Erratum zu:

Zbl Arbeitsmed (2016) 66:92-94

doi: 10.1007/s40664-016-0090-z

Bedauerlicherweise wurde in Ausgabe 2/2016 des Zentralblatts für Arbeitsmedizin, Arbeitsschutz und Ergonomie nicht die überarbeitete Version des Beitrags „Poliomyelitis. Aktuelle Aspekte im arbeitsmedizinischen Kontext“ von Schöffel et al. publiziert.

Wir bitten, dies zu entschuldigen und die aktuelle Version zu beachten.

Definition

Poliomyelitis (PM) ist eine akute virale Infektionskrankheit des zentralen Nervensystems (ZNS) durch das Poliovirus (PV). Die Bezeichnung „Kinderlähmung“ entstand, da häufig Klein- und Schulkinder an der PM-Erkrankte [3, 5].

Epidemiologie

Im 19. und 20. Jahrhundert kam es in den USA sowie Ländern Mittel- und Nordeuropas zu epidemischen Ausbreitungen. Die Inzidenz der PM erreichte 1916 in den Vereinigten Staaten ihren Höhepunkt (41/100.000 Erkrankte/Einwohner) [3, 4]. Durch Einführung der Schutzimpfung konnte die Inzidenz seit 1955 drastisch gesenkt werden. Das 1988 von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) ins Leben gerufene Projekt der globalen Polioeradikation erzielte eine weitere, deutliche Reduktion [3, 4]. Es wird derzeit weltweit von ca. 1500–2000 jährlichen Neuerkrankungen ausgegangen. In Deutschland wurde die letzte, durch einen Wildtypusvirus hervorgerufene PM 1990 registriert [2, 3, 10].

Übertragungsmechanismen

Der enge Kontakt mit einer infizierten Person bildet den primären Infektionsweg. Dabei sind 2 Übertragungsmechanismen möglich [2, 3, 7]:

  1. 1.

    Fäkal-oraler Weg: Aufnahme über den Mund in den Verdauungstrakt über kontaminierte Finger oder Objekte,

  2. 2.

    Aerogene Übertragung: Theoretisch möglich ist auch eine Übertragung aufgrund der primären Vermehrung des PV in den Pharynxepithelien. Diese ist jedoch aus arbeitsmedizinischer Sicht nicht relevant.

Morphologie des Poliovirus

Das PV ist ein Mitglied der Familie der Picornaviren. Das PV ist ein umweltstabiles Virus (hohe Resistenz gegen pH-Schwankungen, niedrige Temperaturen oder Alkohol). Formaldehyd, Temperaturen über 50 °C und UV-Licht führen jedoch zur schnellen Inaktivierung. Das PV besitzt 3 Serotypen (PV1–3), welche alle eine PM hervorrufen können [3, 12, 14].

Zellzyklus

Die Vermehrung des PV findet im Zytoplasma der Wirtszelle statt. Dies wird initiiert durch das Eindringen des Virus in die Wirtszelle und folgender Bindung an einen Rezeptor (CD-155). Nach der zellulären Aufnahme wird die virale RNA freigesetzt und translatiert. Die Replikation der RNA wird durch die virale RNA-Polymerase ermöglicht. Die virale RNA und Strukturproteine werden zu einem Virion zusammengesetzt und nach Lyse der infizierten Zelle freigesetzt [7, 11].

Symptomatik

Die Inkubationszeit beträgt 2–35 Tage. Die meisten Infektionen (> 95 %) verlaufen jedoch asymptomatisch. Bei ca. 5 % der Infizierten manifestiert sich die PM in 3 klinischen Formen: abortive, nichtparalytische und paralytische PM. Die abortive PM kennzeichnet sich durch uncharakteristische Symptome wie Fieber, Übelkeit und Myalgien. Sie heilt in ca. 75 % der Fälle folgenlos aus. In 1–2 % der Fälle entwickelt sich durch Befall des ZNS eine nichtparalytische PM (aseptische Meningitis). Für die nichtparalytische PM bzw. aseptische Meningitis ist die Manifestation von Fieber, Nackensteifigkeit, Rückenschmerzen und Muskelspasmen 3–7 Tage nach Präsenz der abortiven PM charakteristisch. Nach einem oder mehreren Tagen ist ein Übergang vom nichtparalytischen Manifestationsbild zur paralytischen PM möglich. Dies zeigt sich bei ca. 0,1–1 % der Infizierten. Eine Rückbildung der Lähmungen kann in den nächsten Wochen und Monaten erfolgen. Nach mehr als 12 Monaten ist dies jedoch eine Rarität [3, 4, 7].

Post-Polio-Syndrom

Das Post-Polio-Syndrom (PPS) ist eine neurologische Störung, die als Spätkomplikation nach einer paralytischen PM auftritt. Charakteristisch ist eine progrediente Muskelschwäche, die auf den kontinuierlichen Abbau der noch funktionsfähigen Motoneurone zurückgeführt wird [1].

Diagnostik

Bei klinischer Präsentation eines Patienten mit akut einsetzender, schlaffer Muskelparalyse ohne Sensibilitätsausfälle bei abgeschwächten oder nicht vorhandenen Sehnenreflexen kann die Diagnose einer paralytischen PM klinisch gestellt werden. Zur diagnostischen Sicherung der Infektion wird der Erreger mittels Zellkulturen isoliert. Als Materialien hierfür eignen sich eine Stuhlprobe, ein Rachenabstrich oder -spülwasser wie auch eine Liquorprobe. Das PV kann über Antikörpernachweis mittels Komplementbindungsreaktion (KBR), mittels der Polymerase-Kettenreaktion (PCR) und über einen Neutralisationstest (NT) mit Antiseren aus Zellkultur erfolgen [3, 9].

Therapie

Da eine kausale Therapie nicht möglich ist, muss die Behandlung symptomatisch erfolgen. Physiotherapie sowie entsprechende orthopädische Hilfsmittel sind grundlegende Bestandteile der Therapie und Versorgung. Bei Lähmung des Zwerchfalles kann eine Unterstützung der Atmung mit entsprechenden Geräten sowie Tracheotomie notwendig sein [3, 7, 11].

Impfung

Bis zur Entwicklung der Polioimpfung im Jahre 1954 von Jonas Salk erkrankten 500.000–1,2 Mio. Personen pro Jahr an einer PM. Heutzutage stehen zur Prävention 2 Arten von Impfungen zur Verfügung: Ein inaktivierter Impfstoff (IPV), der hauptsächlich in den Industrieländern eingesetzt wird und eine orale Poliovakzine (OPV) mit Lebendimpfstoff, die in Entwicklungsländern Verwendung findet. Das primär entwickelte orale Polio-Vakzin (OPV) mit einem Polio-Lebendimpfstoff ist verantwortlich für sogenannte „Vakzine-assoziierte paralytische Poliomyelitis-Erkrankungen“ (VAPP), die 1‑ bis 2‑mal jährlich durch Rückmutation des Virus beobachtet werden können [4, 6, 8, 10]. Das Auftreten dieser Komplikation veranlasste die STIKO im Jahr 1998 dazu, die OPV nicht mehr zu empfehlen und stattdessen durch die IPV ersetzen zu lassen. Aktuell gelten folgende Empfehlungen der STIKO (Tab. 1; [1315]): Zum Schutz vor der Poliomyelitis sollte ein zu injizierender Impfstoff, inaktivierte Polio-Vakzine (IPV), eingesetzt werden (ggf. als Kombinationsimpfstoff). Im Alter von 9–17 Jahren wird für Jugendliche eine Auffrischimpfung mit einem Impfstoff, der IPV enthält, empfohlen. Eine mit OPV begonnene Grundimmunisierung wird mit IPV komplettiert.

Tab. 1 Standardimpfungen des Erwachsenenalters, Indikations- und Auffrischimpfungen – hier Polio (adaptiert nach [15])

Meldepflicht

Seit dem 01. 01. 2001 ist das Infektionsschutzgesetz (IfSG) gültig. Nach diesem ist bei Verdacht, Erkrankung oder Tod an PM als auch bei indirektem oder direktem Erregernachweis einer akuten Infektion eine namentliche Meldung an das Gesundheitsamt vorzunehmen. Nach einer jeweiligen Überprüfung erfolgt vom Gesundheitsamt eine Übermittlung der Informationen an die zuständige Landesbehörde, welche darauffolgend das Robert Koch-Institut (RKI) informiert [7, 11, 13].

Maßnahmen bei Kontakt

Bei klinischem oder labordiagnostischem Verdacht auf eine PM sind eine unverzügliche Einweisung ins Krankenhaus sowie ein Aufenthalt unter Isolierungsmaßnahmen und rigiden Hygienevorkehrungen anzustreben, solange bis der labordiagnostische Nachweis einer Polioinfektion negativ ausfällt. Im Sinne der Stuhldiagnostik sollte unverzüglich eine Probenabgabe an das RKI und das Nationale Referenzzentrum für Poliomyelitis erfolgen. Erst wenn 2 Kontrolluntersuchungen auf PV im Zeitintervall von einer Woche negativ ausfallen, dürfen Erkrankte bzw. Ausscheider wieder Gemeinschaftseinrichtungen besuchen. Kontaktpersonen sollten umgehend eine IPV verabreicht werden [7, 11, 13].

Arbeitsmedizinische Aspekte

Unter bestimmten Voraussetzungen könnten bestimmte Berufszweige einem hohen Infektionsrisiko ausgesetzt sein [7, 11, 13]:

  1. 1.

    Angestellte in Gemeinschaftseinrichtungen für Emigranten, Flüchtlinge und Asylbewerber aus Gegenden mit PM-Prävalenz,

  2. 2.

    Mitarbeiter aus dem medizinischen Bereich mit Kontakt zu PM-Erkrankten,

  3. 3.

    Mitarbeiter in Laboratorien mit PM-Gefahr.

Besonders die oben genannten Personen sind durch prophylaktische Maßnahmen wie Impfungen oder Einhaltung der Hygienevorschriften vor einer potenziellen Infektion zu schützen. Des Weiteren sollten Aufklärungen bezüglich des Infektionsweges, der Symptomatik und der Prävention bei einer Infektion erfolgen, sodass im Krankheitsfall eine schnelle Umsetzung des nötigen Verfahrensweges erfolgen kann. Für Personen mit einem Infektionsrisiko für PM am Arbeitsplatz sind regelmäßige arbeitsmedizinische Vorsorgen nach der ArbMedVV vorgesehen [3, 7, 11, 13].

Reisemedizinische Aspekte

Die WHO hat aufgrund der internationalen Ausbreitung der Poliomyelitis am 5. Mai 2014 eine „Public Health Emergency of International Concern (PHEIC)“ erklärt, informiert das RKI im Epidemiologischen Bulletin 19/2014. Für Personen, die einen Aufenthalt von mehr als 4 Wochen in einem der betroffenen Länder planen, kann eine vorgezogene Auffrischimpfung gegen Polio sinnvoll sein [16].

Fazit für die Praxis

  • Bei der PM handelt es sich um eine akute virale Infektionskrankheit des ZNS, die durch das PV verursacht wird.

  • Primär wird die Krankheit durch engen Kontakt mit einer infizierten Person übertragen, wobei ein fäkal-oraler oder ein aerogener Übertragungsweg möglich ist.

  • Die Inkubationszeit beträgt 2–35 Tage.

  • In den meisten Fällen verläuft die Infektion asymptomatisch, jedoch kommt es bei 5 % der Patienten zu einer klinischen Symptomatik.

  • Die Behandlung erfolgt symptomatisch mittels Physiotherapie und orthopädischer Hilfsmittel.

  • Die Impfung sollte durch den inaktiven Impfstoff (IPV) bei Kindern im Rahmen der Grundimmunisierung erfolgen.

  • In Entwicklungsländern kommt noch das orale Poliovakzin (OPV) zum Einsatz, das jedoch seit 1998 in Deutschland aufgrund möglicher unerwünschter Ereignisse nicht mehr empfohlen wird.

  • Insbesondere Personen, die einem Infektionsrisiko ausgesetzt sind, sollten über alle Aspekte der PM aufgeklärt werden.