Einleitung

Das Lehren und Lernen im Themenfeld Evolution stellt eine besondere Herausforderung dar, da es sich um einen komplexen Unterrichtsgegenstand handelt, der für Lernende oft schwer zu verstehen ist. Es sind vielfältige Vorstellungen beschrieben, die sich in unserem Alltag bewähren, sich aber in einem evolutionsbiologischen Kontext als unangemessen erweisen können (Harms und Reiss 2019). In der Didaktik der Naturwissenschaften wurden verschiedene Ansätze entwickelt, um die Relation von heterogenen Schülervorstellungen und fachwissenschaftlichen Vorstellungen bei der Planung und Durchführung von Unterricht zu bearbeiten, z. B. das Modell der Didaktischen Rekonstruktion (Kattmann et al. 1997). Aus der Perspektive einer strukturtheoretischen Professionstheorie (Helsper 1996) lässt sich diese Relation als Sachantinomie beschreiben. Demnach unterrichten Lehrer*innen in einer Handlungs- und Interaktionsstruktur, die durch ein Spannungsverhältnis gekennzeichnet ist: Einerseits wird erwartet, dass bei der Gestaltung von Lehr‑/Lernprozessen die individuellen Besonderheiten der Lernenden berücksichtigt werden (z. B. Schülervorstellungen und Alltagssprache). Andererseits sollen fachwissenschaftlich anerkannte Vorstellungen, die für alle Lernenden gleichermaßen gelten, innerhalb eines bestimmten Zeitraums gelernt werden (z. B. allgemeingültige Fachinhalte und korrekte Fachsprache). Angesichts dieser widersprüchlichen Anforderungen ist ein Verstehen (zeitlich umfangreicherer) unterrichtlicher Kontexte notwendig, um zu klären, inwiefern der fall- und kontextspezifische Umgang mit Schülervorstellungen Professionalität beanspruchen kann. Eine professionelle Unterrichtswahrnehmung (van Es und Sherin 2008) kann als eine zentrale Voraussetzung für ein derartiges Fallverstehen und daher auch für eine angemessene Bearbeitung der Sachantinomie angesehen werden. Ein wichtiges Ziel in der biologiedidaktischen Lehrer*innenbildung ist folglich die Professionalisierung der Unterrichtswahrnehmung von angehenden und berufstätigen Lehrpersonen hinsichtlich des Umgangs mit den Vorstellungen der Schüler*innen.

Theoretische Rahmung

Anthropomorphe und teleologische Schülervorstellungen im Evolutionsunterricht

Die Forschungen zu Schülervorstellungen und der lernförderliche Umgang mit ihnen in Lehr‑/Lernprozessen ist in der Naturwissenschaftsdidaktik international ein zentrales Forschungsfeld (Vosniadou 2013). Insbesondere im Bereich der Evolutionsbiologie, welche „zum unverzichtbaren Fundament der naturwissenschaftlichen Bildung an Schulen und Hochschulen“ gehört (Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina 2017, S. 6), ist die Vielfalt der Vorstellungen von Schüler*innen umfangreich empirisch nachgewiesen (Gregory 2009; Hammann und Asshoff 2014). Hammann und Asshoff (2014, S. 26) beschreiben „allgemeine Denkweisen“, die die Erklärungen von Schüler*innen zur Angepasstheit von Arten an ihren Lebensraum prägen. Für das vorliegende Forschungsprojekt sind zwei davon von Bedeutung: Erstens übertragen Schüler*innen menschliche Eigenschaften und Denkweisen auf die Natur (anthropomorphe Vorstellungen), z. B. bei der Annahme einer intentionalen stammesgeschichtlichen Anpassung der Individuen. Dabei stehen Anthropomorphismen im Kontrast zur wissenschaftlichen Norm von Objektivität, Neutralität und Wertfreiheit (ebd.). Zweitens ist empirisch beschrieben, dass biologische Erklärungen über Zweck, Zielgerichtetheit oder Anpassungsnotwendigkeit der Lebewesen sowie externe Designer (teleologische Vorstellungen) erfolgen können (Kelemen 2012). Für den unterrichtlichen Umgang mit teleologischen Vorstellungen ist bedeutsam, ob eine naturwissenschaftlich angemessene oder unangemessene Form von Teleologie vorliegt. Kampourakis (2020, S. 10) unterscheidet bspw. zwischen legitimen „selection-teleological“ und illegitimen „design-teleological explanations“. Eine zentrale Problematik der Design-Teleologie besteht darin, dass bei der Erklärung evolutionsbiologischer Phänomene von der Behauptung ausgegangen wird, dass ein Merkmal entsteht und existiert, indem externe Akteure wie „Mutter Natur“ die Entstehung verursachen oder weil das Lebewesen das Merkmal braucht. Dies steht in Kontrast zu einer fachwissenschaftlichen Erklärung von Evolution, da in derartigen teleologischen Erklärungen die gegenwärtige Zweckmäßigkeit des Merkmals als einzige Ursache für deren Entstehung und Existenz angeführt und die Funktion nicht mit dem evolutionären Selektionsmechanismus verknüpft wird.

Hinsichtlich des Umgangs mit Schülervorstellungen in Lehr‑/Lernprozessen werden unterschiedliche theoretische Perspektiven diskutiert, die u. a. als conceptual change, conceptual growth oder conceptual reconstruction bezeichnet werden (Gropengießer und Marohn 2018). Aufbauend auf diesen theoretischen Perspektiven wurden unterschiedliche Ansätze zum Umgang mit Schülervorstellungen in Lehr‑/Lernprozessen entwickelt. Diese Ansätze sind durch theoretisch interessante Widersprüche und Konflikte gekennzeichnet (Duit und Widodo 2013). Allen gemeinsam ist die Erwartung, dass durch eine Berücksichtigung der Vorstellungen der Lernenden das Verständnis fachlich anerkannter Vorstellungen verbessert wird. Das Ziel im Umgang mit Schülervorstellungen wird unterschiedlich konzeptualisiert. Einige Ansätze konstruieren einen vollständigen und dauerhaften Wechsel der Vorstellungen als Ziel (Posner et al. 1982). Von einem radikalen Konzeptwechsel distanzieren sich aktuelle moderat-konstruktivistische Ansätze. Als Ziel wird bspw. die Entwicklung von Vorstellungen (Kattmann et al. 1997; Kattmann 2015) oder ein Bewusstsein für die Differenz zwischen Schülervorstellungen und fachlich anerkannten Vorstellungen und deren kontextspezifisch angemessene Anwendung konzeptualisiert (Gebhard 1990; Combe und Gebhard 2012). Die Frage nach der maßgeblichen Bedeutung von Schülervorstellungen für den Lehr‑/Lernprozess im Evolutionsunterricht wird unterschiedlich beantwortet, z. B. werden sie als zentrale Lernschwierigkeit oder als Lernmöglichkeit beschrieben (Harms und Reiss 2019).

Strukturtheoretischer Professionsansatz: Bearbeitung der Sachantinomie

In der strukturtheoretischen Professionstheorie nach Helsper (1996) wird davon ausgegangen, dass Lehrer*innen in einer Handlungs- und Interaktionsstruktur unterrichten, die durch unauflösbare Spannungsverhältnisse (Antinomien) gekennzeichnet ist. Dabei können gegensätzliche normative Erwartungen aufgrund ihrer prinzipiellen Widersprüchlichkeit situationsspezifisch nicht beide gleichzeitig handlungsleitend für die Lehrperson sein. Im Umgang mit Schülervorstellungen sind Lehrer*innen mit der Sachantinomie konfrontiert (Bonnet 2020), die maßgeblich fachliche Lehr‑, Lern- und Bildungsprozesse strukturiert. Das Handeln von Lehrer*innen steht demnach in einem Spannungsverhältnis, da sie mit Situationen konfrontiert sind, in denen sie nicht allen normativen Erwartungen gleichermaßen entsprechen können: Einerseits wird erwartet, dass sie sich bei der Gestaltung der Lehr‑/Lernprozesse an den individuellen Besonderheiten der Lernenden orientieren (z. B. Schülervorstellungen und Alltagssprache). Andererseits soll ein Verständnis der fachlichen Normen ermöglicht werden, die für alle Lernenden gleichermaßen gelten und in einer gemeinsamen Klausur überprüft werden (z. B. Fachinhalte und Fachsprache). Die fachlichen Normen sind der normative Anspruch des Faches, der seinen Ausdruck bspw. in fachlich anerkannten und allgemeingültigen Erklärungen und einer korrekten Fachsprache findet. Herausfordernd für Lehrer*innen ist, dass vielfältige Vorstellungen beschrieben sind, die sich in unserem Alltag bewähren, sich aber in einem evolutionsbiologischen Kontext als widersprüchlich zu fachlichen Normen erweisen können (Harms und Reiss 2019). Orientiert sich die Lehrperson einseitig an den fachlichen Normen, dann drohen die Verstehensprozesse der Lernenden zu misslingen, da diese u. U. nicht anschlussfähig an deren Erfahrungen und Wissen sind. Orientiert sich die Lehrperson andererseits einseitig an den Schülervorstellungen und Alltagssprache, drohen die fachlichen Normen als Lern- und Bildungsanlass aus dem Blick zu geraten (Gresch und Martens 2019). Aus einer strukturtheoretischen Perspektive wird besonders deutlich, wie anspruchsvoll die Vermittlung von Schülervorstellungen und fachlichen Normen als Voraussetzung für die Lern- und Bildungsprozesse der Schüler*innen ist. Ein Misslingen im Umgang mit Schülervorstellungen ist aus der Perspektive strukturtheoretischer Professionsansätze nicht immer die Folge individueller Fehler der Lehrperson und/oder der Schüler*innen. Die Lehrperson kann aufgrund der Sachantinomie den vielfältigen Vorstellungen der Schüler*innen zwangsläufig nur bedingt gerecht werden.

Was einen Umgang mit den Vorstellungen der Schüler*innen sowie die darauf gerichtete Unterrichtswahrnehmung zu einer professionellen Handlung macht, lässt sich aufgrund der Sachantinomie nicht durch allgemeingültige, standardisierte Handlungsweisen bestimmen. Aus einer strukturtheoretischen Perspektive (Helsper 1996) gilt als Voraussetzung von Professionalität, dass Lehrer*innen die nicht auflösbaren Antinomien erkennen, reflektieren und sachgerecht handhaben. Daher ist ein Verstehen (zeitlich umfangreicherer) unterrichtlicher Kontexte notwendig, um zu klären, welche Handlungsmöglichkeiten in dem vorliegenden Fall Professionalität beanspruchen können. Trotz interessanter Widersprüche und theoretischer Unvereinbarkeiten zwischen strukturtheoretischen und kompetenztheoretischen Professionsansätzen, gehen wir in Anschluss an Terhart (2011) davon aus, dass sie sich bei der Bestimmung von Professionalität auch gegenseitig ergänzen können. In kompetenztheoretischen Professionsansätzen wird zwar nicht davon ausgegangen, dass Lehrer*innen mit der Sachantinomie konfrontiert sind. Dennoch lassen sich aus dieser professionstheoretischen Perspektive u. E. Kompetenzen von Lehrer*innen beschreiben, die für die Rekonstruktion und das Verstehen der Sachantinomie notwendig, aber zugleich auch nicht hinreichend sind. Blömeke et al. (2015) gehen in ihrem Kompetenzmodell davon aus, dass bei der Transformation von Kompetenzen in Performanz situationsbezogene Fähigkeiten der Wahrnehmung, Interpretation und Entscheidungsfindung von besonderer Bedeutung sind. Diese Fähigkeiten werden in Studien untersucht, die das Konzept der professionellen Unterrichtswahrnehmung nutzen. Ein angemessener Umgang mit den Vorstellungen der Schüler*innen setzt, so unsere These, eine professionelle Unterrichtswahrnehmung voraus. Sie wird als Fähigkeit zusammengefasst, lernrelevante Unterrichtssituationen als solche zu erkennen, zu interpretieren und zu Entscheidungen zu kommen (van Es und Sherin 2008; Blömeke et al. 2015). Zum Beispiel müssen Lehrer*innen zunächst die Vorstellungen der Schüler*innen kompetent diagnostizieren, um darauf aufbauend die antinomische Interaktionsstruktur, in der die Lehrperson in entsprechenden Unterrichtssituationen handeln muss, zu rekonstruieren.

Professionelle Unterrichtswahrnehmung als soziale Praktik

In der Biologiedidaktik besteht ein breiter Konsens, dass für die Gestaltung lernwirksamen Evolutionsunterrichts die Diagnose und die Berücksichtigung alternativer Vorstellungen der Schüler*innen besonders wichtig sind (Harms und Reiss 2019). Da im Unterricht viele Dinge gleichzeitig passieren, benötigen Lehrer*innen Fähigkeiten einer professionellen Unterrichtswahrnehmung (van Es und Sherin 2008), um Situationen zu erkennen und zu verstehen, in denen ein Umgang mit Schülervorstellungen bedeutsam ist.

Bei der Analyse des Forschungsstandes zur Unterrichtswahrnehmung im Kontext des Biologieunterrichts zeigt sich, dass sowohl generische Unterrichtsaspekte wie die Klassenführung, als auch fachspezifische Aspekte wie bspw. der Umgang mit Schülervorstellungen zur Haut untersucht werden (Kramer et al. 2021). Aus einer methodischen Perspektive zeigt sich, dass die Unterrichtswahrnehmung mit Methoden der Kompetenzforschung gemessen wird, z. B. mit standardisierten Videotests, wobei eine Kodierung des Videomaterials durch Expert*innen vorgenommen wird. Professionelle Kompetenz wird dann als Übereinstimmung der Kodierung der Proband*innen mit der Expert*innennorm operationalisiert. In Verbindung mit der Erfassung des expliziten fachlichen, fachdidaktischen und pädagogisch-psychologischen Wissens ist ein weiteres Ziel dieser Studien, mögliche Effekte des Wissens auf die professionelle Unterrichtswahrnehmung zu untersuchen. Ein zentraler Ertrag der Studien ist es, den Zusammenhang des expliziten Wissens von angehenden und berufstätigen Lehrpersonen mit ihrer Unterrichtswahrnehmung herzustellen. Sie können u. a. empirisch nachweisen, welches fachdidaktische Wissen mit einer professionellen Wahrnehmung korreliert. Der Forschungsstand ist je nach betrachtetem Unterrichtsaspekt unterschiedlich ausgeprägt. Biologiespezifische Aspekte wurden nur in wenigen Studien untersucht (z. B. Kramer et al. 2021).

Im Anschluss an das Konzept professional vision nach Goodwin (1994) nehmen wir eine soziokulturelle Perspektive auf das Konstrukt der Unterrichtswahrnehmung ein. Goodwin (1994, S. 606) geht unter Bezugnahme auf Bourdieu von einer „practice-based theory of knowledge and action“ aus und charakterisiert professional vision als „socially organized ways of seeing and understanding events“. Wir gehen davon aus, dass eine soziologische, praxistheoretische Perspektive (Reckwitz 2003) für die Konzeptualisierung der Unterrichtswahrnehmung angemessen ist. So nehmen angehende und berufstätige Lehrer*innen Unterricht zwar individuell wahr, ihre Wahrnehmung kommt aber in sozialen Kontexten zum Ausdruck und hier bieten sich in der Lehrer*innenbildung Zugänge zur Professionalisierung. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn angehende und berufstätige Lehrer*innen im Rahmen von Videobeobachtungen sowie Unterrichtsbesprechungen in Praxisphasen während des Studiums, im Referendariat oder bei kollegialen Unterrichtsbeobachtungen über beobachteten (fremden) Unterricht sprechen. Diese Argumentation ist anschlussfähig an Goodwin (1994), der den sprachlichen Aspekt von professional vision hervorhebt und das Sprechen von Professionellen untersucht. Zum Sprechen über Unterricht in einem sozialen Kontext liegen einige Studien vor. So erforscht die Arbeitsgruppe um Sherin, die Anfang der 2000er Jahre erstmalig das Konzept professional vision auf die Lehrer*innenprofession überträgt, das Sprechen von Lehrpersonen über Mathematikunterricht im Rahmen von Fortbildungsangeboten, so genannten video clubs. Diese zielten u. a. darauf ab, dass die Lehrpersonen verstärkt das mathematische Denken von Schüler*innen wahrnehmen (van Es und Sherin 2008).

Die Konzeptualisierung von Unterrichtswahrnehmung als eine soziale Praktik, und zwar als Sprechen über Unterricht in sozialen Kontexten, ermöglicht einen Beitrag zum Forschungsstand, da das handlungsleitende implizite Wissen und die soziale Dimension untersucht werden können, die weitgehend unerforscht sind. Uns ist nur eine qualitativ-rekonstruktive Studie aus der Sportdidaktik bekannt, die das implizite Wissen von Lehrer*innen bei der Unterrichtswahrnehmung untersucht (Schiller 2019). Die Relevanz eines rekonstruktiven Forschungszugangs in der Professionsforschung lässt sich u. a. mit Forschungsarbeiten begründen, die dem impliziten Wissen eine hohe Bedeutung für professionelles Handeln von Lehrer*innen zuschreiben (z. B. Schön 1983; Neuweg 2022). Demnach sind bei der Unterrichtswahrnehmung auch unbewusste, praktische und erfahrungsbasierte Wissensbestände relevant, die die selektive Wahrnehmung und Interpretation beeinflussen. So schreiben die angehenden und berufstätigen Lehrpersonen bspw. den Phänomenen, die sie wahrnehmen und über die sie sprechen (z. B. Schülervorstellungen) eine implizit gewusst und kollektiv geteilte Bedeutung zu. Dieses implizite Wissen verweist auf grundlegende Orientierungen, welche die Unterrichtswahrnehmung strukturieren und ein routiniertes Handeln ermöglichen.

Forschungsfrage

Ein wichtiges Ziel einer biologiedidaktischen Lehrer*innenbildung stellt die Professionalisierung des Sprechens über den Umgang mit Schülervorstellungen im Evolutionsunterricht dar. Hierfür ist es sinnvoll, diese soziale Praktik zu beschreiben und zu verstehen. Das zentrale Erkenntnisinteresse dieser rekonstruktiven Studie bezieht sich auf folgende Frage: Wie sprechen Studierende, Referendar*innen und Lehrpersonen mit dem Unterrichtsfach Biologie über den Umgang mit anthropomorphen und teleologischen Schülervorstellungen im Evolutionsunterricht und welches implizite Wissen ist dabei handlungsleitend?

Methodologische und methodische Rahmung

Datenerhebung: Videovignette als Impuls für Gruppendiskussionen und Einzelinterviews

Im Rahmen der Studie wurden 51 Schulstunden des regulären Evolutionsunterrichts in der Sekundarstufe I und II aufgenommen. Hieraus wurden mehrere Videovignetten erstellt, d. h. kurze Videosequenzen, in denen unterrichtliche Interaktionen zwischen Schüler*innen sowie mit der Lehrkraft vor allem hinsichtlich des Umgangs mit anthropomorphen und teleologischen Vorstellungen wahrnehmbar sind. Zur Datenerhebung haben wir eine Videovignette (Leistungskurs, Berufskolleg, ca. 20 min) ausgewählt, die sich bei Erprobungen mit Studierenden als besonders geeignet erwiesen hat. Zwei Auswahlkriterien waren entscheidend: In den ausgewählten Unterrichtssituationen sollten ein Umgang mit anthropomorphen und teleologischen Schülervorstellungen durch die Studierenden erkennbar und die fachlichen Kontexte trotz Zusammenschnitt nachvollziehbar sein. Der inhaltliche Fokus der Videovignette ist die Angepasstheit von Arten an ihren Lebensraum, was im Unterricht an unterschiedlichen Kontexten thematisiert wird, u. a. an den Ursachen für das Phänomen des Vogelzugs. In der Videovignette lässt sich bspw. beobachten, dass Schüler*innen ihre Vorstellungen zu den evolutionsbiologischen Phänomenen äußern und dass auf einer abstrakten Ebene zwischen teleologischen Erklärungen und einer Erklärung mithilfe der synthetischen Evolutionstheorie unterschieden wird.Footnote 1 Die Videovignette, die auch Kontextinformationen umfasst (z. B. Arbeitsmaterial aus dem Unterricht), wird als Impuls für Gruppendiskussionen (Bohnsack 2021) und (coronabedingt) Einzelinterviews (Nohl 2017) ohne weitere spezifische Instruktionen eingesetzt. Die offene Instruktion, die vor dem Ansehen der Videovignette an die angehenden und berufstätigen Lehrpersonen gerichtet wurde, lautet: „Ich starte jetzt gleich das Video und wenn es zu Ende gelaufen ist, könnt ihr direkt erzählen, was ihr möchtet.“ Die Erfahrung bei der Datenerhebung zeigt, dass die Proband*innen nach dem Ansehen der Videovignette über einen langen Zeitraum ohne immanente Nachfragen (miteinander) sprechen und eigene Relevanzsetzungen vornehmen.

Sampling und Sample

Um eine ausreichende Sättigung der Ergebnisse und kontrastive Fallvergleiche zu ermöglichen, wurden die Fälle des Samples nach dem Prinzip der minimalen und maximalen Kontrastierung im Sinne des Theoretical Samplings (Glaser und Strauss 1967) kontinuierlich erhoben. Zunächst wurde die Videovignette als Impuls in 9 Gruppendiskussionen mit insgesamt 30 Lehramtsstudierenden mit dem Unterrichtsfach Biologie eingesetzt. Nach ersten Fallvergleichen, bei denen sich recht gleichförmig u. a. eine defizitäre Perspektive der Studierenden auf Schülervorstellungen rekonstruieren ließ, wurde theoriegeleitet nach kontrastreichen Fällen gesucht. Leitend war die Annahme, dass in wertschätzenden Lernsettings Schülervorstellungen als Bereicherung für den Lehr‑/Lernprozess angesehen werden (Kattmann 2015). Es wurden daher Fälle erhoben, von denen wir eine stärkere Orientierung am einzelnen Lernenden erwarteten: (1) erfahrene Lehrpersonen, die an Schulen mit Individualisierungskonzepten unterrichten und (2) Referendar*innen, die ihren Vorbereitungsdienst erfolgreich absolviert haben und von denen erwartet wird, dass sie „Lehr- und Lernausgangslagen wahrnehmen, Potenziale erkennen, diagnostisch erfassen und bei der Gestaltung von Lehr- und Lernprozessen berücksichtigen“ (Ministerium für Schule und Bildung des Landes Nordrhein-Westfalen 2021, S. 7). In den Analysen der bisher erhobenen Fälle konnten wir u. a. eine subsumtionslogische Auseinandersetzung mit der Videovignette rekonstruieren (z. B. Einordnung von Schüler*innenaussagen unter didaktische Kategorien von Schülervorstellungen). In der sich anschließenden, erneuten Datenerhebung war die strukturtheoretische Professionstheorie der Ausgangspunkt für das weitere Sampling. Dieser theoretische Ansatz sensibilisierte unsere Analyse für die Unterscheidung von schematischer Subsumtion und fallspezifischer Rekonstruktion (Helsper 1996). Es wurden Fälle erhoben, von denen wir eine stärkere Orientierung an einer rekonstruktiven Auseinandersetzung mit dem Unterricht erwarteten, z. B. Studierende, die an Universitäten mit kasuistischer Lehre studieren.

Durch das Sampling konnten die Ergebnisse immer wieder erweitert werden. Das Sampling wurde beendet, als wir nach dem Aufsuchen weiterer Fälle, die Kontraste erwarten ließen, keine neuen Ergebnisse hinsichtlich unserer Forschungsfrage herausarbeiten konnten.

An der Studie haben 115 angehende und berufstätige Biologielehrpersonen im Rahmen von Gruppendiskussionen (Realgruppen, 3–4 Personen, ca. 45 min) und separaten Einzelinterviews (ca. 25 min) teilgenommen. Die Teilnahme war freiwillig und fand unabhängig von Ausbildungskontexten in einem Raum statt, den die Proband*innen auswählten. Das erhobene Sample umfasst 40 Fälle, wobei eine Gruppendiskussion und ein Einzelinterview jeweils einen Fall darstellen:

  1. a.

    Lehramtsstudierende: 23 Gruppendiskussionen und ein Interview mit insgesamt 79 Lehramtsstudierenden (Alter 20–35 Jahre, unterschiedliche Fächerkombinationen, Universitäten, Studienabschlüsse (Bachelor oder Master) und Ziel-Schulformen (Grundschule, Haupt‑, Real‑, Sekundar- u. Gesamtschule, Gymnasium und Gesamtschule sowie Berufskolleg))

  2. b.

    Referendar*innen: 5 Gruppendiskussionen und ein Interview mit insgesamt 18 Referendar*innen (unterschiedlichen Schulformen und Fächerkombinationen)

  3. c.

    Lehrpersonen: 3 Gruppendiskussionen und 7 Interviews mit insgesamt 18 Lehrpersonen (unterschiedliche Schulformen, Fächerkombinationen und Berufserfahrungen (3–29 Jahre))

Für die angestrebte Typenbildung sind die 40 erhobenen Fälle nicht alle gleichermaßen geeignet und auch nicht notwendig. Deshalb haben wir die Fälle unterschiedlich umfangreich und intensiv analysiert. Ausschlaggebend für die Eignung der Fälle ist ihr Vergleichspotential. Denn für eine valide Typenbildung werden Fälle benötigt, denen etwas gemeinsam ist und die sich zugleich in diesen Gemeinsamkeiten unterscheiden („Kontrast in der Gemeinsamkeit“, Bohnsack 2021, S. 147). Um das Vergleichspotential einzuschätzen, wurden alle 40 erhobenen Fälle analysiert (Fokus auf der Eingangspassage und weiterer für die Forschungsfrage relevanten Transkriptstellen). Von den 40 Fällen wurden im Forschungsprozess 15 Fälle, die sich durch Varianz auszeichnen und minimale und maximale Kontrastierungen ermöglichen, vollständig interpretiert und zur Typenbildung herangezogen. Es handelt sich um zwölf Gruppendiskussionen (eine mit Lehrer*innen, drei mit Referendar*innen und acht mit Studierenden) sowie drei Einzelinterviews mit Lehrpersonen. Die kursorische Analyse der übrigen 25 Fälle führte nicht zu neuen Erkenntnissen, sodass diese nicht umfassend und tiefergehend interpretiert wurden.

Datenauswertung: Dokumentarische Methode

Die Datenauswertung erfolgte mit der Dokumentarischen Methode (Bohnsack 2021), da diese auf die Analyse sozialer Praktiken ausgerichtet ist und eine Differenzierung zwischen explizitem und implizitem Wissen in zwei getrennten Interpretationsschritten ermöglicht.

Die Datenauswertung erfolgt von Anfang an fallvergleichend, wobei eine Gruppendiskussion und ein Einzelinterview jeweils einen Fall darstellen: Der/die Interviewteilnehmende wird als Einzelperson und die Teilnehmenden an der Gruppendiskussion werden als Gruppe analysiert. Die Datenauswertung beginnt mit dem Interpretationsschritt der formulierenden Interpretation. Gegenstand der Analyse ist das explizite Wissen der Gruppe bzw. der Interviewteilnehmenden. Es wird inhaltsanalytisch herausgearbeitet, über ‚was‘ also über welche Themen gesprochen wird. Zum Beispiel wird explizit über die „synthetische Evolutionstheorie“ und über „die Theorie mit dem kognitiven Konflikt“ gesprochen. Die thematische Struktur des Gesprächs wird in Ober- und Unterthemen geordnet und zu den Unterthemen werden Inhaltsangaben formuliert. Zwischen dem ersten und dem zweiten Interpretationsschritt wird ein „Wechsel der Analyseeinstellung“ (Bohnsack 2021, S. 161) vorgenommen. Gegenstand der reflektierenden Interpretation sind die Orientierungsrahmen, d. h., die Art und Weise, wie über die Themen in der Gruppendiskussion oder dem Interview gesprochen wird, als auch, welches implizite Wissen dabei handlungsleitend ist. Die Analyse zielt darauf, handlungsleitende Orientierungsrahmen der Gruppe bzw. der Interviewteilnehmenden zu rekonstruieren. Hierzu wird herausgearbeitet, dass an thematisch ganz unterschiedlichen Stellen in der gleichen Art und Weise über die Themen gesprochen wird und das gleiche implizite Wissen handlungsleitend ist. In Gruppendiskussionen wird der Orientierungsrahmen kollektiv entfaltet (Bohnsack 2021), sodass die Äußerungen der Teilnehmenden nicht als Einzeläußerungen, sondern als Teil der gemeinsamen Bearbeitung der Themen interpretiert werden. Die Frage ist, wie die Gruppe als Ganzes über die Themen „spricht“. Der permanente Vergleich der Fälle ist Voraussetzung für das Herausarbeiten der fallspezifischen Orientierungsrahmen: Die Spezifik des Falls lässt sich erst im Vergleich mit ähnlich und deutlich anders gelagerten Fällen herausarbeiten. Nohl (2013, S. 273) macht deutlich, dass in das Sample nur die Fälle aufgenommen werden, anhand derer sich Typen entwickeln lassen: „Insofern ist ein Fall nicht für sich relevant, sondern ausschließlich der mit ihm generierten theoretischen Kategorien oder Typen. Eine Rekonstruktion des Fallspezifischen ‚um seiner selbst willen‘ (Glaser und Strauss 1967, S. 49) ist nicht das Ziel dieses Vergleichs.“ Insofern wurden die Fälle, die für typenbildende Fallvergleiche nicht benötigt wurden, nur kursorisch und nicht vollständig analysiert.

Im Rahmen der sinngenetischen Typenbildung werden die rekonstruierten Orientierungsrahmen zueinander ins Verhältnis gesetzt, abstrahiert und generalisiert. Dabei werden die zwischen den Fällen rekonstruierten Gemeinsamkeiten und Unterschiede betont. Die Fallvergleiche beginnen zunächst mit einem inhaltlichen oder thematischen tertium comparationis. Es werden die (für die Fragestellung relevanten) thematischen Passagen ausgewählt und interpretiert, die sich wiederholt in den Daten finden. In unserer Studie konnten wir im Rahmen der formulierenden Interpretation fallvergleichend Themen herausarbeiten, über die in allen Fällen explizit gesprochen wird. Diese Themen und die unterschiedliche Art und Weise über sie zu sprechen sind zur zentralen Grundlage für die Gliederung des Ergebniskapitels geworden. Im Rahmen der reflektierenden Interpretation wurde ein Orientierungsrahmen bestimmt und im Fallvergleich abstrahiert, der in allen 15 Fällen bei der Bearbeitung der gemeinsamen Themen handlungsleitend ist. In allen Fällen bewerten die angehenden und berufstätigen Lehrpersonen sowohl das Handeln der Lehrperson bei der Vermittlung als auch das Lernen der Schüler*innen (Orientierungsrahmen: „Bewertungsmodus“, siehe Ergebniskapitel). Da der „Bewertungsmodus“ die Gemeinsamkeit aller 15 Fälle ist, stellt er die Basistypik dar (Bohnsack et al. 2018). Er setzt sich aus mehreren Komponenten zusammen, die wir als Basis-Orientierungen bezeichnen. Im Sinne des Prinzips des „Kontrasts in der Gemeinsamkeit“ (Bohnsack 2021, S. 41) dienen nun die Basis-Orientierungen als Vergleichsdimensionen und alle 15 Fälle werden hinsichtlich ihrer konkreten Ausprägung fallvergleichend interpretiert. Durch Fallkontrastierungen konnten wir herausarbeiten, dass einige Basis-Orientierungen in den 15 Fällen auf unterschiedliche Art und Weise ausgeprägt sind. Die Basis-Orientierungen, in denen keine für eine Typenbildung bedeutsamen Kontraste rekonstruiert werden konnten, bezeichnen wir als allgemeine Basis-Orientierungen. Die Herausarbeitung von Kontrasten in den Gemeinsamkeiten, den Basis-Orientierungen, führt zur Entwicklung von Typen. Die Dokumentarischen Methode schließt sich bei der Definition des Begriffs ‚Typ‘ Webers (1904) Verständnis des „Idealtypus“ an (siehe Bohnsack 2021, S. 154), d. h., dass bei der Typenbildung eine Idealisierung und Abstraktion empirisch vorzufindender Fälle vorgenommen wird. Ein Typ gruppiert ähnliche Ausprägungen der Basis-Orientierungen (minimale Kontraste zwischen den Fällen eines Typs), die zudem in einer charakteristischen Art und Weise miteinander kombiniert sind. Die Typen unterscheiden sich voneinander möglichst stark (maximale Kontraste), sodass sie jeweils eine typische Ausprägung der Basistypik darstellen (siehe Abb. 1).

Abb. 1
figure 1

Sinngenetische Typenbildung

Die Ergebnisse der Typenbildung stellen eine „analytische Generalisierung“ (Przyborski und Wohlrab-Sahr 2014, S. 367) dar, da fallübergreifend handlungsleitende Orientierungsrahmen rekonstruiert wurden, die von den je fallspezifischen Besonderheiten abstrahieren. Es gilt zu bedenken, dass die Typenbildung kein linearer, sondern vielmehr ein zyklischer Prozess ist.

Um eine Validität der Interpretationen anzustreben, haben wir die Ergebnisse der Interpretationen durch Vergleiche homologer Transkriptstellen innerhalb des Falls und anderer Fälle mehrfach belegt. Die Standortgebundenheit der Interpretationen wird durch die empirischen Fallvergleiche methodisch kontrolliert. Darüber hinaus sind die Interpretationen über die gesamte Projektlaufzeit hinweg in zwei interdisziplinären Forschungswerkstätten zur Dokumentarischen Methode diskutiert und weiterentwickelt worden.

Praktiken der Unterrichtswahrnehmung: Empirische Rekonstruktionen

Basistypik

Beim Sprechen der Proband*innen über den unterrichtlichen Umgang mit den Vorstellungen der Schüler*innen sind in allen 15 Fällen zwei gemeinsame Themen bedeutsam: (1) Vermittlung und Aneignung fachlicher Normen und (2) Schülervorstellungen und fachliche Normen. In allen 15 Fällen wird über die Vermittlung und Aneignung fachlicher Normen (1) gesprochen. Es wird bspw. darüber gesprochen, wie die in der Videovignette beobachtete Lehrerin bei der Vermittlung der fachlichen Normen mit den Schülervorstellungen umgeht und wie sie mit ihnen umgehen sollte. Die abstrakten, theoretischen Begriffe der Vermittlung und Aneignung, die bspw. in Diskursen zur pädagogischen Theorie des Unterrichts genutzt werden (Pollmanns 2019), ermöglichen eine Verallgemeinerung der fallspezifisch unterschiedlichen Thematisierung der lehr-/lernbezogenen Tätigkeiten der Lehrperson und die der Schüler*innen durch die Proband*innen. Zudem wird in allen Fällen darüber gesprochen, wie die Schüler*innen die evolutionsbiologischen Phänomene hätten erklären sollen. Die abstrakten, theoretischen Begriffe Schülervorstellungen und fachliche Normen (2) ermöglichen eine Verallgemeinerung der fallspezifisch unterschiedlichen Thematisierungen, die sich auf die Aussagen von Schüler*innen und wie diese hätten sein sollen, beziehen. Der Begriff fachliche Normen wird bspw. in der empirischen Unterrichtsforschung genutzt (Martens und Gresch 2018), um den normativen Anspruch des Faches, der seinen Ausdruck bspw. in fachlich anerkannten und allgemeingültigen Erklärungen und einer korrekten Fachsprache findet, zu beschreiben. Zum Beispiel besteht in der Biologiedidaktik ein breiter Konsens, dass bestimmte Konzepte (z. B. Variation und Selektion) notwendig sind, um Evolution fachlich angemessen zu erklären (Harms und Reiss 2019).

Im Sprechen der angehenden und berufstätigen Lehrpersonen über diese beiden Themen lässt sich in allen 15 Fällen ein Orientierungsrahmen rekonstruieren, den wir als „Bewertungsmodus“ bezeichnen. Der Bewertungsmodus zeigt sich bspw. darin, dass die Proband*innen sich durchweg als Personen positionieren, die die Lehrerin und die Schüler*innen in der Videovignette bewerten können und dazu auch berechtigt sind. Die angehenden und berufstätigen Lehrpersonen bringen hierfür Normen (z. B. als verbindliche dargestellte Handlungsvorgaben, wie die Verwendung einer korrekten Fachsprache) in das Gespräch ein und konstruieren eine Diskrepanz zwischen dem, was die Lehrerin und die Schüler*innen im gesehenen Evolutionsunterricht tun und dem, was sie hätten tun sollen. Der Bewertungsmodus umfasst vier allgemeine Basis-Orientierungen (siehe Abb. 1): Erstens lässt sich in allen 15 Fällen eine Orientierung an Eindeutigkeit rekonstruieren, wonach die Bewertungen weitgehend als unzweifelhaft gültig konstruiert werden. Zweitens zeigt sich bei den Proband*innen eine Orientierung an einer subsumtiv-generalisierenden Beobachtungshaltung: Zum Beispiel werden Aussagen von Schüler*innen unter didaktische Kategorien von teleologischen und anthropomorphen Schülervorstellungen und/oder unter die Kategorien „richtig“ und „falsch“ eingeordnet. Als dritte Komponente des Bewertungsmodus lässt sich in allen 15 Fällen eine Orientierung an einer Homogenisierung rekonstruieren: Bei der Bewertung des Unterrichts wird davon ausgegangen, dass die Vermittlung auf eine Aneignung der fachlichen Normen abzielt, die bei allen Schüler*innen erwartet und als sehr ähnlich angenommen wird. Zum Beispiel werden die Aussagen der Schüler*innen vor dem Hintergrund standardisierter und generalisierter fachlicher Normen bewertet. Viertens lässt sich eine Orientierung an Optimierung rekonstruieren, wonach die Vermittlung und Aneignung fachlicher Normen als verbesserungsbedürftig konstruiert werden.

In diesem Beitrag werden die Typen zum gemeinsamen Thema Schülervorstellungen und fachliche Normen dargestellt.Footnote 2 In allen 15 Fällen sind beim Sprechen über dieses Thema drei Basis-Orientierungen handlungsleitend: (A) Orientierung an einer Relationierung von Schülervorstellungen und fachlichen Normen, (B) Orientierung an einem Ziel im Umgang mit Schülervorstellungen und (C) Orientierung an einer Bedeutungszuschreibung hinsichtlich der Schülervorstellungen für den Unterricht. Wie diese drei Basis-Orientierungen konkret ausgeprägt sind, unterscheidet sich zwischen den 15 Fällen. Es lassen sich minimale und maximale Kontraste in diesen drei Komponenten des Bewertungsmodus rekonstruieren: (A) Die Schülervorstellungen und die fachlichen Normen werden ausgehend von einer wertenden Perspektive auf eine unterschiedliche Art und Weise relationiert. (B) In den 15 Fällen werden verschiedene Ziele hinsichtlich des Umgangs mit Schülervorstellungen konstruiert, die den jeweiligen Bewertungen zugrunde liegen. (C) Die Bedeutung von Schülervorstellungen für den Unterricht wird unterschiedlich bewertet. Wir haben vier Typen herausgearbeitet, die im Folgenden mithilfe von TranskriptausschnittenFootnote 3 aus vier maximal kontrastierenden Fällen dargestellt werden. Die Darstellung der Interpretationen folgt nicht dem Gesprächsverlauf, sondern beginnt mit der Beschreibung von allgemeinen Basis-Orientierungen, um die Passung der Fälle zur Basistypik zu illustrieren. Die Darstellung ist dann nach den drei Basis-Orientierungen strukturiert, die zur Entwicklung der vier Typen genutzt wurden und die abgekürzt werden als (A) Relationierung, (B) Ziel und (C) Bedeutung von Schülervorstellungen (siehe Abb. 1).

Bezüglich der Darstellung der Ergebnisse ist zu beachten, dass sich die an den vier ausgewählten Fällen illustrierten Orientierungsrahmen homolog auch an anderen Transkriptstellen desselben Falls sowie anderer Fälle des jeweiligen Typs zeigen. Die Darstellungen dienen zur Illustration der verdichteten typenbildenden Interpretationen, die auf umfangreichen Fallvergleichen basieren (fallintern und fallübergreifend), die hier nicht dargestellt werden können. Die Typenbenennung ist an der unterschiedlich ausgeprägten Zielorientierung (B) ausgerichtet, da sich hieran die Unterschiede zwischen den Typen besonders gut verdeutlichen lassen.

Typen zum gemeinsamen Thema Schülervorstellungen und fachliche Normen

Typ 1: Vollständige Aneignung der fachlichen Normen durch Auffüllen von Fachwissenslücken und Korrektur von falschem Wissen

Die Gruppe HagebutteFootnote 4 besteht aus zwei Lehrerinnen und einem Lehrer einer Gesamtschule (3–5 Berufsjahre). Inhaltlich ist der folgende Ausschnitt Teil einer Passage, in der die Lehrer*innen darüber sprechen, wie mit Schüler*innenaussagen, die auf anthropomorphe und teleologische Schülervorstellungen hindeuten, umgegangen werden sollte und inwiefern die Lehrerin dies tut.

figure a

Entsprechend der Basistypik positionieren sich die Proband*innen als Personen, die die Lehrerin und die Schüler*innen bewerten können und dazu auch berechtigt sind. Die Aneignung der fachlichen Normen durch die Schüler*innen wird als wenig erfolgreich konstruiert („überhaupt gar keine Ahnung“) und die unzureichende Vermittlung der Lehrerin als ursächlich dafür konstruiert („zu viel durchgegangen“, „nichts angeschrieben“). Die Vermittlungstätigkeit der Lehrerin und die Aneignung durch die Schüler*innen wird vor dem Hintergrund einer fachlich korrekten Erklärung von evolutionsbiologischen Phänomenen bewertet, die als allgemein anerkannt und weitgehend eindeutig konstruiert wird („wie sieht’s jetzt wirklich aus“, „richtig“). In der Forderung einer anderen Vermittlungstätigkeit („dann muss ich halt wirklich Stück für Stück durchgehen was ist nicht richtig“) lässt sich eine Orientierung an einer Optimierung illustrieren, die darauf abzielt, dass sich alle Schüler*innen die fachlichen Normen aneignen.

(A) Relationierung: Im Fall Hagebutte lässt sich ein dichotomes Verhältnis rekonstruieren. Dies lässt sich anhand der Gegenüberstellung von „richtig oder falsch“ und „was davon jetzt stimmt und nicht“ illustrieren, wonach sich die als falsch angesehenen Schülervorstellungen und die als fachlich richtig konstruierten fachlichen Normen als eindeutige Gegensätze gegenüberstehen. So werden die Schülervorstellungen aus einer defizitären Perspektive heraus als ein Abgrenzungswissen konstruiert („falsch“, „was ist nicht richtig“).

(B) Ziel: Im Fall Hagebutte lässt sich rekonstruieren, dass das Ziel darin besteht, sich die fachlichen Normen vollständig anzueignen, indem Fachwissenslücken gefüllt werden und fehlerhaftes Wissen korrigiert wird. Die Korrektur von falschem Wissen lässt sich in der Verwendung der Metaphern „wirklich Stück für Stück durchgehen, was ist nicht richtig“ und „zu viel durchgegangen“ illustrieren, da im metaphorischen Sinne von der Lehrerin die fachliche Korrektheit der Äußerungen der Schüler*innen kleinschrittig geprüft und korrigiert werden soll. Das Auffüllen von Fachwissenslücken lässt sich anhand von weiteren Transkriptausschnitten rekonstruieren, in denen die Proband*innen die Äußerungen von Schüler*innen analysieren, deuten und dahingehend kritisieren, dass noch Aspekte fehlen (z. B. Fachbegriffe und Fachkonzepte wie „Selektion“ und „Mutation“). Diese werden als erforderlich konstruiert, sodass die Schüler*innen Evolution (noch) nicht vollständig richtig erklären.

(C) Bedeutung von Schülervorstellungen: Im Fall Hagebutte lässt sich rekonstruieren, dass Schülervorstellungen als Indikatoren für fehlendes und fehlerhaftes Wissen angesehen werden. Die Vorstellungen werden als bedeutsam für die Vermittlungstätigkeit der Lehrperson konstruiert, da sie als Abgrenzungswissen anzeigen, inwiefern die Schüler*innen die fachlichen Normen zur Erklärung von Evolution im Unterricht nutzen.

Typ 2: Entfernung der Schülervorstellungen und Austausch durch fachliche Normen

Die Gruppe Himbeere besteht aus zwei Studentinnen und einem Studenten im Master of Education Biologie. Inhaltlich ist der Ausschnitt der Beginn einer Passage, in der die Studierenden darüber sprechen, wie in dem gesehenen Evolutionsunterricht mit Schüler*innenaussagen, die auf anthropomorphe und teleologische Schülervorstellungen hindeuten, umgegangen wird.

figure b

Gemäß der Basistypik orientieren sich die Proband*innen in ihren Bewertungen an einer Homogenisierung, die dadurch deutlich wird, dass die unterschiedlichen Schüler*innen als eine Gruppe konstruiert werden („die Schüler das sehr gut verstanden haben“) und dass von einzelnen Beobachtungen in der Videovignette weitreichend auf alle Schüler*innen geschlossen wird.

(A) Relationierung: Im Fall Himbeere lässt sich ein dichotomes Verhältnis rekonstruieren. In der Verwendung der Metaphern „Fehlvorstellungen“ und „Aufklärung“ lässt sich illustrieren, dass Schülervorstellungen vor der Vergleichsfolie der fachlichen Normen generell als fehlerhaft und defizitär verstanden werden. Dies ist kohärent zur Verwendung von negativ besetzten Metaphern in anderen Passagen der Diskussion (z. B. „ganz verrückten Vorstellungen“, „Denkfehler“). Im Kontrast dazu werden bspw. beim Typ 4 Metaphern genutzt, deren Bedeutungen positiv besetzt sind.

(B) Ziel: Im Fall Himbeere lässt sich rekonstruieren, dass das Ziel darin besteht, dass die Schülervorstellungen entfernt und durch die fachlichen Normen ausgetauscht werden. So lässt sich in der Verwendung der Metaphern „Aufklärung betreiben“ und „ausgeräumt“ illustrieren, dass die „Fehlvorstellungen“ im metaphorischen Sinn als etwas Irrationales und Falsches angesehen werden. Es gilt Missverständnisse durch Belehrung zu klären, d. h. die Schülervorstellungen vor/bei der Vermittlung der fachlichen Normen aus dem Weg zu räumen, sodass die aufgeklärten Schüler*innen frei von alternativen Vorstellungen sind. Diese Zielsetzung lässt sich auch daran illustrieren, dass die Orientierung an einem vollständigen und für alle Schüler*innen gleichermaßen zu erreichenden Austausch der Vorstellungen durch die fachlichen Normen nicht irritiert wird, obwohl trotz Erarbeitung und Kontrastierung der Evolutionstheorien die erneut auftretenden Schülervorstellungen als überraschend markiert werden („die fangen wieder an“).

(C) Bedeutung von Schülervorstellungen: Im Fall Himbeere lässt sich rekonstruieren, dass die Schülervorstellungen als ein Problem der Vermittlung der fachlichen Normen angesehen werden, da sie als ein falsches Wissen konstruiert werden, das die Tätigkeiten der Lehrperson behindert.

Typ 3: Veränderung der Schülervorstellungen in die fachlichen Normen

Die Gruppe Feige besteht aus zwei Referendarinnen und zwei Referendaren, die an unterschiedlichen Universitäten studiert haben und nun Teilnehmende eines Fachseminars Biologie sind. Der Ausschnitt ist Teil der Eingangspassage, in der die Referendar*innen darüber sprechen, inwiefern in dem gesehenen Evolutionsunterricht die Vermittlung und Aneignung der fachlichen Normen gelingt und welche Bedeutung Schülervorstellungen dabei haben. Es geht u. a. darum, dass die Lehrerin die Schüler*innen fragt, warum die Zugvögel nach Süden ziehen und ihnen eine teleologische und eine proximate Antwortmöglichkeit zur Auswahl vorgibt: „Antwort (a) Sie wollen Kälte und Nahrungsmangel im Winter hier ausweichen, deshalb ziehen sie nach Süden. Antwort (b) Sie haben eine hormonelle Veränderung in ihrem Körper und deshalb verspüren sie eine Zugunruhe und müssen fliegen.“

figure c

Entsprechend der Basistypik wird eine wertende Perspektive auf den Unterricht eingenommen („die Frage gut beantworten“). In der Konstruktion eines Ziels bezüglich der Vermittlungstätigkeit („Zugang einmal herstellt“) lässt sich eine Orientierung an einer Optimierung illustrieren. Gemäß der Basistypik wird eine subsumtiv-generalisierende Beobachtungshaltung eingenommen, bei der die Frage der Lehrerin zum Vogelzug als eine Frage nach einer ultimaten Erklärung des Vogelzugs klassifiziert wird („durch den natürlichen Prozess als Anpassung entsteht“).

(A) Relationierung: Im Fall Feige lässt sich ein hierarchisches Verhältnis rekonstruieren. So werden die fachlichen Normen gegenüber den teleologischen Schülervorstellungen, welche grundsätzlich aber auch fachlich angemessene Aspekte enthalten können („der Sinn ist ja tatsächlich richtig“), aufgewertet. So werden im Fall Feige bspw. die fachlichen Normen in Bezug zu den Schülervorstellungen als die anzustrebende „neue Sichtweise“ und als das „neue fachliche Wissen“ konstruiert (gegenüber den Schülervorstellungen als alte Sichtweise und „Alltagswissen“). Kohärent dazu ist, dass der Typ 3, anders als der Typ 2, positiv konnotierte Metaphern für Schülervorstellungen nutzt („Sichtweise“, „Alltagswissen“), die daraufhin deuten, dass Schülervorstellungen als eine Erklärungsmöglichkeit von Evolution verstanden werden.

(B) Ziel: Im Fall Feige lässt sich rekonstruieren, dass das Ziel darin besteht, dass sich die Schülervorstellungen in die fachlichen Normen verändern. Dies lässt sich anhand der verwendeten Weg- und Raummetaphern „Zugang zu der neuen Sichtweise erhält“ und „das neue fachliche Wissen anzunehmen“ illustrieren, wonach im metaphorischen Sinne die alte Sichtweise zur „neuen Sichtweise“ und das „Alltagswissen“ in das „neue fachliche Wissen“ verändert werden sollen. Es lässt sich auch daran illustrieren, dass die Veränderung von teleologischen Schülervorstellungen als eine unterrichtspraktische Herausforderung der Vermittlungstätigkeit konstruiert wird („das Problem ist nur den Leuten klar zu machen dass der Mechanismus anders ansetzt“).

(C) Bedeutung von Schülervorstellungen: Im Fall Feige lässt sich rekonstruieren, dass die Schülervorstellungen als ein Problem der Vermittlung und Aneignung der fachlichen Normen angesehen werden, da sie diesbezüglich als hinderlich konstruiert werden. So erschweren sie im metaphorischen Sinne den „Zugang“ der Schüler*innen zu den fachlichen Normen und stellen daher eine unterrichtspraktische Herausforderung für die Lehrperson dar („Krux“). Im Kontrast zum Typ 2 werden die Schülervorstellungen also nicht nur aus einer Lehrendenperspektive als Problem der Vermittlung angesehen, sondern gleichzeitig auch aus einer Lernendenperspektive als ein Problem der Aneignung der fachlichen Normen verstanden. Zudem werden die Schülervorstellungen bei Typ 3, anders als bei Typ 2, nicht als ein falsches Wissen, sondern als ein noch unzureichendes Wissen und als ein Ausgangspunkt der Vermittlung und Aneignung der fachlichen Normen konstruiert („noch nicht so ganz den Zugang dazu hatten“, „der Sinn ist ja tatsächlich richtig; das Problem ist nur den Leuten klar zu machen dass der Mechanismus anders ansetzt“).

Typ 4: Vermeidung von Schülervorstellungen durch Bewusstsein für koexistierende Erklärungen

Der Fall Maracuja stellt ein Interview mit einem Lehrer dar, welcher seit sechs Jahren an einer Gesamtschule tätig ist. Inhaltlich ist der Ausschnitt Teil der Eingangspassage, in der der Lehrer über die Aneignung und Vermittlung von Evolution und den Umgang mit Schüler*innenaussagen, die auf anthropomorphe und teleologische Schülervorstellungen hindeuten, spricht.

figure d

Gemäß der Basistypik wird bei der Diagnose von Schülervorstellungen eine subsumtiv-generalisierende Beobachtungshaltung eingenommen, bei der Schüler*innenaussagen unter Kategorien („final“, „kleiner innerer Lamarck“) eingeordnet werden. Die Aussagen der Schüler*innen werden vor dem Hintergrund fachlicher Normen („synthetische Evolutionstheorie“) bewertet („wunderbar“).

(A) Relationierung: Im Fall Maracuja lässt sich ein Spannungsverhältnis und eine dialektische Relation rekonstruieren. Die Schüler*innen werden als Personen konstruiert, die sich fortlaufend zwischen zwei spannungsreichen Erklärungsmöglichkeiten von Evolution bewegen („verleitet“, „doch wieder“, „hinrutscht“). Dabei wird davon ausgegangen, dass die Schülervorstellungen zu den fachlichen Normen sowohl in Passung als auch in einer Diskrepanz stehen können. Die Passung lässt sich daran illustrieren, dass das Fachkonzept Population als vereinbar mit der Zurückweisung von anthropomorphen Vorstellungen konstruiert wird („das findet man selber abwegig“). Die Diskrepanz lässt sich daran illustrieren, dass das Fachkonzept Angepasstheit als unvereinbar mit teleologischen Vorstellungen angesehen wird („während die Erfahrung ich will was, also verändere ich das, die macht man ständig“).

(B) Ziel: Im Fall Maracuja lässt sich das Ziel rekonstruieren, dass Schülervorstellungen bei der Erklärung von Evolution durch ein Bewusstsein für ihre Koexistenz zu den fachlichen Normen vermieden werden. So lässt sich in der Verwendung der Metaphern „verleitet“ und „hinrutscht“ sowie der Formulierung „doch wieder final zu erklären“ illustrieren, dass davon ausgegangen wird, dass Schülervorstellungen trotz fachlicher Auseinandersetzung mit der Sache weiterhin bei den Schüler*innen vorhanden sind. Die Schüler*innen sollen zwischen Schülervorstellungen und fachlichen Normen unterscheiden können, was sich aus der Bewertung der Schüler*innen folgern lässt („noch nicht mal merken“). Das Ziel ist es, sich für eine fachlich angemessene Erklärung von Evolution zu entscheiden. Die Zielsetzung lässt sich auch in der Verwendung der Metapher „sprachlich auch immer daran zu arbeiten“ illustrieren, da der Umgang mit Schülervorstellungen als eine fortlaufende unterrichtliche Herausforderung für die Lehrperson und die Schüler*innen und durchweg als bearbeitungsbedürftig und mühevoll konstruiert wird („arbeiten“). Fallvergleichend wird deutlich, dass sich das Sprechen im Fall Maracuja an Kontingenz orientiert, wonach eine Zielerreichung möglich ist, aber gleichzeitig nicht notwendigerweise erreicht werden kann. Die Zielerreichung wird als fragil konstruiert, da sie Rückschritte beinhalten und scheitern kann. So können die Schüler*innen im metaphorischen Sinne „verleitet“ werden und erneut zu den Schülervorstellungen „hinrutsch(en)“. Im Kontrast dazu lässt sich bspw. im Typ 3 eine Orientierung an der dauerhaften Erreichbarkeit des Ziels rekonstruieren (Fall Feige: „Zugang einmal herstellt“, „einmal dahinter blicken“). Dies lässt sich auch daran illustrieren, dass die im Evolutionsunterricht erneut auftretenden Schülervorstellungen, anders als im Typ 2, nicht überraschend sind, sondern den eigenen Erfahrungen des Probanden entsprechen („ganz oft in mündlichen Prüfungen“). Im Gegensatz zu den Typen 2 und 3 können und sollen die Schülervorstellungen im Fall Maracuja nicht beseitigt oder verändert werden. Vielmehr werden sie als Teil der Schüler*innen angesehen und als etwas erfahrungsbasiertes und Unumgängliches konzeptualisiert („Erfahrung“). So lässt sich in der Verwendung der Metapher „kleinen inneren Lamarck“ illustrieren, dass lamarckistische Schülervorstellungen verniedlicht und als eine Person konzeptualisiert werden, die im metaphorischen Sinne Teil der Schüler*innen ist und aus ihnen heraus spricht.

(C) Bedeutung von Schülervorstellungen: Im Fall Maracuja lässt sich rekonstruieren, dass die Schülervorstellungen als ein bedeutsames Erfahrungswissen verstanden werden, welches förderlich oder hinderlich für die Aneignung und Vermittlung der fachlichen Normen sein kann („während die Erfahrung ich will was, also verändere ich das, die macht man ständig“). Die Schülervorstellungen werden insofern als hinderlich für die Aneignung konstruiert, als die Schüler*innen im metaphorischen Sinne durch sie davon abgehalten werden können, die fachlichen Normen zur Erklärung von Evolution zu nutzen und/oder diese anzueignen. In Passung dazu steht, dass das Hin- und Herwechseln zwischen schülervorstellungsnaher (wenngleich teleologischer) Sprache und fachlich angemessener Sprache als eine zentrale unterrichtspraktische Herausforderung im Umgang mit Schülervorstellungen konstruiert wird. Gleichzeitig werden die Schülervorstellungen, wenn sie statt in Diskrepanz in Passung zu den fachlichen Normen stehen, auch als Chance und förderlich für die Vermittlung und Aneignung konstruiert.

Zusammenfassende Darstellung der Ergebnisse

Mit der Basistypik und den vier Typen, die in der Tab. 1 zusammenfassend dargestellt sind, lässt sich beschreiben und verstehen, wie Studierende, Referendar*innen und Lehrpersonen mit dem Unterrichtsfach Biologie über den Umgang mit anthropomorphen und teleologischen Schülervorstellungen im Evolutionsunterricht sprechen und welches implizite Wissen dabei handlungsleitend ist.

Tab. 1 Übersicht über die Basistypik und die vier Typen zum gemeinsamen Thema Schülervorstellungen und fachliche Normen

Diskussion

Mithilfe der Basistypik und den vier Typen können Merkmale der Unterrichtswahrnehmung der Proband*innen bezüglich des Umgangs mit Schülervorstellungen beschrieben werden. Sie stellen eine „analytische Generalisierung“ dar (Przyborski und Wohlrab-Sahr 2014, S. 367), sodass die rekonstruierten Orientierungsrahmen über den konkreten Fall hinaus auch von allgemeiner Bedeutung sind. Um einen Beitrag zur evidenzbasierten Gestaltung (fachdidaktischer) Lehr‑/Lernangebote zur Professionalisierung von angehenden und berufstätigen Lehrpersonen zu leisten, werden exemplarisch Passungen und Differenzen zwischen den rekonstruierten Orientierungsrahmen und fachdidaktischen sowie professionstheoretischen Normen diskutiert. Aus diesem Vergleich können Reflexionsanlässe für die Lehrer*innenbildung abgeleitet und der Frage nachgegangen werden, wie eine typenübergreifende sowie typenspezifische Professionalisierung unterstützt werden kann.

Konsequenzen für eine typenübergreifende Professionalisierung

In seinen Studien zur professional vision arbeitet Goodwin (1994, S. 616) heraus, dass Angehörige einer Profession eine bestimmte Art und Weise von Wahrnehmung teilen, die er als „socially organized perceptual frameworks“ beschreibt und die Normen tradiert. Unsere typenübergreifenden Ergebnisse zur Basistypik, die die soziale Praktik des Sprechens über den Umgang mit Schülervorstellungen und implizite Handlungsroutinen charakterisieren, stützen diesen Befund bezüglich der Lehrer*innenprofession im Kontext der Unterrichtswahrnehmung. In allen 15 Fällen wurde als gemeinsamer Orientierungsrahmen ein Bewertungsmodus rekonstruiert, der die Unterrichtswahrnehmung strukturiert. Die Bewertung des Umgangs mit Schülervorstellungen erfolgt in einer weitgehend subsumtionslogischen Auseinandersetzung mit dem gesehenen Unterricht (Helsper 1996), wobei das Gesehene unter allgemeinen Kategorien von fachlichen und fachdidaktischen Normen subsumiert und bewertet wird. Die angehenden und berufstätigen Lehrpersonen nehmen basierend auf Kategorien und eigenen Normalitätserwartungen eine Bewertung vor, deren Geltung weitreichend als objektiv eindeutig gegeben angesehen wird. Dabei nehmen die fachlichen Normen (z. B. korrekte Fachsprache und fachinhaltliche Korrektheit) eine maßgebliche Bedeutung ein. Es werden bspw. die Aussagen der Schüler*innen und der Lehrerin und ihre anthropomorphen und teleologischen Vorstellungen zur Evolution hinsichtlich ihrer fachlichen Korrektheit bewertet. Insofern ist plausibel anzunehmen, dass die angehenden und berufstätigen Lehrpersonen die strukturidentische Erfahrung gemacht haben, dass es beim Sprechen über Unterricht darum geht, diesen vor dem Hintergrund fachlicher Normen weitgehend eindeutig zu bewerten. Bohnsack (2021, S. 125) geht davon aus, dass kollektiv geteilte Erfahrungen „konjunktive Erfahrungsräume“ konstituieren. Die Bewertung des Unterrichts vor dem Hintergrund der fachlichen Normen steht in Passung zu Normen aus der Unterrichtsqualitätsforschung, wonach bspw. ein weitgehender Konsens vorliegt, dass die „Akkuratheit und Korrektheit der thematisierten Inhalte sowie Fachmethoden“ eine „Subdimension“ der Unterrichtsqualität darstellt (Praetorius und Gräsel 2021, S. 171). Ein Bewertungsmodus ist nicht zuletzt auch aus einer bildungspolitischen Perspektive wichtig, da Lehrer*innen dazu verpflichtet sind, die Leistungen von Schüler*innen im Hinblick auf staatliche Vorgaben zu bewerten. Die hohe Bedeutung einer Bewertungshaltung beim Sprechen über Unterricht wurde auch in anderen Studien herausgearbeitet (z. B. van Es und Sherin 2008; Schiller 2019). Vom Bachelorstudierenden bis hin zur berufserfahrenen Lehrperson positionieren sich die Proband*innen in den 15 Fällen in einer Weise, zur Bewertung und Optimierung des gesehenen Unterrichts berechtigt und fähig zu sein. Dies ist für eine Professionalisierung sinnvoll, da von Lehrer*innen nicht nur ein guter Unterricht erwartet wird, sondern auch, dass sie deuten können, was hier als Qualität gilt. Ausgehend von der strukturtheoretischen Professionstheorie (Helsper 1996) besteht durch die Bewertungsroutine und der Dominanz der Subsumtionslogik aber auch die Gefahr, dass ein Verstehen des vorliegenden Falls sowie eine Auseinandersetzung mit dem Konstruktionscharakter und der Angemessenheit der eigenen Wahrnehmung kaum erfolgt. Dies lässt sich zum Beispiel am Fall Feige (Typ 3) daran verdeutlichen, dass die Referendar*innen die Frage der Lehrerin bezüglich des Vogelzugs („Die Zugvögel, die ziehen jetzt nach Süden. Warum machen sie das?“) als eine Frage nach einer ultimaten Erklärung klassifizieren und davon ausgehend die Antworten der Schüler*innen bewerten. Durch die Subsumtionslogik könnte beim Sprechen über diese Unterrichtsituation übersehen werden, dass eine Warum-Frage zu evolutionsbiologischen Phänomenen irreführend sein kann. Eine Warum-Frage ermöglicht die Konstruktion unterschiedlicher Fachlichkeit, sodass auch unterschiedliche Antworten erwartbar sind: (a) Funktionale Erklärung: Wozu dient der Vogelzug dem Vogel? (b) Proximate Erklärung: Wie kommt es dazu, dass die Zugvögel nach Süden ziehen? (c) Ultimate Erklärung: Wie könnte sich der Vogelzug entwickelt haben, wenn die Vorfahren der heutigen Vögel dieses Verhalten noch nicht zeigten? Eine schematisierte, standardisierte Perspektive auf den Umgang mit Schülervorstellungen, z. B. mithilfe von Kategorien von Schülervorstellungen und fachlichen Konzepten, ist notwendig. Aber erst die Rekonstruktion unterrichtlicher Wirklichkeit ermöglicht es, die sozialen Interaktionen im Unterricht zu beschreiben und zu verstehen (z. B. Ko-Konstruktion von Fachlichkeit). Aufbauend auf einem Fallverstehen lassen sich dann routiniert vorgenommene Kategorisierungen und darauf aufbauende Bewertungen, die weitreichende Konsequenzen haben können und dem Einzelfall möglicherweise nicht gerecht werden, überprüfen. Problematisch ist bspw., wenn Schüler*innen illegitime teleologische Vorstellungen unterstellt werden, wenn sie ihrerseits denken, dass von ihnen eine funktionale Erklärung des Vogelzugs erwartet wird. Erst die Rekonstruktion der Interaktion von Lehrperson und Schüler*innen im spezifischen Fall ermöglicht eine professionelle Wahrnehmung ohne vorschnelle Bewertung.

In allen Studien zur Unterrichtswahrnehmung erfolgt ein Vergleich mit fachdidaktischen und professionstheoretischen Normen, um Schlussfolgerungen für die Lehrer*innenbildung zu ziehen. Dabei arbeiten Lefstein und Snell (2011) eine defizitäre Perspektive von Forschenden auf die professional vision von Lehrer*innen heraus. Demnach würden Differenzen zwischen der Unterrichtswahrnehmung und Normen, die durch Forschende herangetragenen werden, als Anzeichen einer unzulänglichen Professionalität gedeutet. Wir möchten daher betonen, dass wir die professional vision von erfahrenen Lehrer*innen und Forschenden als gleichwertig wertschätzen und die Position vertreten, dass diese beiden Perspektiven auf Unterricht zur gegenseitigen Professionalisierung genutzt werden sollten. Die Annahme eines unauflösbaren Spannungsverhältnisses entsprechend des strukturtheoretischen Ansatzes bedeutet auch, dass nicht eine richtige Umgangsweise mit Schülervorstellungen und nicht eine richtige Wahrnehmung als Expertennorm existiert, der sich die angehenden und berufstätigen Lehrpersonen unterschiedlich gut angenähert haben. Vielmehr lassen sich die in dieser Studie rekonstruierten Orientierungen zur Reflexion der Sachantinomie nutzen, indem unterschiedliche Relationierungen von Schülervorstellungen und fachlichen Normen diskutiert werden.

Die in der Studie rekonstruierte Dominanz der Sachorientierung, die sich in allen vier Typen in unterschiedlichen Ausprägungen zeigt, lässt sich u. a. aus der Zielsetzung schlussfolgern, dass sich alle Schüler*innen die fachlichen Normen aneignen sollen, sodass ein verallgemeinerter Vergleichs- und Leistungsparameter für alle gleichermaßen gilt. Der theoretisch relevante Fall, dass bspw. eine Koexistenz von fachlichen Normen und anthropomorphen Schülervorstellungen ein legitimes unterrichtliches Ziel sein kann (Gebhard 1990), ließ sich empirisch nicht rekonstruieren. Empirisch zeigt sich auch nicht, dass sich die Zielvorstellungen im Umgang mit den Vorstellungen der Schüler*innen in Abhängigkeit von der Ausgangssituation der Schüler*innen unterscheiden oder dass die Zielerreichung unterschiedlich viel Zeit beanspruchen kann (Limón 2001). Zudem werden die Schülervorstellungen in keinem Fall aus einer wertschätzenden Perspektive als Bereicherung oder Ressource für die Vermittlung und Aneignung der fachlichen Normen konstruiert. In keinem Fall wird den Vorstellungen der Schüler*innen eine hohe Bedeutung für das Verstehen von Evolution zugeschrieben. Dieser theoretisch relevante Fall, indem bspw. darüber gesprochen wird, wie Schülervorstellungen Gegenstand des Evolutionsunterrichts werden und das Lernen der fachlichen Normen fördern können (Kattmann et al. 1997), ließ sich empirisch nicht rekonstruieren. Wie angehende und berufstätige Lehrpersonen die Bedeutung von Schülervorstellungen für den Unterricht bewerten, könnte von ihren handlungsleitenden Überzeugungen über das Lernen und Lehren beeinflusst werden (Limón 2001). Im Forschungsprojekt werden daher die rekonstruierten Typen zum Thema Schülervorstellungen und fachliche Normen mit den Typen zum Thema Vermittlung und Aneignung fachlicher Normen relationiert (Steinwachs und Martens, Manuskript in Vorbereitung).

Konsequenzen für eine typenspezifische Professionalisierung

Typenspezifische Professionalisierungsansätze sollten berücksichtigen, dass eine Personenorientierung typenvergleichend bei Typ 1 und 2 schwächer ausgeprägt ist als bei Typ 3 und 4, da die Schülervorstellungen aus einer defizitären Perspektive heraus als eindeutiger Gegensatz zu den fachlichen Normen konstruiert werden (richtig-falsch Dualismus). Eine Dichotomisierung in „richtig“ und „falsch“ könnte verhindern, dass bedeutsame Lerngelegenheiten, die sich durch die Vorstellungen der Schüler*innen im Unterricht ergeben, tatsächlich genutzt werden. Im Typ 1 sind sie im Lehr‑/Lernprozess unbedeutsam. Im Typ 2 sollen die Schülervorstellungen entfernt und durch fachlich richtige Vorstellungen ersetzt werden, wie es die klassische Conceptual Change-Theorie annimmt (z. B. Posner et al. 1982). Die Dominanz einer defizitären Perspektive auf Schülervorstellungen wurde auch in anderen Studien zur Unterrichtswahrnehmung herausgearbeitet (z. B. Mathematik: Jilk 2016). Die Personenorientierung ist bei Typ 3 stärker ausgeprägt, da die teleologischen Schülervorstellungen grundsätzlich auch fachlich angemessene Aspekte enthalten können, als ein Ausgangspunkt für Vermittlungs- und Aneignungsprozesse dienen sollen und als ein Problem für das Lernen der Schüler*innen konstruiert werden. Dies steht in Passung zu fachdidaktischen Konzeptionen, die die Entwicklung von Vorstellungen als Ziel konstruieren (z. B. Kattmann et al. 1997) und teleologische Schülervorstellungen als zentrale Lernschwierigkeit beschreiben (Harms und Reiss 2019). Bei Typ 4 zeigt sich die stärkste Personenorientierung, da aus einer anerkennenden Perspektive heraus die Schülervorstellungen als ein Erfahrungswissen konstruiert werden und von einem Spannungsverhältnis sowie einer dialektischen Relation zu den fachlichen Normen ausgegangen wird. So wird von einer Diskrepanz zwischen fachlichen Normen und Schülervorstellungen ausgegangen, die im Evolutionsunterricht nicht auflösbar ist und die die Schüler*innen voneinander unterscheiden sollen, um möglichst keine Schülervorstellungen zur Erklärung von Evolution zu nutzen. Dies steht in Passung zur fachdidaktischen Norm, wonach ein Bewusstsein für die Differenz zwischen Schülervorstellungen und fachlichen Normen und deren kontextspezifisch angemessene Anwendung angestrebt werden sollte. Combe und Gebhard (2012, S. 9) fordern bspw., fachdidaktische Normen und Schülervorstellungen systematisch zu vergleichen, um die Fähigkeit der „Zweisprachigkeit“ zu lernen. González Galli et al. (2020) sehen ein zentrales Ziel darin, dass die Schüler*innen metakognitive Fähigkeiten entwickeln, um die Verwendung von teleologischen Schülervorstellungen zu regulieren.

Praktiken der Unterrichtswahrnehmung mithilfe von Videovignetten explizieren und reflektieren

Eine Herausforderung bei der Datenauswertung besteht in der Unterscheidung zwischen explizitem Wissen und implizitem Orientierungsrahmen. Gleichzeitig bietet diese Differenzierung Potenzial für die Lehrer*innenbildung. Neben der Vermittlung von explizitem Wissen und Kompetenzen stellt auch die Diskussion und Reflexion von Orientierungsrahmen, die auf sozial tradierte und habitualisierte Normen hindeuten, eine wichtige Aufgabe dar. Dies lässt sich damit begründen, dass bspw. im Fall Hagebutte (Typ 1) explizit gefordert wird, dass die „Vorstellungen“ der Schüler*innen mit „Fachliteratur“ zu „widerlegen“ sind und andererseits sind bspw. beim Sprechen über Handlungsalternativen, wie sich bei der Rekonstruktion des impliziten Orientierungsrahmens zeigt, die Vorstellungen der Schüler*innen gerade nicht bedeutsam. Insofern ist davon auszugehen, dass es angehende und berufstätige Lehrpersonen gibt, die hinsichtlich ihrer Unterrichtswahrnehmung nicht alles können, was sie explizit wissen. Folglich reicht explizites Wissen nicht immer aus, um Unterricht professionell wahrzunehmen. Andererseits zeigen unsere Analysen auch, dass davon auszugehen ist, dass es angehende und berufstätige Lehrpersonen gibt, die nicht alles explizit wissen und äußern können, was sie gekonnt tun (siehe hierzu die Diskussion zur Unterscheidung von Wissen und Können bei Neuweg (2022)). Im Sinne des Habituskonzepts nach Helsper (2018) würde Professionalisierung bedeuten, dass angehende und berufstätige Lehrer*innen die handlungsleitenden Orientierungen ihrer Praktiken so weit wie möglich explizieren und reflektieren. Dies fordert auch Shulman (1988, S. 33) unter Bezugnahme auf Schön (1983): „While tacit knowledge may be characteristic of many things that teachers do, our obligation as teacher educators must be to make the tacit explicit.“ Ein praxistheoretischer Ansatz und die strukturtheoretische Professionstheorie ermöglichen hierbei u. E. professionsrelevante Perspektiven auf das Konstrukt der Unterrichtswahrnehmung bezüglich des Umgangs mit Schülervorstellungen, die in der Lehrer*innenbildung aktuell wenig Beachtung finden. Die in der Studie rekonstruierte Basistypik und die vier Typen können für die Lehrer*innenbildung Ansatzpunkte für das Reflektieren der eigenen impliziten Orientierungsrahmen darstellen. Dies stellt u. E. eine notwendige Bedingung dar, um die unbewusste Art und Weise zu verändern, wie über den unterrichtlichen Umgang mit Schülervorstellungen gesprochen und wie in Unterrichtssituationen gehandelt wird. Der rekonstruierte Bewertungsmodus, die Diskrepanz zwischen den Wissensbeständen der angehenden und berufstätigen Lehrpersonen sowie die beschriebenen Differenzen zwischen der Sachorientierung und fachdidaktischen sowie professionstheoretischen Normen liefern Ansätze, um eine Professionalisierung der Unterrichtswahrnehmung anzubahnen. Der Einsatz von Videovignetten im Rahmen eines fallrekonstruktiven Seminars bietet die Möglichkeit, viele der oben beschriebenen Herausforderungen für die Lehrer*innenbildung zu adressieren. Steinwachs und Gresch (2020) stellen hierzu erste Perspektiven vor. Auch das Kontrastieren und Vergleichen mehrerer Videovignetten könnte vielversprechend sein, um eine Analyse der Tiefenstrukturen und der sozialen Interaktionen im Unterricht, die für eine professionelle Wahrnehmung des unterrichtlichen Umgangs mit Schülervorstellungen bedeutsam sind, zu fördern (Lipowsky et al. 2022).

Limitationen der Studie

Die Ergebnisse unterliegen einigen Begrenzungen. Unser Forschungszugang lässt bspw. keine Rückschlüsse auf die Repräsentativität der Typen zu und auch fundierte Aussagen zur Verteilung der drei Personengruppen aus den drei Phasen der Lehrer*innenbildung auf diese sind nicht möglich. Grundsätzlich zeigt sich, dass sich Fälle aus allen drei Personengruppen in den Typen 1–3 verorten lassen. Typ 4 ist als eine Annäherung an das Typische zu verstehen, da ihm nur der Fall Maracuja (Interview mit einem Lehrer) zugrunde liegt. Insofern ist es möglich, dass trotz der Theoretical-Sampling-Strategie durch zusätzliche Fälle weitere Typen herausgearbeitet sowie die rekonstruierten Typen noch weiter ausdifferenziert werden können. Auf der Suche nach einer besseren Samplingstrategie sehen wir eine Herausforderung darin, in einem standardisierten Schulsystem, das nach Selektion und Homogenisierung strebt, angehende und berufstätige Lehrer*innen zu finden, die zeitweise auch die Vorstellungen der Schüler*innen in den Mittelpunkt des Lehr‑/Lernprozesses stellen. Zudem ist davon auszugehen, dass bei der Wahrnehmung des Umgangs mit Schülervorstellungen bezüglich anderer Themenfelder der Biologie auch andere Orientierungen rekonstruiert werden können.

Ausblick

Eine Perspektive für Folgestudien ist es, die Praxis der Lehrer*innenbildung zur Professionalisierung der Unterrichtswahrnehmung zum Gegenstand empirischer Forschung zu machen, um (De‑) Professionalisierungsprozesse zu beschreiben und besser verstehen zu können. Diese Erkenntnisse könnten, und darum sollte es letztlich gehen, wertvoll für die Verbesserung der Produkt- und Prozessqualität des Lehrens und Lernens im Themenfeld Evolution sein.