Cyanurchlorid (C3Cl3N3) ist ein weißes kristallines Pulver. Es wird für die Herstellung von Herbiziden benötigt, die in der Landwirtschaft eingesetzt werden. Weitere Verwendung findet es in der Produktion von Textilfarbstoffen und optischen Aufhellern oder der Herstellung von UV-Stabilisatoren für die Plastikindustrie sowie insbesondere für Automobilanwendungen in der Gummiindustrie.

Zurzeit gibt es keinen Arbeitsplatzgrenzwert für die Chemikalie Cyanurchlorid, sodass die Auswirkung einer Cyanurchloridbelastung auf die Gesundheit des Menschen nur eingeschränkt beurteilt werden kann [11]. Gegenstand dieser epidemiologischen Studie ist es zu prüfen, ob in einer Studiengruppe von Mitarbeitern in Cyanurchloridbetrieben der Evonik Industries AG über den Studienzeitraum 1958–2007 nachteilige Einflüsse der Cyanurchloridbelastung insbesondere auf ausgewählte Lungenfunktionsparameter festzustellen sind und hieraus einen Vorschlag für einen Arbeitsplatzgrenzwert (AGW) abzuleiten.

Cyanurchlorid ist in den Fokus der maximale Arbeitsplatzkonzentration(MAK)-Kommission (Senatskommission zur Prüfung gesundheitsschädlicher Arbeitsstoffe der Deutschen Forschungsgemeinschaft) geraten, die regelmäßig auch Stoffe bewertet, für die noch keine MAK festgelegt wurden [21]. Darüber hinaus ist auch eine Einordnung von Cyanurchlorid im Rahmen der REACH-/CLP (Registration, Evaluation, Authorisation and Restriction of Chemicals/Classification, Labelling, Packaging)-Verordnungen in nächster Zukunft zu erwarten [13, 14].

Cyanurchlorid ist ein heterozyklisches Zwischenprodukt und wird im großtechnischen Maßstab hergestellt. Cyanurchlorid eignet sich zur Herstellung vieler Produkte. Durch die Möglichkeit der selektiven Substitution der 3 Chloratome sowie durch die große Stabilität des Triazinrings können mit Cyanurchlorid als Zwischenprodukt z. B. Herbizide, Reaktivfarbstoffe, optische Aufheller und Additive für Polymere hergestellt werden. Cyanurchlorid ist an trockener Luft über den Siedepunkt hinaus beständig, sein chemisches Reaktionsverhalten entspricht etwa dem von Säurechloriden. Bei Kontakt mit Wasser kommt es zur Hydrolyse und Salzsäure (HCI(aq)-Bildung. Es ist eine farblose, kristalline Substanz mit der Molmasse 184 und einem Schmelzpunkt von 146 °C (Siedepunkt bei 194 °C). Cyanurchlorid wird in einer Reinheit von mindestens 99 % hergestellt. Die technische Herstellung von Cyanurchlorid ist in OECD SIDS (Organisation for Economic Co-operation and Development, Screening Information Data Sets) beschrieben [44].

Im Gegensatz zu anderen toxikologisch und epidemiologisch erforschten Stoffen liegen zu Cyanurchlorid keine für die Ableitung eines Grenzwerts belastbaren Tierstudien und auch keine umfangreichen Längsschnitt- bzw. Querschnittstudien am Menschen vor. In Beobachtungsstudien am Menschen wurden Reizwirkungen an Haut, Augen und Atemtrakt beschrieben und nach wiederholten Expositionen allergische Kontaktdermatiden [12, 29, 30, 39]. Allerdings ergeben diese epidemiologischen Arbeiten keine belastbaren Aussagen zu Dosis-Wirkungs-Beziehungen. Arbeitsmedizinisch sind Vorsorgeuntersuchungen nach G23 der berufsgenossenschaftlichen Grundsätze für cyanurchloridexponierte Arbeitnehmer vorgesehen [6].

Eine Grenzwertdiskussion kann derzeit im Wesentlichen nur auf Basis einer nicht voll belastbaren tierexperimentellen Studie geführt werden [10, 27, 28]. Andere subchronische oder chronische Inhalationsstudien liegen nicht vor [44]. Die tierexperimentelle Arbeit des Nofer Instituts in Lodz, Polen, beschreibt eine 90-Tage-Inhalationsstudie an Wistar-Ratten mit Cyanurchloridexpositionen von 0,01, 0,05, 0,25 mg/m3 sowie einer Kontrolle mit Umgebungsluft [27, 28]. Die Autoren beschreiben insbesondere eine erhöhte Infektionsneigung bei Belastungen oberhalb von 0,05 mg/m3, was nach SIDS einen entsprechenden Grenzwert begründen könnte [44]. Allerdings handelt es sich um einen unpublizierten Forschungsbericht. Der Report der OECD merkt an, dass die Studie nicht nach guten Forschungspraxis (GLP, Good Laboratory Practice)-Bedingungen durchgeführt wurde [44] und die beschriebenen viralen Effekte sowohl in den exponierten Tieren als auch in den Kontrollen auftraten. Das Auftreten von Infekten unter den Kontrolltieren mindert die Belastbarkeit der Untersuchung erheblich, da die experimentellen Bedingungen somit vermutlich nicht den üblichen Standards entsprochen haben.

Da Cyanurchlorid aufgrund der hohen akuten inhalativen Toxizität nach Gefahrstoffverordnung mit T + (sehr giftig) bzw. entsprechend nach GHS (global harmonisiertes System, „globally harmonized system“) mit Kategorie 2 und H 330 (Lebensgefahr beim Einatmen) gekennzeichnet werden muss [16], wird die Festlegung eines Arbeitsplatzgrenzwerts (AGW) zunehmend wichtiger.

Zur Erarbeitung eines Vorschlags für einen AGW wurden im Rahmen dieser Studie vorhandene arbeitsmedizinische und Expositionsdaten zusammengestellt und aufbereitet. Zur epidemiologischen Zusammenhangsanalyse wird in Teil 2 berichtet [41].

Material und Methoden

Kohorte

Diese Untersuchung wurde als retrospektive Kohortenstudie angelegt. Die Studiengruppe besteht aus Mitarbeitern dreier cyanurchloridherstellender Werke der Evonik Industries AG (Antwerpen, Münchsmünster und Wesseling). Der Studienbeginn ist definiert als Produktionsbeginn des jeweiligen Werks. In Wesseling wird seit 1958 Cyanurchlorid produziert, in Münchsmünster erfolgte die Produktion im Zeitraum von 1977 bis 2009. In Münchsmünster handelt es sich um eine Freianlage, die sich in ihren Gegebenheiten – insbesondere im Hinblick auf die Exposition – von den in geschlossener Bauweise errichteten Anlagen in Antwerpen und Wesseling unterscheidet. In Antwerpen wurde von 1970 bis zur Schließung der Anlage Ende 2007 Cyanurchlorid produziert. Die Studiengruppe umfasst zwei Kategorien von Studienteilnehmern. Studienteilnehmer, die bis Ende 2007 in einem der drei Werke aktiv tätig waren, werden im Folgenden als aktive Studienteilnehmer bezeichnet. Studienteilnehmer, die vor Beginn der Studie ausgeschieden sind, aber in dem Zeitraum von Produktionsbeginn bis Studienbeginn in einem der drei Werke tätig waren, werden als historische Studienteilnehmer bezeichnet. Die Rekrutierung sowohl der aktiven als auch der historischen Mitarbeiter erfolgte durch Auswertung aller verfügbaren Personaldaten in den Personalabteilungen der Werke (z. B. aktuelle Personalakten oder Betriebstagebücher für die historischen Mitarbeiter).

Angestrebt wurde die Erfassung aller aktiven, männlichen Mitarbeiter Ende 2007 und aller ehemaligen, männlichen Mitarbeiter der Werke Antwerpen und Münchsmünster. Diese Kollektive stellen somit Berufsanfängerkohorten dar. Für das Werk Wesseling musste der Rekrutierungszeitraum der ehemaligen männlichen Mitarbeiter auf die Periode 1974–2007 eingeschränkt werden, da keine Personalakten für den Zeitraum vor 1974 zur Verfügung standen. Dieses Kollektiv ergibt sich somit als Mischung aus einer Querschnitts- und einer Anfängerkohorte.

Das Studienkollektiv wurde weiter eingeschränkt auf männliche Studienteilnehmer, die in Summe länger als 12 Monate in einem Cyanurchloridbetrieb tätig waren. Das Follow-up der Studienteilnehmer lief bis Ende des Jahres 2007. Zu Beginn des Jahres 2008 wurden noch abschließende medizinische Untersuchungen nachgeholt. Das Studienende wird unabhängig davon im Folgenden als das Ende des Jahres 2007 berichtet.

Cyanurchloridbelastung

Die Höhe der Cyanurchloridbelastung ist in allen drei Werken orts-, zeit- und tätigkeitsabhängig. Grundsätzlich wird zwischen maskenpflichtigen und nichtmaskenpflichtigen Bereichen unterschieden. In den maskenpflichtigen Bereichen werden Vollmasken getragen. Im Rahmen einer Versuchsreihe wurden verschiedene alte und aktuelle Masken getestet. Es zeigte sich, dass die Cyanurchloridbelastung für einen Mitarbeiter unter Vollmaske immer unterhalb der Nachweisgrenze von Cyanurchlorid lag [35]. Der Bereich der Cyanurchloridabfüllung wurde in den Werken Antwerpen im Jahr 2004 und in Münchsmünster 1992 von maskenpflichtig auf nichtmaskenpflichtig umgestellt. Damit bestand in Antwerpen über die letzten 3 Jahre vor Studienende keine Maskenpflicht, in Münchsmünster wurden dagegen bereits über die letzten 15 Jahre vor dem Studienende keine Masken getragen.

Zur Abschätzung der Expositionshöhe standen Messprotokolle zu ortsbezogenen Messungen an verschiedenen Messorten und zu personengetragenen Messungen bei der Durchführung der unterschiedlichen Tätigkeiten zur Verfügung. Für diese Studie wurden zur Bestimmung des Cyanurchloridgehalts nur Messwerte berücksichtigt, die photometrisch (Messmethode „pH“) ermittelt, über Silicagelröhrchen nach NIOSH (National Institute for Occupational Safety and Health, Messmethode „NIOSH“) gemessen oder über einen Probenahmekopf GGP (Gesamtstaub-Gas-Probenahme) nach BIA (Berufsgenossenschaftliches Institut für Arbeitsschutz, Messmethode „BIA_GGP_3040“) erhoben wurden. Bei der Messmethode „pH“ handelt es sich um eine ältere Messmethode für gasförmiges Cyanurchlorid, die zwischen 1979 und 1987 in Wesseling zum Einsatz kam. Es wurden nur ortsbezogene Messungen durchgeführt. Der Cyanurchloridgehalt wurde spektralphotometrisch nach Impinger-Probenahme in einer Absorptionslösung bestimmt [42]. Mit der Messmethode „NIOSH“ für gasförmiges Cyanurchlorid wurden sowohl ortsbezogene als auch personengetragene Messungen in allen Werken in den Jahren 1992 bis 2005 durchgeführt. Die Probenahme erfolgte durch Adsorption auf Silicagel-Röhrchen [33]. Bei der Messmethode „BIA_GGP_3040“ handelt es sich um eine kombinierte Staub- und Gasprobenahme, die in allen Werken zwischen 2005 und 2007 sowohl für ortsbezogene als auch für personengetragene Messungen zum Einsatz kam. Mithilfe einer Probenahmepumpe wird ein definiertes Luftvolumen über einen BIA-Probenahmekopf GGP gesaugt [1]. Die Analyse des Cyanurchloridgehalts einer Probe erfolgte per Hochleistungsflüssigkeitschromatographie (HPLC-Methode, „high-performance liquid chromatography“, [43]), spektralphotometrisch [42] oder per Fourier-Transform-Infrarotspektrometer (FTIR)-Spektroskopie [3]. Zusätzlich berücksichtigt wurde der Messwert aus einer Staubmessung, deren Glasfaserfilter auf Cyanurchlorid untersuchte wurde. Da zu diesem Zeitpunkt die Messmethode „NIOSH“ das gängige Messverfahren war, wurde dieser unterhalb der Nachweisgrenze liegende Messwert dieser Messmethode zugeordnet.

Die Messdaten der verschiedenen Werke wurden einheitlich aufbereitet und in einem Teildatenkörper Messdaten zusammengefasst. Zur Behandlung von Messwerten unterhalb der Nachweisgrenzen und bei Verwendung einer Schutzmaske siehe Abschn. Aufbereitung der Cyanurchloridmessdaten.

Rotationen

Durch Rotation zwischen verschiedenen – andere chemikalienproduzierenden – Bereichen war ein großer Teil der Studienteilnehmer nur in begrenzten Zeitabschnitten einer Cyanurchloridbelastung ausgesetzt. In den Werken Antwerpen und Wesseling wurde zwischen den Produktionsbereichen für Cyanurchlorid und für Salzsäure (HCl(aq)) rotiert, während im Werk Münchsmünster eine Rotation zwischen den Produktionsbereichen für Kalziumchlorid (CaCl2), Natriumdicyanamid (C2N3Na, NDC), Acetoncyanhydrin (C4H7NO, ACH) und Cyanwasserstoff (HCN) stattfand. In der NDC-Anlage sind die Mitarbeiter exponiert gegenüber NDC-Staub (Cyanamid, CH2N2, und Chlorcyan, CClN), Methanol (CH4O) und Chlormethan (CH3Cl). Eine HCl(aq)-Rotation gab es im Werk Münchsmünster nicht, stattdessen wurde HCl(aq) als Koexposition für 117 von 120 Studienteilnehmern im Werk Münchsmünster ermittelt. Diese Chemikalien wurden nach Expertenurteil (Koautor Ulrich Küpper) entsprechend ihrer erwarteten Auswirkung auf die Lungenfunktion in zwei Gruppen geordnet. Die erste Gruppe besteht aus HCN, ACH und den in der NDC-Anlage vorhandenen Expositionen. Hier sind keine Lungenfunktionsveränderungen beschrieben und somit keine Auswirkungen auf die Lungenfunktion zu erwarten. Diese Gruppe wurde daher nicht als Confounder betrachtet. Die zweite Gruppe bilden die Chemikalien CaCl2 und HCl(aq). Sie haben eine starke Reizwirkung auf die Atemwege und könnten (bei entsprechender Exposition) ebenso wie Cyanurchlorid zu Veränderungen der Lungenfunktion führen, sodass diese Belastungen als potenzieller Confounder eingestuft wurden.

Entwicklung einer JEM

Voraussetzung für die Entwicklung einer homogenen JEM [23]ist die Erstellung eines werksübergreifend anwendbaren Tätigkeitsprofils für alle exponierten Mitarbeiter. Hierzu wurden Jobkategorien harmonisiert und Messorte und Tätigkeiten soweit möglich unter einheitlichen Bezeichnungen zusammengefasst. Über Expertenschätzungen erfolgte anschließend die Aufteilung der Jobkategorien in prozentuale Zeitanteile für Messorte und Tätigkeiten. Es wurden vier Jobkategorien, zehn Messorte und sechs Tätigkeitsprofile zur Bildung von Expositionsgruppen ungefähr gleicher Tätigkeit, gleicher Expositionsart und -belastung (SEG, „similar exposure group“) auch unter Berücksichtigung des Einsatzes von Schutzmasken definiert. Tab. 1 stellt die Verteilung der Jobkategorien pro SEG und Messort dar.

Tab. 1 Verteilung der Jobkategorien pro SEG und Messort

Damit konnten die Konzentrationshöhen von Cyanurchlorid aus dem Teildatenkörper Messdaten an die entsprechenden Jobkategorien und damit an die relevanten SEGs und Messorte angebunden werden. Der so erstellte Teildatenkörper JEM beschreibt die Expositionsbelastung durch Cyanurchlorid in Abhängigkeit von der betreffenden Jobkategorie und den darüber zugeordneten vergleichbaren SEGs und Messorten.

Durch Rotation zwischen verschiedenen – andere chemikalienproduzierenden – Betrieben waren Studienteilnehmer nur in begrenzten Zeitabschnitten einer Cyanurchloridbelastung ausgesetzt, was bei der JEM-Entwicklung berücksichtigt wurde.

Erfassung personenbezogener Daten unter Einhaltung der Datenschutzkriterien

Alle im Rahmen dieser Studie relevanten personenbezogenen Daten wurden über eine speziell zu diesem Zweck entwickelte Software erfasst, der sog. Health Study Application (HSA). In dieser Software wird eine sog. Pseudonymisierungsliste geführt, auf die nur der Datenschutzbeauftragte als Vertrauensstelle für diese Studie Zugriff hatte. Sie enthält eine Pseudonymisierungs-ID (PID) und die dazugehörigen Personenidentifikationsmerkmale. Ein entsprechendes Berechtigungskonzept stellt sicher, dass nur das mit der Erhebung vor Ort befasste Personal die Personenidentifikationsmerkmale sieht und hierzu Daten erfasst. Ein Zugriff besteht ausschließlich auf die Datenbestände, die in der eigenen Verantwortung liegen. Die Daten werden über die Anwendung verschlüsselt gespeichert und zur epidemiologischen Auswertung über die PID pseudonymisiert aus der Software als Teildatenkörper HSA exportiert. Die Software beinhaltet einen Rückmeldeprozess für die Abstimmung von Fehlern bzw. Unstimmigkeiten bei der Datenerfassung zwischen Erfassern und Epidemiologen bzw. dem Datenmanagement, sodass Rückfragen zu offenen Daten unterbunden waren.

Erfassung der Tätigkeiten

Zur Erstellung der Tätigkeitsprofile der Studienteilnehmer wurden sowohl aus den Personalakten der Personalabteilung als auch aus den medizinischen Akten des arbeitsmedizinischen Dienstes alle Tätigkeiten eines aktiven bzw. historischen Studienteilnehmers erfasst. Hierbei wurden die Personalakten der Personalabteilung per Definition als führendes System betrachtet, das bei fehlenden Einträgen um Daten aus der arbeitsmedizinischen Akte (sofern dort vorhanden) ergänzt wurde. Dokumentiert wurden Beginn und Ende einer Tätigkeit mit entsprechendem Beginn- bzw. Enddatum, Tätigkeitsart und Betrieb, in dem die Tätigkeit ausgeführt wurde, sowie eventuell vorhandene Vorbelastungen der Studienteilnehmer, die in den aktuellen Personalakten der aktiven Studienteilnehmer bzw. in den Personalakten oder Betriebstagebüchern der historischen Studienteilnehmer erfasst waren. Die Tätigkeiten wurden so detailliert erhoben, dass sie eindeutig den SEGs zugeordnet werden konnten. Die in den Personalakten oder Betriebstagebüchern dokumentierten Vorbelastungen der Studienteilnehmer vor Beginn einer Beschäftigung in einem Cyanurchloridbetrieb, die auf eine Belastung der Lunge als Zielorgan hinweisen könnten wie Arbeiten in der Chemiebranche, als Maurer, Schlosser, Schreiner, Maler oder in einem Bergbaubetrieb, wurden gemäß der internationalen Standardklassifikation der Wirtschaftszweige (ISIC, International Standard Industrial Classification) kategorisiert [26].

Eine Erfassung von Tätigkeiten der Studienteilnehmer nach Ausscheiden aus dem Betrieb entfällt, da in dieser Studie medizinische Endpunkte analysiert wurden, die während der Tätigkeit im Cyanurchloridbetrieb erhoben wurden (z. B. Lungenfunktionsdaten). Das Follow-up dieser Studie endet vor oder bei Verlassen des Cyanurchloridbetriebs.

Erfassung der medizinischen Daten und Kovariablen

Die zentrale Zielgröße dieser Studie war die Lungenfunktion. Zur Erhebung der medizinischen Befunde wurden neben Daten zur Lungenfunktion auch Alter, Herkunftsland, biometrische Grunddaten wie Körpergewicht und Körpergröße aufgezeichnet. Das Rauchverhalten wurde durch Angabe von Raucherstatus (Nie-Raucher, Ex-Raucher, aktiver Raucher), Rauchmenge (Stückzahl pro Tag), Rauchdauer (in Jahren), Rauchbeginn und Rauchende (jeweils Datum) zeitabhängig dokumentiert.

Folgende Lungenfunktions-Parameter wurden in dieser Studie betrachtet:

  • FVC bzw. bei glockenspirometrischen Messungen der VC: Die forcierte Vitalkapazität ist definiert als Volumendifferenz zwischen maximaler Ein- und Ausatmung [50].

  • FEV1: Die absolute Einsekundenkapazität – auch Atemstoß oder forcierte Einsekundenkapazität – bezeichnet das Atemvolumen, welches der Proband bei der forcierten Ausatmung innerhalb der ersten Sekunde auszuatmen vermag [50].

  • Relative Einsekundenkapazität (Tiffenau-Wert): berechnet als Quotient aus FEV1 und FVC (FEV1%FVC, [50]).

Während im Werk Antwerpen pro Lungenfunktionsuntersuchung nur das jeweils beste Ergebnis aus drei Lungenfunktionsmessungen dokumentiert wurde, standen für die Werke Münchsmünster und Wesseling alle bei einer Untersuchung durchgeführten Lungenfunktionsmessungen zur Verfügung. In allen Werken wurden die Lungenfunktionsparameter entsprechend den Kriterien nach Goldstandard erhoben [18, 19].

Zum externen Vergleich wurden die Lungenfunktionssollwerte nach Quanjer et al. herangezogen [46]. Als weitere Referenzwerte berechneten wir die Lungenfunktionssollwerte nach der globalen Lungeninitiative (GLI, Global Lungs Initiative) mit einem „Excel sheet calculator“, der auf der Internetseite der GLI zur Verfügung gestellt wurde [17].

Im Studienzeitraum 1958–2007 wurden insgesamt 4 verschiedene Lungenfunktionsmesssysteme für die Ermittlung der Lungenfunktionsparameter eingesetzt (Glockenspirometer [4], Vitalograph [52, 54], CustoVit [45, 51], Bodyplethysmographie [15, 51]).

Um potenzielle Verzerrungen in der Analyse zu minimieren, wurde der Einsatz der verschiedenen Lungenfunktionsmessgeräte zeit- und personenabhängig festgehalten.

Aus Anlass der Studie fand für die aktiven Studienteilnehmer eine zusätzliche medizinische Untersuchung statt, in der neben einer weiteren Lungenfunktionsuntersuchung für 130 Studienteilnehmer zusätzlich eine Blutuntersuchung zur Bestimmung von Sensibilisierungsparametern durchgeführt wurde und 157 Studienteilnehmer einen Fragebogen zu Atemwegserkrankungen und Rauchgewohnheiten ausfüllten.

Alle aktiven Mitarbeiter wurden über den Zweck der Untersuchung aufgeklärt. Die Teilnahme war freiwillig. Alle Teilnehmer haben der Untersuchung und der Auswertung der Daten in Form einer Einverständniserklärung schriftlich zugestimmt.

Aus den Fragebogenangaben wurden Indikatoren für Atemwegserkrankungen abgeleitet. Bestimmt wurden: das Vorliegen von Atemnot (Kurzatmigkeit), das Vorliegen von Asthma [38, 55], das Vorliegen von chronischer Bronchitis (Husten mit Auswurf über mindestens 3 Monate während der letzten beiden Jahre, [54]) und in Kombination mit Lungenfunktionsmesswerten das Vorliegen verschiedener Grade der COPD [18, 19]. Aus den Fragebogenantworten wurde der Asthmaindikator gebildet: Der Asthmaindikator wurde auf Ja gesetzt, wenn entweder ohne Vorliegen einer Erkältung ein manchmal keuchendes bzw. pfeifendes Atemgeräusch angegeben wurde (1) oder bereits ein Asthmaanfall vorlag (2). Auch wenn Asthma bereits von einem Arzt diagnostiziert wurde und eine medizinische Behandlung des Asthmas erfolgt ist (3), wurde der Indikator auf Ja gesetzt. Der Asthma-Indikator wurde auf Nein gesetzt, wenn (1), (2) und (3) mit Nein beantwortet wurden. Chronische Bronchitis (CB) wurde wie folgt operationalisiert: Der CB-Indikator wurde auf Ja gesetzt, wenn ein dauerhafter Husten mit begleitendem Auswurf seit mehr als 3 aufeinanderfolgenden Monaten angegeben wurde (1) und diese Symptome seit mehr als 2 Jahren anhielten (2). Der CB-Indikator wurde auf Nein gesetzt, wenn (1) oder (2) mit Nein beantwortet wurden. Die Grade der COPD wurden definiert wie in Tab. 2 beschrieben.

Tab. 2 Definition von respiratorischen Symptomen und Erkrankungen. (Nach [18, 19, 38, 54, 55])

Als Sensibilisierungsparameter wurden im Blutserum das Gesamt-Immungobulin-E (IgE) und das spezifische IgE bestimmt [31, 32]. Die Serumproben wurden eingefroren und dem akkreditierten Labor der Currenta GmbH & Co. OHG (ehemals: Bayer Industry Services GmbH & Co. OHG) unter der Leitung von Prof. G. Leng zur Analyse zugestellt [47]. Als Nachweisgrenzen des Verfahrens (Fluoreszenz-Enzym-Immunoassay, FEIA) gelten für Gesamt-IgE 0,2 kU/l bzw. für spezifisches IgE 0,1 kU/l; als Referenzgrenzen des Normalbereichs gelten 300 bzw. 0,35 kU/l [24, 25]. Messwerte unterhalb der Nachweisgrenze wurden auf den halben Wert der jeweiligen Nachweisgrenze gesetzt.

Datenaufbereitung

Aufbereitung der Cyanurchlorid-Messdaten

Für Cyanurchlorid waren für alle 3 Werke insgesamt 196 Messungen dokumentiert. Messungen mit nicht klar definierten bzw. dokumentierten Messmethoden und Messumständen wurden verworfen. Es standen insgesamt 188 verwertbare Messwerte (Antwerpen: n = 52, Münchsmünster: n = 31, Wesseling: n = 105) für die Messdatenmodellierung zur Verfügung.

Für diese Studie wurde in den maskenpflichtigen Bereichen aller Werke ein Maskenwert angesetzt, der in einem Gasmaskentest aus Anlass dieser Studie unter Anwendung der Messmethode „NIOSH“ als Belastungswert hinter der Schutzmaske ermittelt wurde [35]. In den Werksbereichen, in denen das Tragen einer Vollgesichtsfiltermaske vorgeschrieben ist, war zu Beginn der Studie unklar, welcher Cyanurchloridexposition ein Studienteilnehmer hinter dem Maskenfilter der Vollgesichtsfiltermaske ausgesetzt ist. Ziel des von Kunz und Groß [35] beschriebenen Gasmaskentests war eine praxisnahe Ermittlung der Expositionskonzentration hinter dem Maskenfilter einer Vollgesichtsmaske für die in den Betrieben über die jeweilige Betriebslaufzeit verwendeten Masken und Maskenfilter. Ein wesentliches Ergebnis des Gasmaskentests war, dass hinter dem Maskenfilter keine Cyanurchloridkonzentrationen oberhalb der Verfahrensnachweisgrenze von 0,003 mg/m3 zu messen waren. Für alle Werke und alle relevanten Filtertypen wurde aus diesem Grund ein Maskenwert von 0,003 mg/m3 festgelegt. Von den 188 Messwerten wurden somit die in den maskenpflichtigen Bereichen gemessenen Werte nicht berücksichtigt, sondern stattdessen der Maskenwert angesetzt (n = 64). Durch Rückfragen in den Werken (Betriebsleitung, Arbeitsschutz, Arbeitsmedizin, Betriebsrat, Mitarbeiter) wurde sichergestellt, dass von den Mitarbeitern in den maskenpflichtigen Bereichen immer Gasmasken getragen wurden. Dies wird aufgrund der Reizwirkung des Cyanurchlorids auf die Schleimhäute schon im eigenen Interesse von den Mitarbeitern beachtet. Es war auch das besondere Interesse des Betriebsrats, alle Mitarbeiter vor den unangenehmen und potenziell gesundheitsgefährdenden Expositionen zu schützen. Über eine Standardprozedur überprüft der Mitarbeiter die Dichtigkeit der Maske vor dem Einsatz in einem maskenpflichtigen Bereich. Eine Undichtigkeit würde recht schnell bemerkt und zu einem Austausch der Gasmaske führen.

Für Messwerte in nichtmaskenpflichtigen Bereichen und oberhalb der jeweiligen Nachweisgrenze (n = 67) wurden Umrechnungsfaktoren für die Normierung von Messmethode („BIA_GGP_3040“, „pH“, „NIOSH“) und Messart (personenbezogen, ortsbezogen) mithilfe multipler linearer Regressionsmodelle ermittelt. Der Logarithmus der Messwerte oberhalb der Nachweisgrenze wurde hierzu in Abhängigkeit von Messmethode und Messart sowie der Kombination aus Werk-Messort-SEG gefittet (ggf. mit Mehrfachzuordnung der Messwerte zu SEGs). Die Berücksichtigung der Kombination Werk-Messort-SEG als Kovariable adjustiert die geschätzten Umrechnungsfaktoren für Unterschiede in dieser Kombination. Das Modell wurde im Sinne einer Sensitivitätsanalyse zudem a) exakt auf die Messdaten (keine Mehrfachzuordnung) beschränkt und b) um das Messjahr als Kovariable erweitert, um für zeitliche Unterschiede zu adjustieren.

Der interne Vergleich der Messdaten zur Normierung der Messmethoden auf „NIOSH“ ergab einen Faktor von 3 für die Umrechnung der Messmethode „BIA_GGP_3040“ nach „NIOSH“ und einen Faktor von 0,8 für die Umrechnung der Messmethode „pH“ nach „NIOSH“. Für die Normierung der Messart auf personengetragen ergab der interne Vergleich der Messdaten einen Umrechnungsfaktor von 1; hier ergab die Analyse also, dass bei der Entwicklung der Expositionsschätzer nicht zwischen personen- und ortsbezogenen Messungen unterschieden werden muss. Bis auf die Umrechnung der Messmethode von „pH“ nach „NIOSH“ erwiesen sich die Umrechnungsfaktoren als relativ stabil. Die ältere Messmethode „pH“ kam nur in Wesseling in den Jahren 1979–1987 zum Einsatz, wodurch eine werksübergreifende Adjustierung nicht möglich war. Zudem gab es keine zeitliche Überlappung der Messmethoden „pH“ und „NIOSH“, da „NIOSH“ frühestens ab 1992 verwendet wurde. Dies erklärt die Unsicherheit der Schätzung dieses Umrechnungsfaktors. In einem internen Ringversuch der Evonik Industries AG wurde allerdings ebenfalls ein Umrechnungsfaktor von „pH“ nach „NIOSH“ von ca. 0,8 ermittelt [42], der daher den auf Basis der Messdaten mit den Regressionsmodellen geschätzten Umrechnungsfaktor stützt. Deshalb wurden beide Umrechnungsfaktoren („BIA_GGP_3040“ nach „NIOSH“: Faktor = 3, „pH“ nach „NIOSH“: Faktor = 0,8) in den weiteren Abschätzungen der Expositionshöhen verwendet. Abb. 1 gibt einen Überblick zur Messdatenabdeckung und Messmethode über die Betriebslaufzeiten der 3 Werke.

Abb. 1
figure 1

Messdatenabdeckung und Messmethoden

Für Messwerte in nichtmaskenpflichtigen Bereichen und unterhalb der Nachweisgrenze (n = 57) wurden drei verschiedene Imputationsverfahren verwendet. Die Messwerte wurden a) auf den Wert der Nachweisgrenze (MWG = NWG/1) gesetzt (Verfahren „nwg1“) und alternativ b) auf die halbe Nachweisgrenze NWG/2 (Verfahren „nwg2“) bzw. c) auf NWG/√2 (Verfahren „nwgsqr2“). Zu diesen Varianten des Umgangs mit Messwerten unterhalb einer Nachweisgrenze siehe die Ausführungen von Hornung und Reed [22].

Da der Umfang der Messwerte beschränkt war, nicht alle Zeiten gleichmäßig mit Messungen überdeckt und auch nicht immer dieselben Messverfahren eingesetzt wurden, haben wir die Expositionen unter variierenden Annahmen mehrfach eingeschätzt, um die innewohnenden Unsicherheiten abzubilden. In diesen multiplen Expositionsschätzungen wurden alle Messwerte oberhalb und unterhalb der Nachweisgrenze berücksichtigt, die nicht durch den Maskenwert überschrieben wurden.

Die Häufigkeitsverteilung der Messwerte zu einer interessierenden Kombination (z. B. Werk-Messort-SEG) kann in verschiedener Weise durch Statistiken zusammengefasst werden. Oft wird allein auf den Mittelwert oder allein auf den Median der Messwerte verdichtet. Allerdings könnten die Ergebnisse der Studie davon abhängen, welche Statistik zur Zusammenfassung der Messwerte verwendet wird. Deshalb wurde in dieser Studie sowohl der arithmetische Mittelwert als auch alternativ der Median (p50 = 50. Perzentil) zur Verdichtung verwendet. Um die Unsicherheit der Messwerte vollständiger in den Auswertungen abbilden zu können, wurden zudem die 2. und 4. Quartile (p25 = 25. Perzentil, p75 = 75. Perzentil) der Häufigkeitsverteilungen als Stützstellen verwendet.

Insgesamt ergaben sich damit für die multiplen Expositionsschätzungen 2×3×4 = 24 Varianten zur Ermittlung der Cyanurchloridexposition in dieser Studie (Tab. 3). Eine parallele Durchführung der epidemiologischen Analysen zu diesen 24 Varianten der Expositionsschätzung erlaubt zu beurteilen, ob die Ergebnisse relevant davon abhängen, welche Schätzung verwendet wird. Eine solche Sensitivitätsanalyse gibt also Einblick, ob die Messwerte zu unsicher sind, um eine robuste Schlussfolgerung zu erlauben.

Tab. 3 Varianten der multiplen Expositionsschätzung

Imputation der Belastungshöhen gegenüber Cyanurchlorid bei fehlenden Daten

Epidemiologische Studien zu Themen aus der Arbeitswelt leiden häufig unter einer unzureichenden Expositionsabschätzung [7].

Eine geringe Anzahl an, wie in dieser Studie, verwertbaren Messdaten generiert eine unvollständige Datenmatrix, in der die vorhandenen Messwerte nicht ausreichen, um die Expositionsbelastung der Mitarbeiter tätigkeitsabhängig über den gesamten Studienzeitraum zu beschreiben [48]. Üblicherweise sinken die Konzentrationen an den Arbeitsplätzen in ausgeprägter Weise mit der Zeit [8]. Eine geringe und auf einen aktuelleren Zeitraum beschränkte Messdatenabdeckung kann daher zu einer Missklassifikation in der Expositionsschätzung führen, wenn die Expositionsbewertung allein auf die vorhandenen Konzentrationsmesswerte gestützt wird [34]. Daraus resultieren potenziell verzerrte Risikoschätzungen in der epidemiologischen Analyse [9]. In einer solchen Situation ist es somit nicht angemessen, Expositionsschätzungen allein auf die im Wesentlichen aktuelleren Messwerte der Konzentrationen zu stützen [7, 36]. Wesentliche epidemiologische Projekte [5, 2, 49], die eine zentrale Rolle in der nationalen und internationalen Karzinogenitätseinstufung von beruflicher Formaldehydexposition oder von Belastungen mit Dieselmotoremissionen einnehmen, folgten dieser methodischen Vorgabe.

Um die oben beschriebenen Schwächen auszugleichen, wurde unter Berücksichtigung der zusammen mit Experten entwickelten Jobkategorien und SEGs [23] versucht, Expositionsschätzungen vorzunehmen, die bis zum Produktionsbeginn der einzelnen Werke zurückreichen, und in die sowohl die vorliegenden Messwerte als auch Erfahrungen der Experten zur historischen Entwicklung der Produktions- und Belastungssituation eingehen [20].

In Bereichen ohne Messdateninformationen wurde zunächst versucht, die Messdatenhistorie über Expertenwissen abzubilden und hierdurch die Lücken zwischen den vorhandenen Messwerten aufzufüllen. Während in Antwerpen und Wesseling zu allen Messorten mindestens ein Messwert vorlag, gab es in Münchsmünster nur Messungen zu dem Messort Abfüllung ohne Maske. Für alle anderen Messorte in Münchsmünster wurden die Modellschätzer für Antwerpen und Wesseling unter zusätzlicher Berücksichtigung von Expertenwissen imputiert.

Für die Modellierung der fehlenden Messdaten wurde in Abstimmung mit den Experten Geruchsschwelle bzw. Maskenpflichtschwelle für Cyanurchlorid herangezogen. Der Geruchsschwellenwert wurde im Mittel mit 0,0385 mg/m3 (min. = 0,007, max. = 0,07) angesetzt [37]. Als Maskenpflichtschwellenwert wurde ein interner Erfahrungswert von Betrieben der Evonik Industries AG angesetzt, der dem Doppelten des Geruchsschwellenwerts entspricht und damit im Mittel 0,077 mg/m3 beträgt (min. = 0,014, max. = 0,14).

Insbesondere zu Produktionsbeginn lagen für alle Werke keine Messdaten vor, sodass hier die Konzentrationsdaten rückwärts extrapoliert wurden. Diese Rückwärtsextrapolation wurde an den im Wesentlichen aktuelleren Messdaten verankert, wobei mehrere solcher Ausgangspunkte zur Abbildung der Unsicherheit der Messdatenlage angesetzt wurden.

Zur Veranschaulichung einer solchen Rückwärtsextrapolation mithilfe von Regressionsrechnungen und unter Berücksichtigung von Expertenwissen wird das Beispiel eines Produktionsmitarbeiters im Werk Wesseling im Bereich der nicht maskenpflichtigen Anlage gewählt. Insgesamt lagen 27 verwertbare Messungen aus folgenden Jahren vor: 1979 (n = 1, MW = 0,0120), 1980 (n = 8, MW = 0,0199), 1986 (n = 12, MW = 0,0044), 1995 (n = 3, MW = 0,0003) und 2005 (n = 3, MW = 0,0087). Die Expositionsschätzungen wurden auf diese 5 Mittelwerte der Konzentration pro Kalenderjahr gegründet. Mit den Messungen aus 1995 und 2005 wurde ein Endniveau ab 1991 geschätzt (MW = 0,0045). Davon rückwärts ausgehend wurde durch die Jahresmittelwerte vor 1995 eine log-lineare Regression gelegt. Abb. 2 a zeigt die Jahresmittelwerte der Messungen, das Endniveau und den Verlauf der mit einem log-linearen Regressionsmodell in die Vergangenheit extrapolierten Messdaten. Diese Auswertung der Messdaten belegt beispielhaft den auch von den Experten grundsätzlich berichteten ausgeprägten Rückgang der Cyanurchloridkonzentrationen mit der Zeit. Der Fit der Ausgleichskurve erscheint hinreichend gut, um diese Funktion zur Imputation fehlender Daten zu verwenden. Die Extrapolation dieser log-linearen Kurve führte aber zu einem unrealistisch hohen rückwärtigen Anstieg der Belastung bis zum Beginn der Produktion. Daher wurde auf Basis des Expertenwissens eine konstante Deckelung des rückwärtigen Anstiegs mit dem Geruchsschwellenwert bei 0,0385 mg/m3 vorgenommen. Die Beschreibung der historischen Situation durch die Experten belegte, dass auch in frühen Zeiten an diesem Arbeitsplatz die Geruchsschwelle nicht überschritten wurde. Das Resultat war ein plausiblerer Verlauf der Belastungshöhe gegenüber Cyanurchlorid über den gesamten Produktionszeitraum (Abb. 2 b). Alle Auswertungen stützen sich auf kumulierte Expositionsmaße, die bis hin zur Erhebung der medizinischen Endpunkte integriert werden, sodass Knickpunkte oder unstetige Entwicklungen in der Konzentrationsschätzung über der Zeit tolerabel sind.

Abb. 2
figure 2

Rückwärtsextrapolation der Belastungshöhen gegenüber Cyanurchlorid. a Verlauf der Expositionsschätzung mit einem unrealistisch hohen rückwärtigen Anstieg bis zum Beginn der Produktion auf Basis der log-linearen Regression mit konstantem Endniveau (Kreise) zu 5 Jahresmittelwerten der Messungen (Rauten). b Konstante Deckelung des Anstiegs aus der log-linearen Regression mit dem Geruchsschwellenwert auf Basis des Expertenwissens. Konstantes Endniveau ab 1992. Mittelwerte der Messungen als Rauten dargestellt. Durchschnittskonzentration in mg/m3 zur Leitexpositionsschätzung (mw_nwg2_umr) am Beispiel des Anlagenfahrers (Jobkategorie: Produktionsmitarbeiter) in der Messwarte des Werks Wesseling

Neben diesem log-linearen Modellansatz wurden in anderen Messort/SEG-Kombinationen nach Expertenurteil und Datenlage Stufenmodelle, Modelle mit linearer Extrapolation oder Modelle mit Imputation von Mittelwerten anderer Werke für die Rückwärtsextrapolation gewählt (vollständige Dokumentation dieser Vorgehensweise und der zur Verankerung benutzten Messdatenanalyse beim Verfasser).

Aufbereitung der personenbezogenen Daten

Aus dem Teildatenkörper HSA wurden sowohl die Arbeitsgeschichten aus der Personalabteilung als auch die Daten aus den arbeitsmedizinischen Untersuchungen aufbereitet. Die erfassten individuellen Tätigkeiten wurden entsprechend der harmonisierten Jobkategorien des Teildatenkörpers JEM den vier definierten Jobkategorien zeitabhängig zugewiesen. Somit wurde für jede Person ein Tätigkeitsverlauf, beschrieben in den 4 Jobkategorien, erstellt. Die angegebenen Vorbelastungen wurden nach ISIC [26] verdichtet und in Vorbelastungsdauern umgerechnet.

Die aus den arbeitsmedizinischen Untersuchungen gewonnenen Daten wurden Plausibilitätsprüfungen unterzogen, um z. B. Größe und Gewicht der Studienteilnehmer auf Ausreißer zu prüfen: Abweichungen wurden zur Überprüfung durch den Eingebenden gekennzeichnet und nach Überprüfung der Originaldokumente ggf. korrigiert. Bei der Überprüfung der Rauchangaben wurden die Zeitangaben zueinander in Beziehung gesetzt und so auf Plausibilität geprüft (z. B. Alter des Studienteilnehmers zu Rauchdauer, Rauchbeginn zu Rauchende etc.).

Für eine einheitliche Darstellung des Rauchverhaltens als Voraussetzung für eine vergleichende Auswertung der Rauchangaben wurden Pack years berechnet. Dabei werden die Rauchmengen einer Person berechnet als Zigarettenpackungen pro Tag, multipliziert mit der Zahl der Raucherjahre (bei einer Annahme von 20 Zigaretten/Packung). Die Anzahl der Pack years wird bis zum letzten Datensatz eines Studienteilnehmers kumuliert. Bei fehlenden Angaben für Rauchmenge bzw. Rauchdauer wurde – soweit möglich – eine Vervollständigung der Daten auf Basis der vorhandenen Angaben durch Imputation der aus allen Rauchangaben errechneten Mittelwerte durchgeführt.

Aus den pro Person und Untersuchungsdatum ermittelten Lungenfunktionsparametern FVC und VC wurde zur Vorbereitung der weiteren Analysen der Maximalwert VCmax=max (VC, FVC) ermittelt. Die Lungenfunktionsparameter VCmax, FEV1 und der Tiffeneau-Wert FEV1%FVC wurden zudem in Prozent vom EU-Sollwert berechnet, der von Geschlecht, Alter und Körpergröße abhängt [47]. Um eine Verzerrung der Ergebnisse durch verschiedene Messgeräte bewerten zu können, wurden die in dieser Studie verwendeten Lungenfunktionsmessgeräte zeitabhängig in die 4 Messgerätegruppen Glockenspirometer, Vitalograph, CustoVit und Bodyplethysmograph, unterteilt.

Vorbereitung der Zusammenhangsanalyse

Die beiden Teildatenkörper JEM und HSA wurden über die Jobkategorie zu einem finalen Auswertungsdatensatz auf Monatsebene zusammengeführt. Über die entwickelte Job-Exposure-Matrix konnten allen Studienteilnehmern SEG und Messort und damit die entsprechende Cyanurchloridbelastung in Form von Konzentration und Dauer sowie die Rotationsdauern für Tätigkeiten außerhalb der Cyanurchloridanlage zugewiesen werden. Als nächstes wurde ein finaler Auswertungsdatensatz auf Jahresebene gebildet, der für alle Studienteilnehmer die durchschnittliche Cyanurchloridkonzentration (1), die pro Jahr kumulierte Cyanurchloridexpositionsdauer (2) und die kumulierte Cyanurchloridexposition [Produkt aus (1) und (2)] enthielt. Die Berechnungen erfolgten jeweils bis einschließlich des Kalenderjahres der letzten medizinischen Untersuchung des Studienteilnehmers.

Da in Münchsmünster eine Kollinearität zwischen CaCl2 und NDC bzw. CaCl2 und ACH vorlag, wurden die Kovariablen reduziert. NDC und ACH wurden nicht weiter betrachtet, denn eine Berücksichtigung des potenziellen Confounders CaCl2 im Regressionsmodell adjustiert aufgrund der Kollinearität gleichzeitig für ein Confounding durch NDC und ACH. In den Werken Antwerpen und Wesseling fand nur eine Rotation mit der HCl(aq)-Anlage statt; diese Variable wurde ebenfalls zur Confounderadjustierung mitgeführt. Um den Umfang der Rotationen besser in den Auswertungen berücksichtigen zu können, werden diese Koexpositionen nicht als Indikatorvariablen aufgebaut, sondern es wurden die kumulierten Dauern der Rotationen ermittelt. In den Regressionsmodellen werden somit die Rotationsdauern für die Chemikalien CaCl2, HCN und HCl(aq) und die HCl(aq)-Koexposition als Kovariablen zur Confounderadjustierung mitgeführt.

Ergebnisse

Kohorte

Der Gesamtumfang der Studiengruppe betrug zunächst 427 Studienteilnehmer, für die über die HSA-Software Arbeitsgeschichten und medizinische Daten erfasst wurden. Nachträglich ausgeschlossen wurden Personen ohne medizinische Akte (n = 14), ohne Cyanurchloridbelastung (n = 5) und Personen, die insgesamt weniger als ein Jahr in Cyanurchloridbetrieben tätig waren (n = 14). Das finale Studienkollektiv umfasste 394 Studienteilnehmer, die sich weitgehend gleichmäßig (120/130/144) auf die Werke verteilten. Insgesamt wurden 10.661 Datensätze erhoben, davon 2989 Datensätze zu medizinischen Angaben und 7672 Datensätze zu den Tätigkeiten der Studienteilnehmer.

Die Studienteilnehmer waren überwiegend Deutsche (n = 234) und Westeuropäer (n = 138). Die restlichen Studienteilnehmer (n = 22) wurden aufgrund der geringen Anzahl zu einer Gruppe zusammengefasst. Von den 394 Studienteilnehmern waren 221 zum Zeitpunkt der Studie noch aktiv in einem Cyanurchloridbetrieb tätig, während 173 vor Beginn der Studie den Cyanurchloridbetrieb verlassen hatten. Bei der letzten medizinischen Untersuchung lag das durchschnittliche Alter der Studienteilnehmer bei 47,5 Jahren (SD = 10,3 Jahre). Der jüngste Studienteilnehmer war 21 und der älteste 63 Jahre alt: 9 Männer waren jünger als 25 Jahre.

Exposition gegenüber Cyanurchlorid

Personenbezogene Cyanurchloridkonzentrationen wurden in 24 Versionen aus der eingeschränkten, im Wesentlichen aktuelleren Messdatenbasis geschätzt und durch Extrapolation aufgrund von Expertenschätzungen in die Vergangenheit verlängert. Im Folgenden wird zu einer typischen Schätzung im Sinne einer Leitexpositionsschätzung berichtet: Anwendung a) des Mittelwertes als Stützstatistik, b) der Umrechnungsfaktoren zwischen den Messverfahren und c) der Imputation der halben Nachweisgrenze bei Messwerten unterhalb der Nachweisgrenze (kurz: mw_nwg2_umr, Tab. 3).

Die personenbezogene Durchschnittskonzentration der Cyanurchloridexposition betrug über alle Jahre im Mittel 0,019 mg/m3 (min. = 0,003, max. = 0,044) bei einer Expositionsdauer von im Mittel 11,3 Jahren (min. = 0,58, max. = 34). Die kumulierte Gesamtexposition lag im Mittel bei 0,217 mg/m3-Jahre (min. = 0,005, max. = 0,941). Der Mittelwert der Cyanurchloridkonzentration pro Expositionsjahr betrug 0,020 mg/m3 (min. = 0,003, max. = 0,051). Tab. 4 gibt einen Überblick über die Expositionsvariablen im Querschnitt zum Zeitpunkt der letzten arbeitsmedizinischen Untersuchung für die einzelnen Werke und insgesamt.

Tab. 4 Cyanurchloridbelastung für jedes Werk und gesamt (Leitexpositionsschätzung)

Seit 2008 wird nur im Werk Wesseling weiterhin Cyanurchlorid produziert. Um eine realistische Einschätzung der aktuellen Cyanurchloridexposition vornehmen zu können, wurden in Tab. 5 die dort ab 2000 gemessenen Expositionen aufgeteilt nach Jobkategorien dargestellt. In Klammern sind zusätzlich Expositionsschätzungen über alle Untersuchungsjahre, die insgesamt in die Studie für Wesseling eingegangen sind, angegeben. Ein Vergleich zeigt eine tendenziell niedrigere Belastung ab 2000.

Tab. 5 Cyanurchloridbelastung (Leitexpositionsschätzung) für das Werk Wesseling ab 2000 und für alle Untersuchungsjahre der Studie (in Klammern)

Abb. 3 stellt den Verlauf der geschätzten Cyanurchloridkonzentration pro Kalenderjahr für das Werk Wesseling über alle Untersuchungsjahre dar. In der Abbildung trennen sich die Verläufe für unterschiedliche Tätigkeitsgruppen. Dargestellt sind zur Beschreibung der mittleren Konzentrationsentwicklung im Kollektiv auch eine Gerade (lineare Regression) und eine nicht-parametrisch glättende Verlaufskurve (LOWESS-Regression, „locally weighted scatterplot smoothing“), die sich allerdings nur unbedeutend voneinander unterscheiden.

Abb. 3
figure 3

Mittlere Cyanurchloridkonzentration pro Expositionsjahr in mg/m3 für das Werk Wesseling mit linearer Regression und LOWESS-Regression über der Kalenderzeit (130 exponierte Personen, 2212 Personen-Jahre, Mittelwert = 0,015 mg/m3, SD = 0,010 mg/m3, min. = 0,006 mg/m3, max. = 0,032 mg/m3)

Vorbelastungen

Die Vorbelastungen der Studienteilnehmer wurden vor Beginn einer Beschäftigung in einem Cyanurchloridbetrieb, die auf eine Belastung der Lunge als Zielorgan hinweisen könnten, erfasst und mittels ISIC verdichtet [26].

Während in Antwerpen keine dokumentierten Vorbelastungen außerhalb des Chemiebereichs vorlagen, waren in Münchsmünster und Wesseling Informationen zu weiteren Vorbelastungen vorhanden, wobei hier der größte Anteil aller Vorbelastungen auf den Chemiebereich entfiel. Insgesamt 233 von 394 Personen gaben an, vor der Aufnahme ihrer Tätigkeit in dem Cyanurchloridbetrieb in einem anderen Bereich der Chemieindustrie gearbeitet zu haben. Auch wenn berücksichtigt wird, dass für Studienteilnehmer aus Antwerpen ausschließlich Vorbelastungsangaben aus dem Bereich Chemie vorlagen, trat die Angabe Chemie mehr als doppelt so häufig auf wie alle weiteren angegebenen Vorbelastungen.

Rauchverhalten

Angaben zum Rauchverhalten lagen für insgesamt 387 Studienteilnehmer vor (Antwerpen 144, Münchsmünster 113, Wesseling 130). Von den 397 Studienteilnehmern waren bei mindestens einer Untersuchung 160 aktive Raucher (Antwerpen 44, Münchsmünster 52, Wesseling 64), 78 Ex-Raucher (Antwerpen 16, Münchsmünster 30, Wesseling 32) und 149 waren Nie-Raucher (Antwerpen 84, Münchsmünster 31, Wesseling 34). Der Mittelwert für die zum Zeitpunkt der letzten Lungenfunktionsuntersuchung aufgelaufenen Pack years lag für die Gruppe der aktiven Raucher bei 18,94 (SD = 14,93) und für die Gruppe der Ex-Raucher bei 19,41 (SD = 18,37). In Antwerpen gab es somit einen im Vergleich zu den anderen Standorten hohen Anteil an Nie-Rauchern (58 %). Dieses in Abhängigkeit von den Werken deutlich unterschiedliche Rauchverhalten zeigte sich auch in den ähnlich variierenden Pack years-Angaben, d. h. der Ausprägung des Rauchens unter den Rauchern. Für aktive Raucher (Ex-Raucher) ergaben sich folgende mittlere Werte: Antwerpen 15,2 (13,9), Münchsmünster 19,5 (17,4), Wesseling 21,2 (24,0).

Respiratorische Symptome und Erkrankungen

157 Studienteilnehmer haben über den Fragebogen zu Atemwegserkrankungen und Rauchgewohnheiten Angaben zu Atemnot, Asthma, chronischer Bronchitis bzw. zu COPD abgegeben. Atemnot (n = 5 Fälle) und die COPD-Stufen Ib (n = 1), IIb (n = 0), IIc (n = 0), IIIa (n = 8), IIIb (n = 0), IVa (n = 1), IVb (n = 0) wurden relativ selten oder gar nicht genannt. Lediglich bei Asthma (n = 33), chronischer Bronchitis (n = 14) und den COPD-Stufen Ia (n = 38) und IIa (n = 26) lagen ausreichende Fallzahlen vor, die weitergehende Analysen im Querschnitt indizieren. Während Angaben zu Asthma und chronischer Bronchitis nur im Querschnitt verfügbar waren, konnten die aus den Lungenfunktionsmessungen ermittelten COPD-Stufen Ia und IIa sowohl im Querschnitt als auch im Längsschnitt dargestellt werden. Eine positive Einstufung in die COPD-Stufen Ia und IIa erfolgte für 391 Personen im Längsschnitt. Die COPD-Stufe Ia lag bei 74 Personen vor. Von der COPD-Stufe IIa waren 53 Personen betroffen.

Sensibilisierungsparameter

Für 130 Studienteilnehmer lagen immunserologische Untersuchungen zur Bestimmung einer allgemeinen Sensibilisierung (Gesamt-IgE) und einer Sensibilisierung gegenüber Cyanurchlorid (spezifischer IgE) vor. Bei den insgesamt 130 Werten für den spezifischen IgE gab es 22 Werte (16,9 %) oberhalb der Nachweisgrenze von 0,1 kU/l. Alle Werte unterhalb der NWG wurden für weitere Analysen auf den halben Wert der NWG gesetzt. Bei den Gesamt-IgE-Werten dagegen lagen alle 130 gemessenen Werte (100 %) oberhalb der NWG von 0,2 kU/l.

Es erfolgte eine Kategorisierung der Sensibilisierungsparameter mit Bezug auf den entsprechenden Referenzwert, der für den spezifischen IgE-Wert bei 0,35 kU/l und für den IgE-Wert bei 300 kU/l liegt. Bei insgesamt 15 von 130 Werten (11,5 %) lag der spezifische IgE-Wert oberhalb des Referenzwerts. Bei dem Gesamt-IgE-Wert lagen 11 von 130 (8,5 %) oberhalb des Referenzwerts. Der Anteil an auffälligen Werten des spezifischen IgE und des Gesamt-IgE lag in Münchmünster mit 17,1 % (12 von 70) bzw. 14,3 % (10 von 70) deutlich höher als in Antwerpen (4,3 bzw. 0 %, von 23) und Wesseling (5,4 bzw. 2,7 %, von 37).

Der spezifische IgE-Wert betrug im Mittel über alle Werke 1,13 kU/l (SD = 4,57, min. = 0,05, max. = 34). In Antwerpen betrug z. B. der Mittelwert 0,40 kU/l, in Münchsmünster dagegen 1,88 kU/l und in Wesseling 0,19 kU/l. Der Gesamt-IgE-Wert betrug im Mittel über alle Werke 123 kU/l (SD = 230, min. = 2, max. = 2009). In Antwerpen betrug z. B. der Mittelwert 73 kU/l, in Münchsmünster dagegen 161 kU/l und in Wesseling 82 kU/l. In den stetigen Auswertungen wiederholt sich somit der Befund der höheren Werte in Münchsmünster.

Lungenfunktion

Für alle Studienteilnehmer lagen Angaben zu Lungenfunktionsparametern vor. Für 393 von 394 Studienteilnehmern waren Angaben zur FVC, für 1 Studienteilnehmer waren nur Angaben zur VC vorhanden. Im Durchschnitt standen für jeden Studienteilnehmer 7,39 FVC-Untersuchungen (min. = 1; max. = 19) zur Verfügung. Der FVC%Sollwert(Quanjer) betrug bei der ersten Lungenfunktionsuntersuchung jedes Studienteilnehmers in der Studiengruppe im Mittel 102,7 % (s = 14,2 %). Der Mittelwert der FVC%Sollwert(Quanjer) bei der letzten Untersuchung jedes Studienteilnehmers im Datensatz lag bei 103,4 %. (SD = 15,4 %). Die Werte der FVC%Sollwert(Quanjer) bei der letzten Untersuchung stellten sich als annähernd normal verteilt dar. Die zusätzlich verwendeten Referenzwerte nach GLI ergaben einen Mittelwert der FVC%Sollwert(GLI) bei der ersten Untersuchung von 95,7 % (SD = 12,9 %) bzw. bei der letzen Untersuchung von 95,8 % (SD = 14,1 %). Für 391 Studienteilnehmer waren Angaben zur FEV1 vorhanden. Die durchschnittliche Anzahl verfügbarer FEV1-Messungen belief sich auf n = 7,42 Werte pro Person (min. = 1; max. = 19). Der Mittelwert der FEV1%Sollwert(Quanjer) zur ersten Untersuchung je Studienteilnehmer betrug 99,1 % (SD = 15,4 %). Der Mittelwert der FEV1%Sollwert(Quanjer) bei der letzten Untersuchung jedes Studienteilnehmers lag bei 99,4 % (SD = 18,3 %). Die GLI-Referenzwerte FEV1%Sollwert(GLI) betrugen im Mittel bei der ersten Untersuchung 94,4 % (SD = 14,4 %) und bei der letzten Untersuchung 93,9 % (SD  = 17,2 %). Die Verteilung der Messwerte bei der letzten Untersuchung ist, wie bei der FVC, ebenfalls als annähernd normal anzusehen.

Angaben zur FEV1%FVC waren für 391 Studienteilnehmer vorhanden. Die Angaben zur FEV1%FVC lagen nur für Untersuchungen vor, bei denen beide Parameter mit dem gleichen Lungenfunktionsmesssystem in der gleichen Untersuchung bestimmt wurden. Es standen im Mittel n = 7,42 Angaben (min. = 1; max. = 19) je Studienteilnehmer für die Auswertung zur Verfügung. Bei der ersten Untersuchung des Studienteilnehmers betrug der Mittelwert für die FEV1%FVC%Sollwert(Quanjer) 99,2 % (SD = 10,4 %). Die Verteilung der Werte zur ersten Untersuchung ist ähnlich wie die für die FVC und FEV1. Der Mittelwert der FEV1%FVC%Sollwert(Quanjer) bei der letzten Untersuchung je Studienteilnehmer errechnete sich zu 98,8 % (SD = 12,2 %) und war damit minimal geringer als bei der ersten Untersuchung. Die GLI-Referenzwerte FEV1%FVC%Sollwert(GLI) betrugen im Mittel bei der ersten Untersuchung 98,2 % (SD  = 9,9 %) und bei der letzten Untersuchung 97,6 % (SD = 11,9 %).

Abb. 4 zeigt die Verteilung der FEV1-Werte bezogen auf die EU-Sollwerte nach Quanjer et al. [46] für das gesamte Kollektiv und für die 3 Teilkollektive Antwerpen, Münchsmünster und Wesseling. Dargestellt sind die Werte am Ende des Studienzeitraums, also nach individuell höchster kumulierter Exposition gegenüber Cyanurchlorid.

Abb. 4
figure 4

Verteilung des Lungenfunktionsparameters FEV1 bezogen auf Quanjer-Sollwerte in % bei Studienende, getrennt nach Werken und gesamt

Die Entwicklung der Lungenfunktionsparameter über die Zeit ist in Abb. 5 dargestellt. Die Abbildung ergibt keine fallenden Werte.

Abb. 5
figure 5

Lungenfunktionsmesswerte bezogen auf Quanjer-Sollwerte in % über der Kalenderzeit für alle Werke. Jahresmittelwerte der VC (390 Studienteilnehmer; 3031 Untersuchungen), FVC (393; 2956) und FEV1 (391; 2953)

Diskussion und Zusammenfassung

Für eine Studiengruppe von 394 Männern, die zwischen 1958 und 2007 in cyanurchloridproduzierenden Betrieben tätig waren, wurden medizinische Daten, Tätigkeiten und Expositionen erfasst und verarbeitet. Es handelt sich um eine retrospektive Kohortenstudie, die – nach Möglichkeit – alle aktiven und ehemaligen Mitarbeiter der drei Cyanurchloridbetriebe Antwerpen, Münchsmünster und Wesseling umfasst. Das Studienkollektiv wurde beschränkt auf männliche Mitarbeiter, die mindestens ein Jahr im Cyanurchloridbetrieb tätig waren. Im Rahmen einer Längsschnittuntersuchung wurden medizinische Daten und Tätigkeitsprofile der Studienteilnehmer sowie die Expositionsdaten von Produktionsbeginn bis zum Studienende 2007 erfasst.

Die Datenerhebung fand unter Einhaltung der Datenschutzkriterien zur Erfassung personenbezogener Daten über eine unter diesem Aspekt entwickelte Software statt. Zur Erfassung der medizinischen Daten wurden die im arbeitsmedizinischen Dienst des jeweiligen Betriebs vorliegenden medizinischen Akten für alle aktiven und historischen Studienteilnehmer herangezogen. Erfasst wurden alle arbeitsmedizinischen Untersuchungen mit Lungenfunktionsprüfung. Dies eröffnet die Möglichkeit, über einen langen Zeitraum die Auswirkungen der Cyanurchloridbelastung auf die Lungenfunktion von Mitarbeitern in Cyanurchloridbetrieben zu untersuchen. Neben den Lungenfunktionsparametern wurden Alter, Herkunftsland, biometrische Daten und Rauchgewohnheiten dokumentiert. Für die aktiven Studienteilnehmer fand aufgrund der Studie eine zusätzliche medizinische Untersuchung statt, in der neben einer weiteren Lungenfunktionsuntersuchung auch eine Blutuntersuchung zur Bestimmung von Sensibilisierungsparametern durchgeführt wurde. Zur Überprüfung von Atemwegserkrankungen und Rauchgewohnheiten wurde von den aktiven Studienteilnehmern ein detaillierter Fragenbogen ausgefüllt, der ebenfalls elektronisch erfasst wurde.

Das durchschnittliche Alter der Studienteilnehmer lag bei 47,5 Jahren (min. = 21, max. = 63, SD = 10,3). Es gab 160 aktive Raucher, 78 Ex-Raucher und 149 Nie-Raucher.

Für die Modellierung der Messdaten wurden die vorliegenden Cyanurchloridkonzentrationsdaten aus den vorhandenen Messprotokollen unter Berücksichtigung des Tragens und der Wirksamkeit von Schutzmasken ausgewertet. Bei fehlenden Angaben wurden Expositionshöhe und Expositionsverlauf über Expertenschätzungen vervollständigt. Für diese Studie wurde eine JEM entwickelt, über die die entsprechende Cyanurchloridbelastung den einzelnen Tätigkeiten der Studienteilnehmer zugewiesen werden konnte.

Die vorhandenen Cyanurchloridmessdaten der einzelnen Werke waren nicht ausreichend für eine direkte Messdatenmodellierung über den gesamten Produktionszeitraum der Werke. Um die innewohnenden Unsicherheiten abzubilden, wurden verschiedene Expositionsszenarien ermittelt. Die Messwerte wurden zunächst auf eine Messmethode und eine Messart normiert, durch Expertenschätzungen vervollständigt, bei Bedarf rückwärtsextrapoliert und verschiedenen Annahmen unterworfen. Insgesamt ergaben sich damit für die multiplen Expositionsschätzungen 24 Varianten zur Ermittlung der Cyanurchloridexposition. Diese multiple Expositionsschätzung erlaubt eine Sensitivitätsanalyse innerhalb der epidemiologischen Auswertung durchzuführen, sodass möglicherweise robuste Schlussfolgerungen aus der Messdatenlage gezogen werden können.

Zur Vorbereitung der Zusammenhangsanalyse wurde jedem Studienteilnehmer über eine für diese Studie entwickelte JEM die seiner Tätigkeit entsprechende Cyanurchloridbelastung und seine medizinischen Daten aus den arbeitsmedizinischen Untersuchungen zugewiesen. Durch Rotation in den Betrieben war ein großer Teil der Studienteilnehmer nur in begrenzten Zeitabschnitten einer Cyanurchloridbelastung ausgesetzt. Dies wurde bei Ermittlung der Langzeitexpositionen individuell berücksichtigt. Zu den Rotationszeiten wurden Expositionsdaten zu solchen Chemikalien als Kovariablen erhoben, die eine Reizwirkung auf die Atemwege ausüben oder zu Veränderungen der Lungenfunktion führen könnten. Vorexpositionen aus anderen Beschäftigungsverhältnissen in der chemischen Industrie wurden ebenfalls dokumentiert.

Für eine ausgewählte Variante (Leitexpositionsschätzung) wurde die Expositionssituation ermittelt (Mittelwerte als Stützstatistik, Anwendung der Umrechnungsfaktoren zwischen den Messverfahren und Imputation der halben Nachweisgrenze bei Messwerten unterhalb der Nachweisgrenze). Die personenbezogene Durchschnittskonzentration der Cyanurchloridexposition betrug in dieser Metrik über alle Jahre im Mittel 0,019 mg/m3 (min. = 0,003, max. = 0,044) bei einer Expositionsdauer von im Mittel 11,3 Jahren (min. = 0,58, max. = 34). Die kumulierte Gesamtexposition betrug im Mittel 0,217 mg/m3-Jahre (min. = 0,005, max. = 0,941). Der Mittelwert der Cyanurchloridkonzentration pro Expositionsjahr lag bei 0,020 mg/m3 (min. = 0,003, max. = 0,051).

Die Auswertung der Messwerte zum spezifischen IgE ergab Hinweise auf eine Sensibilisierung gegenüber Cyanurchlorid. Für die geschlossenen Anlagen von Antwerpen und Wesseling fand sich eine niedrigere Sensibilisierungsprävalenz als in der offenen Anlage von Münchsmünster. In Regressionsanalysen ist zu klären, ob dieser Unterschied statistisch zu sichern ist, die beschriebene Sensibilisierung mit einer Allergisierung der Atemwege einhergeht und sich eine Abhängigkeit von der Exposition einstellt. Für eine Bewertung ist allerdings zu berücksichtigen, dass die Gruppe der untersuchten Studienteilnehmer durch die Querschnittbeschränkung und die zusätzliche Selbstselektion (Zustimmung zur Blutabnahme) doppelt selektiert wurde.

Respiratorische Symptome und Erkrankungen wurden nur in geringem Umfang berichtet: Atemnot (n = 5 Fälle) und die COPD-Stufen Ib (n = 1), IIb (n = 0), IIc (n = 0), IIIa (n = 8), IIIb (n = 0), IVa (n = 1), IVb (n = 0) wurden relativ selten oder gar nicht genannt. Lediglich bei Asthma (n = 33), chronischer Bronchitis (n = 14) und den COPD-Stufen Ia (n = 38) und IIa (n = 26) lagen ausreichende Fallzahlen vor, die weitergehenden Analysen im Querschnitt indizieren.

Insgesamt standen 2983 Untersuchungen der Lungenfunktionsparameter VC, FVC und FEV1 zur Verfügung. Im Durchschnitt nahm jeder Studienteilnehmer an 7,6 medizinischen Untersuchungen mit Lungenfunktionsmessungen teil. Die VC in Prozent vom EU-Sollwert nach Quanjer et al. [46] betrug bei der ersten (letzten) Lungenfunktionsuntersuchung jedes Studienteilnehmers im Mittel 100 % (103 %), die FVC 103 % (103 %), die FEV1 99 % (99 %) und die FEV1%FVC lag bei 99 % (99 %). Dieser Vergleich der gemessenen Lungenfunktionswerte mit den EU-Sollwerten nach Quanjer et al. [46] ergab somit für keinen der betrachteten Parameter eine Auffälligkeit. Im Mittel liegen die untersuchten Kollektive im Normalbereich. Die FVC in Prozent vom Referenzwert nach GLI betrug bei der ersten (letzten) Lungenfunktionsuntersuchung jedes Studienteilnehmers im Mittel 95,7 % (95,8 %), die FEV1 94,4 % (93,9 %) und die FEV1%FVC lag bei 98,2 % (97,6 %). Die verschiedenen Referenzwerte (Quanjer, GLI) ergaben somit geringe Unterschiede, jedoch fand sich einheitlich kein Hinweis auf eine Abnahme der auf die Sollwerte bezogenen Lungenfunktionsparameter mit der Expositionsdauer (Vergleich der Ergebnisse zu letzter und erster Lungenfunktionsuntersuchung).

Der Anteil der Studienteilnehmer, die bei der ersten Untersuchung jünger als 25 Jahre waren, betrug 21,6 % (n = 85). Der Anteil der Studienteilnehmer, die bei der letzten Untersuchung jünger als 25 Jahre waren, betrug 2,3 % (n = 9). Aus physiologischer Sicht hatten diese Studienteilnehmer noch nicht ihr maximales Lungenvolumen erreicht. Die von Quanjer et al. [46] vorgeschlagene Vorgehensweise sieht für Personen vor, die jünger als 25 Jahre alt sind, dass bei der Sollwertberechnung das Alter auf 25 Jahre gesetzt wird, sodass z. B. die FVC in Prozent vom Sollwert (FVC%Sollwert) bei diesen Personen in der Regel unterhalb 100 % liegt. Da der Anteil der Personen unter 25 Jahren insbesondere am Ende der Untersuchung mit 2,3 % klein ist, sollte der Vergleich mit den Quanjer-Werten [46] insbesondere für diesen Querschnitt informativ sein.

Eine interne Analyse der Lungenfunktionswerte in Abhängigkeit von der Langzeitexposition gegenüber Cyanurchlorid unter Berücksichtigung von Kovariablen ist allerdings vor einer inhaltlichen Deutung dieses Befunds notwendig, um in dieser im Mittel unauffälligen Beschreibung mögliche nachteilige Kausaleffekte der Exposition aufzuklären.

Die Darstellung der Lungenfunktionsparameter über die Zeit ergab tendenziell steigende Werte. Im Folgenden werden mögliche Erklärungen für und Folgerungen aus dieser Beobachtung erörtert. Diese Beobachtung der über die Zeit ansteigenden Werte könnte durch eine Selektion der Mitarbeiter im Sinne eines Healthy-Worker-Effekts [7] bedingt sein. Eine solche Selektion gesünderer Arbeiter führt zu einer potenziellen Verzerrung der Querschnittuntersuchung und indiziert eine Analyse im Längsschnitt [40]. Der Anstieg der Lungenfunktionsmesswerte könnte zudem durch einen Messgerätewechsel bedingt sein. Somit sollten Zusammenhangsanalysen zwischen Cyanurchloridexposition und Lungenfunktionsparametern das jeweils verwendete Messgerät berücksichtigen. Die Lungenfunktionsmessgeräte wurden hierzu zunächst in vier Gruppen (Glockenspirometer, Vitalograph, Custo Vit und Bodyplethysmographie) klassifiziert. Im Querschnitt wurden für die weiteren Analysen nur noch drei Lungenfunktionsmessgerätegruppen als Kovariablen mitgeführt, da bei der letzten medizinischen Untersuchung nur eine Person mit dem Glockenspirometer untersucht wurde. In diesen ansteigenden Lungenfunktionsmesswerten könnte sich jedoch auch indirekt eine nachteilige Wirkung der Cyanurchloridexpositionshöhe (Konzentration) spiegeln, die über der Zeit tendenziell abfällt (während die kumulierte Exposition weiter steigt). Dies indiziert neben Auswertungen zur kumulierten Exposition die Durchführung zusätzlicher Analysen, in denen die Expositionsdauer und -konzentration gegenüber Cyanurchlorid als getrennte Variablen eingehen.

Die Studie stellt den weltweit umfassendsten Datenbestand zur Ermittlung der gesundheitlichen Auswirkung einer Langzeitexposition gegenüber Cyanurchlorid am Arbeitsplatz bereit. Zur epidemiologischen Zusammenhangsanalyse wird in Teil 2 berichtet [41].

Fazit

  • Die Studie stellt den weltweit umfassendsten Datenbestand zur Ermittlung der gesundheitlichen Auswirkung einer Cyanurchloridlangzeitexposition am Arbeitsplatz bereit.

  • Für eine Studiengruppe von 394 Männern, die zwischen 1958 und 2007 in cyanurchloridproduzierenden Betrieben tätig waren, wurden in einer retrospektiven Kohortenstudie medizinische Daten, Tätigkeiten und Expositionen erfasst und verarbeitet.

  • Insgesamt standen 2983 Untersuchungen der Lungenfunktionsparameter VC, FVC und FEV1 zur Verfügung. Diese Lungenfunktionswerte zeigten keine Auffälligkeiten verglichen mit den EU-Sollwerten.