., Behrens, T., Pallapies, D. et al. Schichtarbeit und Krebserkrankungen. Zbl Arbeitsmed 70, 249–255 (2020). https://doi.org/10.1007/s40664-020-00398-3
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