Einleitung

Für die Lehre an Schulen und Hochschulen wird zunehmend gefordert, traditionelle Formen der Wissensvermittlung um solche Angebote zu ergänzen, die es für Lernende erforderlich machen, sich selbsttätig Wissen anzueignen (Binkley et al. 2012; Häkkinen et al. 2017). Argumentiert wird, dass Lernende erst durch den eigenen Nachvollzug wissenschaftlicher Erkenntnisgewinnung dazu befähigt werden, Wissenschaft als Praxis und nicht nur auf Basis von Faktenwissen verstehen zu können (Abd-El-Khalick et al. 2004; Schwartz et al. 2004). In der Biologiedidaktik wird zu diesem Zweck der Einsatz des Forschenden Lernens an Schulen und Hochschulen empfohlen (KMK 2005, 2017; NRC 2000), bei dem der Lernprozess dem naturwissenschaftlichen Erkenntnisprozess didaktisch nachempfunden ist (Kremer et al. 2019). Im Lehramtsstudium ist die Förderung von wissenschaftsmethodischer Kompetenz durch Forschendes Lernen während der Lehramtsausbildung insofern relevant, da durch die eigene Erfahrung mit Formaten Forschenden Lernens eine reflektierte Vorbereitung auf die Schulpraxis gelingen kann (Capps und Crawford 2013; Schlüter 2019). Das praktische Erleben und das Durchlaufen der einzelnen Phasen des (idealisierten) Erkenntnisprozesses erhöhen zudem die Wahrscheinlichkeit des Einsatzes von Forschendem Lernen im späteren, eigenen Unterricht (Capps et al. 2012).

Bisher vorliegende naturwissenschaftsdidaktische Studien zum Forschenden Lernen untersuchen vorrangig die Lernwirksamkeit des Formats im Hinblick auf die Kompetenzentwicklung der Lernenden (u. a. Arnold et al. 2018; Forbes et al. 2020; Hammann et al. 2008). Empirisch kaum Beachtung findet die als zentrales Merkmal des Forschenden Lernens ausgewiesene Bedeutung der Arbeit in Gruppen, deren unterstützende Funktion für das komplexe Lernformat angenommen wird (Bruckermann et al. 2017; Mayer und Ziemek 2006; Messner 2009). Diejenigen Studien, die die Experimentierprozesse untersuchen, beziehen sich dabei auf unterschiedliche Zielgruppen (z. B. Arnold et al. 2014; Klahr und Dunbar 1988; Meier und Mayer 2012). Für den Bereich der Lehramtsausbildung sind uns lediglich drei Studien bekannt (Arndt 2016; Kambach 2018; Sonnenschein et al. 2019). Dieses Forschungsdesiderat aufgreifend und dabei die Bedeutung der Lehramtsstudierenden als spätere Multiplikatoren berücksichtigend zielt die vorliegende Studie darauf, Gruppenarbeitsprozesse von Lehramtsstudierenden des Unterrichtsfaches Biologie zu untersuchen. Mittels der Dokumentarischen Methode (Bohnsack 2021) wird das gemeinsame Experimentieren der Studierenden als soziale Praxis in den Blick genommen. Rekonstruiert werden die handlungsleitenden Orientierungen der Studierendengruppen sowohl hinsichtlich der fachlichen Erkenntniswege als auch in Bezug auf die Interaktionsmodi. Es gilt zu prüfen, ob sich die Erwartungen an wissenschaftliche Problemlöseprozesse (vgl. Abschn. Zielperspektiven Forschenden Lernens) in der Praxis bei den Lernenden rekonstruieren lassen und ob diese Erwartungen durch die Aushandlungsprozesse zwischen den Gruppenmitgliedern gefördert werden. Analysiert wird eine Experimentiersituation, die einer angeleiteten Form des Forschenden Lernens entspricht. Für den vorliegenden Beitrag wird dabei der Beginn der Gruppenarbeitsphase fokussiert.

Zum Forschenden Lernen in den Naturwissenschaften: Theorie und Erkenntnisinteresse

Das folgende Kapitel stellt zunächst die Zielperspektiven Forschenden Lernens dar. Daran anschließend werden bisher vorliegende empirische Befunde zum Experimentieren skizziert, wobei wir ausschließlich solche Studien berücksichtigen, die Experimentierprozesse – und nicht etwa Kompetenzmessungen – untersuchen. Davon ausgehend wird das Erkenntnisinteresse der vorliegenden Studie dargelegt.

Zielperspektiven Forschenden Lernens

Das Forschende Lernen wird allgemein als wissenschaftsbasierte und lernendenzentrierte Lehr‑/Lernform im Kontext des Kompetenzbereichs ‚Erkenntnisgewinnung‘ empfohlen (Kremer et al. 2019; Mayer und Ziemek 2006; Schlüter 2019). Es soll den Lernenden praktische Arbeitstechniken (mit dem Labor‑/Experimentiermaterial), wissenschaftliche Erkenntnismethoden und Charakteristika der Naturwissenschaften vermitteln (Mayer 2007). Intendiert ist, dass sich die Lernenden selbst in die Rolle von Wissenschaftler*innen begeben und von der Erarbeitung einer Fragestellung, dem theoriegeleiteten Generieren von Hypothesen, über die Planung und Durchführung einer Untersuchung hin zur Datenauswertung und -interpretation ihr eigenes ForschungsprojektFootnote 1 durchführen (Anderson 2002; Martius et al. 2016; Meier und Mayer 2012; Nerdel 2017; Pedaste et al. 2015). Das Durchlaufen dieser Phasen ist darauf ausgerichtet, das wissenschaftliche Denken vor allem im Sinne eines Problemlöseprozesses zu fördern (Mayer 2007).

Je nach zugrundeliegender Forschungsfrage können beim Durchlaufen des Forschungszyklus verschiedene Erkenntnismethoden zur Anwendung kommen. In der Biologie wird unterschieden zwischen Beobachten, Vergleichen und Experimentieren (Wellnitz und Mayer 2013). Allen drei Erkenntnismethoden liegt dabei im Idealfall ein hypothetisch-deduktiver Erkenntnisweg zugrunde (ebd.). Bei diesen Experimenten wird die Hypothese theoriegeleitet formuliert und experimentell geprüftFootnote 2 (Schulz et al. 2012). Generell geht es beim Experimentieren um die Untersuchung eines Kausalzusammenhangs zwischen der unabhängigen Variable (Einflussgröße) und der abhängigen Variable (Messgröße) unter Kontrolle von Störvariablen (Wellnitz und Mayer 2013).

Weiterhin kann beim Forschenden Lernen zwischen verschiedenen Offenheitsgraden hinsichtlich der Vorgaben der Lehrenden unterschieden werden, die sich in einem Spektrum von bestätigenden, strukturierten, angeleiteten und offenen Formen Forschenden Lernens befinden (Bell et al. 2005; Colburn 2000; Zion und Mendelovici 2012). Fradd et al. (2001) zeigten auf, dass es zielführend ist, wenn die Offenheitsgrade entsprechend dem Leistungsniveau der Lernenden schrittweise zunehmen. Dabei haben sich die Generierung einer Fragestellung und die eigenständige Planung eines dazu passenden Experiments als besonders anspruchsvoll erwiesen (ebd.).

Untersuchungen zu (studentischen) Experimentierprozessen

Bezugnehmend auf unser Forschungsinteresse am Prozessverlauf des Experimentierens beim Forschenden Lernen sollen hier entsprechend ausgerichtete Studien skizziert werden. Dabei beziehen wir uns aufgrund der überschaubaren Befundlage auf alle uns bekannten Untersuchungen und nicht nur spezifisch auf Studien mit Lehramtsstudierenden.

In der Studie von Klahr und Dunbar (1988) können mittels eines Programmier-Experiments eines Roboters (discovery task) zwei grundlegende Strategien unterschieden werden, anhand derer die (erwachsenen) Proband*innen entweder als „Theoretiker“ bzw. als „Experimentatoren“ neue Erkenntnisse generieren. Die „Theoretiker“ beginnen den Experimentierprozess mit einer Hypothese, auf Grundlage derer das Experiment geplant und im Anschluss die Hypothese geprüft wird (vgl. deduktives Vorgehen). Die „Experimentatoren“ hingegen sammeln durch ihr Experimentieren Daten und stellen anschließend eine Hypothese zur Erklärung dieser Daten auf (vgl. induktives Vorgehen). Bei Experimentierprozessen von Schüler*innen zeigen Meier und Mayer (2012) drei Typen von Handlungsverläufen auf, die als „prozessorientiert“, „explorativ“ und „prozessüberlappend“ beschrieben werden. Diese Typisierung erfolgt aufgrund der Abfolge der einzelnen Experimentierphasen (z. B. Abgrenzung von Planung und Durchführung vs. Überlappung), des Zeitpunkts der Hypothesengenerierung (zu Beginn vs. nach praktischer Durchführung) und des Theorie-Praxis-Verhältnisses (z. B. vorrangig Planung vs. praktische Durchführung). Arnold et al. (2014) stellen für Schüler*innen der Oberstufe fest, dass diese zwar in der Lage sind, Experimente grundlegend zu planen, sich jedoch Herausforderungen zeigen, sobald es um reflektierende Anforderungen (z. B. Störvariablen und Messwiederholungen) beim Experimentieren geht, was die Autor*innen auf fehlendes prozedurales Wissen zurückführen. Bonnet (2004) stellt für experimentbezogene Gruppenarbeiten im Chemieunterricht neben den fachlichen Aushandlungsprozessen die Bedeutung der dabei stattfindenden Interaktion heraus. Zentral bei Bonnet ist, dass die sogenannte „interaktionale Kompetenz“, welche Beziehungs‑, Partizipations‑, Argumentations- und Organisationsaspekte der Gruppenarbeitsprozesse umfasst, die Performanz der Gruppen maßgeblich beeinflusst.

Bisherige Studien zu Experimentierprozessen im Kontext der Lehramtsausbildung untersuchen die formale Abfolge verschiedener Phasen des Erkenntnisprozesses (vgl. Meier und Mayer 2012). Arndt (2016) ermittelte für Lehramtsstudierende der Chemie verschiedene (Ablauf‑)Muster, die den Wechsel zwischen den einzelnen Phasen aufzeigen. Insbesondere das oszillierende Muster, bei welchem zwischen mindestens zwei Phasen gesprungen wird, konnte mit intensiveren Überlegungen der Studierenden in Verbindung gebracht werden. Kambach (2018) zeigte für Experimentierprozesse bei Lehramtsstudierenden der Biologie ebenfalls, dass diese nicht idealtypisch verlaufen und Phasenwechsel stetig vorkommen. Außerdem stellte sie fest, dass von den Studierenden eigenständig wahrgenommene Fehler (häufig in Verbindung mit den zur Auswahl stehenden Experimentiermaterialien) dazu führen, Änderungen im Experimentierprozess vorzunehmen. Sonnenschein et al. (2019) beschreiben naturwissenschaftliche Arbeitsprozesse von (Lehramts‑)Studierenden der Chemie und stellen anhand zweier Fallanalysen dar, dass Hypothesen so formuliert werden, dass sie am Ende bestätigt werden können. Außerdem zeigte sich, dass eine Kombination verschiedener Erkenntnismethoden zu erfolgreichen Bearbeitungen führen kann. Ergänzend zu diesen, bisher vorliegenden Befunden formaler Abläufe bedarf es allerdings weitergehender Untersuchungen, wie das Experimentieren von Lehramtsstudierenden gestaltet wird und welches implizite Wissen, etwa über den Forschungsprozess oder die Bedeutung von Hypothesen, sich (dabei) zeigt.

Erkenntnisinteresse

Das Ziel unserer Untersuchung ist es, Gruppenarbeitsprozesse von Lehramtsstudierenden der Biologie zu Beginn des gemeinsamen Experimentierens im Rahmen einer Aufgabe des angeleiteten Forschenden Lernens zu analysieren. Ausgehend von einer praxistheoretischen Perspektive (Reckwitz 2003) nimmt die vorliegende Studie das gemeinsame Experimentieren der Studierenden als soziale Praxis in den Blick. Die Analyse dieser sozialen Praxis wird im Rahmenbeitrag als eine zentrale Untersuchungsperspektive der Dokumentarischen Methode ausgewiesen. Die Gruppenarbeitsprozesse werden dabei auf fachlicher Ebene (wie setzen sich die Gruppenmitglieder mit der Aufgabenstellung auseinander und wie beginnen sie den Erarbeitungsprozess?) und unter Berücksichtigung der dabei stattfindenden Interaktionen (wie nehmen die Studierenden bei der Aufgabenbearbeitung aufeinander Bezug?) rekonstruiert. Im Gegensatz zu einer präskriptiven Perspektive fachdidaktischer Forschung ist intendiert, die Experimentierprozesse der Studierenden (vorerst) nicht hinsichtlich ihrer erkenntnislogischen Angemessenheit und der programmatischen Zielsetzungen des (hoch-)schulischen Formats Forschenden Lernens zu bewerten. Vielmehr soll ein Beitrag geleistet werden, die ‚black box‘ der Untersuchung von in-situ Prozessen der universitären Lehrer*innenbildung aufzuklären (Herzmann et al. 2019), indem für das Forschende Lernen von Lehramtsstudierenden der Biologie analysiert wird, wie die Experimentierprozesse gestaltet werden und davon ausgehend zu rekonstruieren, welches Experimentierverständnis der Studierenden sich in ihren Handlungen zeigt. Fokussiert wird die Anfangsphase des Experimentierprozesses, da diese für den in unserer Studie vorgesehenen hypothetisch-deduktiven Erkenntnisweg als besonders anspruchsvoll gilt (Fradd et al. 2001). Die Auswertung erfolgt mittels der Dokumentarischen Methode, um die den Gruppenarbeitsprozessen zugrundeliegenden impliziten, handlungsleitenden Orientierungen der Gruppen zu rekonstruieren. In unserer Studie werden demzufolge sowohl die (experimentellen) Handlungen untersucht als auch die Art und Weise analysiert, wie die Studierenden das Experimentieren ausgestalten, und welches Verständnis ihrem Experimentieren zugrundeliegt bzw. inwiefern sie ihr Vorgehen als naturwissenschaftlichen Problemlöseprozess anlegen. Ergänzend zu den Befunden aus Beobachtungs‑, Befragungs- und Teststudien, die (studentisches) Wissen ermitteln, erlaubt die Untersuchung der sozialen Praxis des Experimentierens, Aneignungsmöglichkeiten und -grenzen von Lehramtsstudierenden beim Experimentieren aufzuzeigen (Asbrand und Martens 2018). So können jene Prozesse, die zum Kompetenzerwerb führen (sollen), in ihren Besonderheiten nachvollzogen werden, und gehen insofern über eine Ergebnis-Evaluation hinaus. Während bereits vorliegende prozessbezogene Studien insbesondere die formalen Abläufe (Abfolge der Phasen im Forschungszyklus) beim Experimentieren untersuchen, so liegt in unserer Studie – wie im Rahmenbeitrag angeführt – der Fokus auf der Analyse der Tiefenstruktur der von den Gruppen gewählten Erkenntniswege. Untersucht wird nicht nur, ob z. B. Hypothesen aufgestellt werden, sondern auch, wie eine solche Hypothesenbildung und die Aushandlung darüber in der Gruppe erfolgt. Diese Analyse ermöglicht es, „aus der Praxis heraus“ zu verstehen, wie Studierende die Anforderung des gemeinsamen Experimentierens im Kontext von Forschendem Lernen umsetzen, um dann im zweiten Schritt diese „Praxislogik“ mit den Erwartungen an naturwissenschaftliche Problemlöseprozesse in Beziehung zu setzen.

Methoden

Im Folgenden legen wir unser Untersuchungsdesign, unterschieden nach Erhebungsverfahren und Auswertungsverfahren, dar.

Erhebungsmethode, Stichprobe und Aufgabenstellung

Um einen detaillierten Einblick in die Gruppenarbeitsprozesse zu erhalten, wurde als Erhebungsmethode die Videographie gewählt. Die Videographie von Gruppenarbeiten ermöglicht den Zugriff auf die auditive und die visuelle Ebene der Interaktion (Dinkelaker 2010). Dies ist für die Analyse des Experimentierens von Gruppen bedeutsam, da dadurch einerseits die Verwendung des bereitgestellten Experimentiermaterials (Abb. 1b) in die Analyse integriert, andererseits die sprachliche und körpergebundene Interaktion der Gruppe untersucht werden kann. In der vorliegenden Untersuchung wurden zwei verschiedene Kameraperspektiven eingefangen (Abb. 1a).

Insgesamt wurden vier Gruppenarbeiten von Lehramtsstudierenden der Biologie aufgenommen. Die Gruppen bestanden aus jeweils drei Studierenden, wobei die Gruppenzusammensetzung zufällig erfolgte. Bei den Teilnehmer*innen handelte sich um Bachelor-Studierende am Ende des zweiten Semesters, die bereits das Modul „Grundlagen der Biologie“ besucht hatten, welches über eine Vorlesung sowohl biologische Fachkenntnisse sowie über einen laborpraktischen Teil Arbeitsmethoden und das Forschende Lernen vermittelte. Die Teilnahme an der Studie erfolgte freiwillig und wurde außerhalb der regulären Universitätsseminare angeboten. Die Studierenden befanden sich also nicht in einer für das Studium relevanten Bewertungssituation, d. h. die Gruppenarbeit wurde nicht benotet. Die Teilnehmer*innen hatten für die Bearbeitung der ihnen gestellten Aufgabe eine Stunde Zeit. Die Aufgabe (im Sinne des Forschenden Lernens) bezog sich auf die Erkenntnismethode des Experimentierens, da dieses (i) als besonders anspruchsvoll angesehen werden kann (u. a. durch die Variablenfestlegung (uV, aV), die systematische Veränderung der uV, die Konstanthaltung anderer Variablen), (ii) in seiner Durchführung auch Elemente des Beobachtens und Vergleichens umfasst, und (iii) an bisherige Vorerfahrungen der Lernenden aus dem Studium (Modul „Grundlagen der Biologie“) anknüpft. Die zu bearbeitende Aufgabenstellung („Was passiert mit Kartoffeln in Salzlösungen? Untersuchen Sie diese Fragestellung durch ein Experiment. Schreiben Sie die wichtigen Aspekte während des Experimentierens auf, sodass Sie als Gruppe ein aussagekräftiges Protokoll haben.“) wurde gewählt, da zum einen der Fachinhalt „Osmose“ in den vorangehenden Semestern Bestandteil der Lehre war und die Aufgabe somit (potenziell) an das Vorwissen der Lernenden anschloss. Die eher alltagssprachliche Formulierung der Aufgabenstellung und der bewusste Verzicht auf den Fachbegriff „Osmose“ machte es erforderlich, dass die Studierenden Theoriebezüge selbst herstellen mussten. Eine Art fachlicher Übersetzung ist somit Teil der gewählten Aufgabenstellung. Neben dem Verzicht auf eine fachinhaltliche Vorgabe wurde die Aufgabenstellung außerdem so formuliert, dass der zu untersuchende kausale Zusammenhang von Salzkonzentration zu Gewicht bzw. Größe der Kartoffelstücke nicht explizit benannt wurde. Auch die Herstellung dieser Kausalitätsannahme war als Eigenleistung der Studierenden konzipiert. Die Aufgabe kann als angeleitete Form Forschenden Lernens eingeordnet werden (Zion und Mendelovici 2012), bei welcher die fachlichen Handlungsanweisungen weitgehend offen gehalten werden. So wurden zwar das Experimentieren und Protokollieren vorgegeben, allerdings konnte die Ausgestaltung von den Studierenden u. a. im Hinblick auf Versuchsaufbau, Messzeiten, Anzahl der Versuchsansätze sowie Inhalt und Struktur des Protokolls (Ausgabe von Blankobögen für das Protokollieren) bestimmt werden. Praktikable Gründe wie die kurze Bearbeitungsdauer und die Ermöglichung einer gefahrlosen Durchführung wurden bei der Auswahl der Experimentieraufgabe ebenfalls berücksichtigt.

Abb. 1
figure 1

a Experimentiersetting mit Sicht auf die zwei Kameras und b Tisch mit Experimentiermaterialien

Datengrundlage und Auswertungsmethode

Die Auswertung der Videoaufnahmen der Gruppenarbeitsprozesse erfolgte mit der Dokumentarischen Methode wie im Rahmenbeitrag dargelegt. Auf die dort erläuterten Verfahrensschritte werden wir im Folgenden nicht ausführlich eingehen, sondern diese lediglich durch entsprechende Verweise kennzeichnen und nur spezifische Überlegungen betreffend unsere Vorgehensweise anführen. Für den vorliegenden Beitrag wurden zunächst die Eingangssequenzen der Gruppenarbeiten transkribiert sowie die für diese Sequenzen repräsentativen Fotogramme ausgewählt. Die Interpretation der Eingangssequenzen ist insofern relevant, als dass sich dort bereits erste handlungsleitende Orientierungen der Gruppe zeigen (Asbrand und Martens 2018). Mittels der formulierenden und der reflektierenden Interpretation – wie im Rahmenbeitrag erläutert – wurden dann die Eingangssequenzen im Hinblick auf handlungsleitende Orientierungen und Interaktionsmodi der Gruppe zu Beginn des gemeinsamen Experimentierens rekonstruiert (Asbrand und Martens 2018). Dabei beziehen sich die handlungsleitenden Orientierungen im Sinne Nohls auf die spezifische Praxis des Experimentierens und werden von uns nicht in einem weitergehenden Sinne als Orientierungsrahmen bzw. Habitus interpretiert (Nohl 2017). Die Analyse der Interaktionsmodi findet parallel zur Rekonstruktion der handlungsleitenden Orientierungen statt und gibt ergänzend Aufschluss darüber, ob in der Gruppe geteilte oder nicht geteilte handlungsleitende Orientierungen vorliegen (Asbrand und Martens 2018). Dies drückt sich – wie ebenfalls im Rahmenbeitrag ausgeführt – durch entweder inkludierende, also einvernehmliche, und exkludierende, also stärker aushandelnde, Interaktionsmodi aus (Przyborski 2004). Mit Hilfe kontrastiver Vergleiche zwischen den Gruppen wurden schließlich Homologien und Besonderheiten der Erkenntniswege herausgearbeitet. Die Bedeutung von Kontrastfällen – auch das macht der Rahmenbeitrag deutlich – liegt darin, dass seitens der Forschenden keine eigenen Bewertungsmaßstäbe an die Daten herangetragen werden.

Die Analysen der Aufgabenstellung sowie der Eingangssequenzen aller Gruppen wurden in verschiedenen Interpretationsgruppen vorgestellt und kommunikativ validiert. Dabei wurde sowohl gemeinsam in das Rohmaterial (Videodaten) geschaut als auch die angefertigten formulierenden und reflektierenden Interpretationen geprüft sowie hinsichtlich der rekonstruierten handlungsleitenden Orientierungen validiert. Dies war im vorliegenden Fall insofern von Bedeutung, als dass Teile des Projektteams für die fachdidaktische Lehre am untersuchten Standort zuständig waren, wodurch es zu Einschränkungen der intersubjektiven Gültigkeit der Interpretationen hätte kommen können.

Ergebnisse

Die Ergebnisdarstellung umfasst zunächst eine Übersicht über die handlungsleitenden Orientierungen beim Experimentieren sowie die Interaktionsmodi, die dann anhand der Unterscheidung in hypothesenbasiertes Vorgehen und materialbasiertes Vorgehen ausführlich vorgestellt werden.

Handlungsleitende Orientierungen und Interaktionsmodi zu Beginn des Experimentierens

Allen vier Gruppenarbeiten ist gemein, dass zu Beginn des Gruppenarbeitsprozesses die Aufgabe entweder still oder laut (vor-)gelesen wird. Die Einstiege in die Gruppenarbeit können insofern als Planungsphase bezeichnet werden, als dass ausgehend von der Aufgabenstellung erste Überlegungen zum Vorgehen diskutiert werden.

Insgesamt unterscheiden sich die Gruppen grundlegend dahingehend, ob sie hypothesenbasiert vorgehen oder sich über das Experimentiermaterial der Aufgabenbearbeitung annähern. Dies verläuft in zwei unterschiedlichen Interaktionsmodi (Abb. 2). Die Interaktionen erfolgen bei einer Gruppe im parallelen Modus, bei den drei anderen Gruppen im antithetischen Modus. Es handelt sich in allen Fällen um inkludierende Interaktionsmodi, d. h. in den Gruppen wird einvernehmlich entweder hypothesen- oder materialbasiert vorgegangen. Im parallelen Modus wird die Proposition (eingebrachtes neues Thema) gemeinsam und konsensual bearbeitet. Beim antithetischen Modus wird die Proposition ebenfalls gemeinsam elaboriert, allerdings werden verschiedene Orientierungskomponenten von den Gruppenmitgliedern eingebracht (vgl. Asbrand und Martens 2018).

Abb. 2
figure 2

Schemata handlungsleitender Orientierungen und Interaktionsmodi (Die separate Darstellung der beiden Analysedimensionen (handlungsleitende Orientierungen und Interaktionsmodi) in der Abbildung dient der Übersichtlichkeit und entspricht nicht dem Vorgehen im Analyseverfahren. Beide Dimensionen wurden im Rahmen der reflektierenden Interpretation parallel bzw. in Relation zueinander untersucht.)

Die nachfolgend zitierten Transkriptausschnitte dienen der Plausibilisierung der rekonstruierten handlungsleitenden Orientierungen.

Handlungsleitende Orientierung I: Hypothesenbasiertes Vorgehen

Ein hypothesenbasiertes Vorgehen kann bei den Gruppen A und B rekonstruiert werden, was im Folgenden illustriert wird.

Gruppe A: Sequenz 1

Ida:

Okay; wir ham ja forschendes Lernn, stelln wir mal unsere Hypothesen (ordnet Blätter) auf. (2) möchte wer schreibn, #00:01:27-5#

Durch IdasFootnote 3 Proposition wird das Aufstellen von Hypothesen explizit in den Kontext des Forschenden Lernens gestellt und damit als ein bestimmter Aufgabentyp gerahmt, der einem formalisierten Ablauf folgt. Die Verwendung des Plurals „Hypothesen“ verweist darauf, dass mehrere Hypothesen aufgestellt werden können und damit die Notwendigkeit der Einigung auf eine Hypothese nicht als zwingend angesehen wird.

Bei der ersten Sequenz von Gruppe B wird das Aufstellen von Hypothesen ebenfalls als erster, notwendiger Schritt formuliert und im Weiteren in der Gruppe in Form scheinbar zustimmender Äußerungen, bei denen die inhaltliche Zustimmung jedoch unklar bleibt, ratifiziert.

Gruppe B: Sequenz 1

Jens:

so, zuerst mal Hypothese und all so was noch ne? (2) können wir schon mal aufschreibn (3) (Nora reicht ihm den Stift an). so, (                         ) (schreibt) (4) #00:00:53-3# (…)

Jens:

so; die vier Sachn brauchn wir auf jedn Fall; (…) so. wir brauchn Hypothese Gegenhypothese abhängige unabhängige Variable. (schreibt) (2) #00:01:42-3#

Im Gegensatz zu Gruppe A werden bei Gruppe B weitere erforderliche Verfahrensschritte angedeutet, die zunächst umgangssprachlich formuliert werden („und all sowas noch“), im weiteren Verlauf jedoch von Jens elaboriert werden. Neben der Hypothese benennt er Gegenhypothese, abhängige und unabhängige Variable als für die Aufgabenbearbeitung zwingend erforderlich („brauchen“). Bezogen auf das in der Aufgabenstellung benannte „Protokollieren“ zeigt sich in beiden Gruppen, dass dieses bereits zu Anfang initiiert und somit als notwendiger Teil des Arbeitsprozesses gerahmt wird. Bei Gruppe B wird über das Protokollieren eine Vorstrukturierung des nachfolgenden Prozesses angelegt, indem Jens eine Verschriftlichung dessen initiiert, was von ihnen im Rahmen der Aufgabe erwartet wird. In Gruppe A deutet die Frage „möchte wer schreiben?“ auf eine Klärung der Zuständigkeiten hin. Entsprechend des hypothesenbasierten Vorgehens notiert diese Gruppe zunächst „H:“, allerdings findet die schriftliche Formulierung der Hypothesen erst später statt.

Die Notwendigkeit der Formulierung von Hypothesen ist bei beiden Gruppen für den weiteren Arbeitsprozess einvernehmlich, allerdings treten bei der Umsetzung Unsicherheiten auf. Diese sollen beispielhaft an Gruppe A gezeigt werden:

Gruppe A: Sequenz 2

Jan:

je höher die Salzkonzentration desto (holt Luft) (.) kleiner wird die Kartoffel, ich weiß nich; (knackendes Geräusch) ich kann mir dann vorstelln dass dann die Kartoffl irgendwie Wasser abgibt, #00:01:57-9# (…)

Jan:

und die Zelln dann irgendwie dann kleiner werden und die Kartoffel schrumpft; #00:02:01-7# (…)

Jan:

wäre so=ne grobe Überlegung. #00:02:03-7#

Ida:

vielleicht geht=s auch um Stärke? #00:02:05-5#

Laura:

ja └wollt grad sagn #00:02:06-0#

Ida:

└Oder?┘ #00:02:06-3#

Laura:

dass (°es Stärke abgibt°) #00:02:07-8#

Ida:

ich weiß nicht aber was passiert mit Stärke in Salzlösungen wir hattn das nur immer-, #00:02:12-3#

Jan:

passiert da was? #00:02:13-5#

Ida:

ich weiß es nich, (2) #00:02:16-0#

Laura:

nur wenn man (2) das testet; oder? ham wir da irgendwas für? (2) └so (          ) #00:02:21-7#

Ida:

└Hm:m┘ @(.)@ #00:02:22-6#

Jan:

dafür braucht man glaub ich die └Lugolsche Lösung. #00:02:23-2# (…)

Ida:

└Ja aber wir ham die┘ Lugolsche └Lösung nich #00:02:25-9# (…)

Ida:

└Wir- also wir solltn gar┘ keinn Stärkenachweis machn, #00:02:29-9#

Laura:

okay; ja dann geht=s da wohl nicht drum #00:02:30-9#

Ida:

└(räuspert sich) Solln wir also┘ eine ganze Kartoffel verwendn? #00:02:33-2#

Jan bringt die Hypothese ein, dass mit steigender Salzkonzentration die Kartoffel kleiner wird. Dabei macht er Gebrauch von einem Vergleichssatz (je … desto), der (hypothesenkonform) den Zusammenhang von zwei Variablen beschreibt. Er elaboriert weiter, dass eine Wasserabgabe durch die Kartoffel erfolgt, die Zellen kleiner werden und die Kartoffel „schrumpft“. Die anderen Gruppenmitglieder gehen nicht weiter auf Jans Vorschlag ein, sondern Ida bringt ein, dass es um Stärke gehen könnte. Hier wird ein weiteres mögliches Themenfeld eröffnet, ohne anfangs einen (begründeten) Zusammenhang mit den Salzlösungen herzustellen. Bei allen Gruppenmitgliedern zeigt sich eine Unsicherheit („Vielleicht“, „würde“, „ich weiß nicht“, „irgendwie“). Ob und was mit Stärke in Salzlösungen passiert, lässt sich nach Meinung von Laura nur durch einen Stärke-Test klären, was Jan mit der Lugolschen Lösung in Verbindung bringt. Die Aufmerksamkeit richtet sich ab dieser Stelle auf das verfügbare Material, und das Fehlen der Lugolschen Lösung im Material-Pool führt zur Einschätzung, dass es nicht um Stärke gehen kann. Auch wenn die Gruppe hypothesenbasiert begonnen hat, wird die hypothesenbasierte Vorgehensweise mit Blick auf das verfügbare Experimentiermaterial abgesichert.

In anderen Transkriptstellen zeigt sich, dass anhand des Materials auch Ideen für neue Ansätze der Hypothesenbildung generiert werden. Dies wird beispielsweise deutlich, wenn Kathi in Gruppe B infrage stellt, dass die Kartoffeln gekocht werden müssen, Nora aber auf das Vorhandensein der Heizplatte verweist. Die materialbasierte Vergewisserung findet in beiden Gruppen, die einen hypothesenbasierten Einstieg zeigen, statt. Der Bezug auf das Material deutet darauf hin, dass die Gruppen die Einschätzung der Angemessenheit der Aufgabenerledigung an den verfügbaren Experimentiermaterialien ausrichten.

Neben der materialbasierten Vergewisserung kann anhand der Sequenz 2 in Gruppe A ein antithetischer Interaktionsmodus rekonstruiert werden, da verschiedene Orientierungskomponenten hinsichtlich der Hypothesenbildung eingebracht werden: So wird der Einfluss der Salzkonzentration auf den Wassergehalt (Jan), aber auch auf die Stärke in den Kartoffeln (Ida, Laura) benannt. Bei Jans Ausführungen fällt auf, dass er seine Hypothese eher vage formuliert („Ich weiß nicht“, „ich kann mir dann vorstellen“, „irgendwie“). Jan beschließt seinen Beitrag, indem er seinen Vorschlag als „grobe Überlegung“ bezeichnet, was den anderen Raum zum Weiterdenken ermöglicht. Nach seinen Ausführungen geht keine der anderen auf seine Idee ein, sondern es wird ein Gegenvorschlag (Stärke) von Ida eingebracht, der von Laura zwar validiert, aber dann materialgestützt verworfen wird. Jans Hypothese wird dennoch nicht wieder aufgegriffen, sondern es findet eine durch Ida initiierte Themenverschiebung statt, indem sich dem praktischen Vorgehen zugewendet wird. Es kommt also vorerst zu keiner Konklusion, da sich die Gruppe nicht auf eine Hypothese einigt. Das Muster, dass Jans Beiträge nicht von den anderen elaboriert werden, wiederholt sich im Weiteren genauso wie die Bestätigungen zwischen Ida und Laura. Die Konklusion in Bezug auf die Hypothesenaufstellung erfolgt im späteren Verlauf des Gruppenarbeitsprozesses:

Gruppe A: Sequenz 3

Jan:

also unsere Hypothese kann ja lautn, je höher die Salzkonzentration? (.) desto (.) kleiner wird die Kartoffel dann? (2) wär jetzt meine Vermutung; dass die dann deutlicher schrumpft (2) #00:34:58-5#

Laura:

kann man ja. (klopft mit Stift auf Tisch)

#00:34:59-0#

Ida:

ja #00:34:59-5#

Laura:

man kann ja alles eigentlich schreibn (.) └und das dann widerlegn. (weißt du wie jetzt) genau. #00:35:01-7#

Ida:

└Wir könnn auch mehrere Hypothesn hinstelln┘ und dann=ne Gegenhypothese, (rührt) (2) desto höher die Salzkonzentration desto (2) egal oder egal welche Salzkonzentration du- Kartoffel bleibt gleich. #00:35:13-6#

Laura:

//mhm// #00:35:14-1#

Ida:

also ich glaube sie zerfällt. (2) ich glaub wir könnn ja jeder eine Hypothese aufstelln. #00:35:19-2#

Laura:

das was jeder denkt oder? (Ida rührt) (2)

#00:35:21-9#

Ida:

weil wir könnn ja H eins H zwei H drei habn; #00:35:24-8#

Laura:

ich glaube einfach die Stärke wird in das Wasser abgegebn; (2) sodass es dann milchig wird (7) #00:35:36-4#

Hier wird deutlich, dass Jan an seiner Hypothese festhält und diese erneut einbringt. Lauras Elaboration, dass „man“ das machen kann, drückt insofern Distanz aus, als dass sie relativierend hinzufügt, man könne „alles“ schreiben und das dann „widerlegen“. Damit rahmt sie Jans Vorschlag als einen möglichen, aber nicht zwingenden. Jans Hypothese wird weder aufgegriffen, noch wird eine gemeinsame Hypothese aufgestellt, sondern es wird vorgeschlagen, dass jeder eine eigene Hypothese formulieren kann. Durch diese Synthese (Konklusion beim antithetischen Modus) werden die verschiedenen Elaborationen nebeneinander stehen gelassen. Gleichzeitig dokumentiert sich hinsichtlich der Bedeutung von Hypothesen beim Experimentieren ein Verständnis, welches das Aufstellen der Hypothesen als ungerichteten Beginn des Experimentierens rahmt und es nicht darum geht, die eine „richtige“ Hypothese zu benennen. Das vorsichtige Vorgehen beim Aufstellen der Hypothesen zeigt sich auch durch die sprachliche Einbringung als „Vermutung“ oder durch die Formulierung „ich glaube“.

Auch in Gruppe B wird im antithetischen Modus interagiert, indem die Gruppenmitglieder sich bei der Hypothesengenerierung auf verschiedene Suchräume beziehen. Während Nora durch den alltagsweltlichen Bezug des Kochens Überlegungen zur Hypothesenbildung anstellt („Naja, aber wenn du jetzt mal überlegst, was passiert denn mit Kartoffeln, wenn man die kocht?“), finden bei Jens Überlegungen zu im Studium gesammelten Erfahrungen statt („Ich hatte nämlich in der Prüfung die Frage, was denn passiert, wenn Pflanzenzellen Wasser entzogen wird.“). Letztlich ist Jens derjenige, der den Raum zur Elaboration seines Erfahrungswissens von den anderen zugestanden bekommt, sodass sich die Gruppe davon ausgehend auf seine Hypothese einigen kann.

Handlungsleitende Orientierung II: Materialbasiertes Vorgehen

Für die beiden anderen Gruppen ist das Material durch die gesamte Eingangssequenz hindurch handlungsleitend.

Gruppe C: Sequenz 1

Vera:

Okay, ┘ (4) gut, (.) solln wir dann erst mal kuckn was wir benutzn? (.) #00:00:31-9#

Katja:

ja, würd ich sagn, (2) #00:00:32-8#

Anke:

ja. #00:00:33-7#

Gruppe D: Sequenz 1

Nico:

aber dafür müssn wir ja erst mal wissn was für ein Experiment └wir machn; #00:02:00-7#

Melanie:

└Genau;┘ #00:02:01-3#

Nico:

wir brauchn erst mal die Stoffe. (2) └wir ham die- #00:02:03-9#

Bei beiden Gruppen steht zunächst die (praktische) Auswahl der zu verwendenden Materialien im Fokus. In Gruppe C erfolgt das Zusammentragen der Materialen sehr detailliert. Die Durchführung des Experiments wird hingegen nur punktuell angesprochen (z. B. das Schneiden der Kartoffel), sodass implizit ein geteiltes Verständnis darüber vorzuliegen scheint, wie die gemeinsam ausgewählten Materialien benutzt werden sollen. Dabei ist die Interaktion durch einen parallelen Modus gekennzeichnet, der sich darin zeigt, dass die Proposition („Sollen wir dann erstmal gucken, was wir benutzen?“) von Anfang an über die gesamte Eingangsphase von allen Gruppenmitgliedern sich gegenseitig bestätigend elaboriert wird. Dies wird exemplarisch an der nachfolgenden Sequenz deutlich:

Gruppe C: Sequenz 2

Katja:

└Dann brauch=ma einn Spa-, nee quatsch. (Vera greift zu Spatel) doch. ja:a? (Vera legt Spatel hin) einn Spatl vielleicht noch? #00:02:04-2#

Vera:

(.) ja, #00:02:04-9#

Katja:

und=n Glasrührstab? #00:02:06-4#

Anke:

└mhm, zum- #00:02:06-7#

Katja:

└Zum Rührn,┘ #00:02:07-3#

Anke:

genau. (Vera legt Glasrührstab hin) (2) zum Vermengn, #00:02:10-1#

Die Sequenz beginnt mit Katjas Aussage, in der sie einbringt, dass sie als nächstes einen Spatel brauchen. Diese Aussage formuliert sie zunächst bestimmt, unterbricht den Satz und formuliert dann vorsichtiger. Es folgt eine Validierung (Zustimmung) von Vera auf verbaler Ebene und eine Enaktierung (Elaboration auf nonverbaler Ebene), indem sie einen Spatel in die Mitte des Tisches legt. In gleicher Weise wird von Katja als nächstes der Glasrührstab als weiteres Material, das sie benötigen, eingebracht, was von Anke ratifiziert wird. Katja und Anke bringen außerdem im Weiteren die Funktion des Glasrührstabs ein. Vera enaktiert den Vorschlag wieder durch das Bereitlegen des Glasrührstabs. Dieses gemeinsame Vorgehen bei der Auswahl der Materialien, welches durch gegenseitige Bezugnahmen und Elaborationen gekennzeichnet ist, zieht sich über die gesamte Eingangssequenz hinweg. Darin zeigt sich außerdem, dass die Gruppenmitglieder die Materialauswahl durchgängig verbal explizieren und auf die Validierung der anderen warten bzw. sich rückversichern, bevor eine handlungspraktische Umsetzung (Bereitlegen des Materials) erfolgt.

Bei Gruppe D erfolgt die Bezugnahme auf die Materialien zielgerichtet hinsichtlich der Experimentplanung, wie der folgende Ausschnitt zeigt:

Gruppe D: Sequenz 2

Nico:

wir untersuchn das nicht auf verschiedene äh Temperaturn? das(=s schon mal) unnötich? └(2) das heißt wir könnn theoretisch- #00:02:17-8#

Melanie:

└M (.) kann man machn; kann man trotzdem┘ doch └machn. #00:02:21-1#

Ralf:

└Wi- wir könnn┘ die Kartoffeln kochn. #00:02:22-1# (…)

Nico:

└Ja. dann kann man ja-┘ äh man kann da wirklich alles draus machn. was ich jetzt machn würde wäre zum Beispiel (holt kurz Luft) einmal die Kartoffel in Salzlösung? #00:02:38-4# (…)

Melanie:

└Ah okay.┘ dass wir einmal mal kuckn; wie die Kartoffel in der Salzlösung reag- also was da passiert, und einmal im Wasser. #00:02:47-8#

Nico:

genau. #00:02:48-2# (…)

Melanie:

└Das kann man auch;-┘ ja okay. dann machn wir das; └(so is gut) #00:02:52-2#

Im Transkriptausschnitt wird über die Notwendigkeit des Erhitzens der Kartoffeln diskutiert. Die Gruppe interagiert dabei in einem antithetischen Modus, da unterschiedliche Positionen in den Elaborationen vorliegen. Während Nico den Gebrauch der Heizplatte als nicht notwendig erachtet, elaborieren Melanie und Ralf, dass man es „trotzdem doch“ erhitzen könne. Nico erklärt im Weiteren, wie er vorgehen würde, wobei er seinen Vorschlag im Konjunktiv formuliert und als „Beispiel“ rahmt. Dies wird durch die anderen Gruppenmitglieder anerkannt, sodass sich auf ein Vorgehen verständigt wird.

Auch in den materialbasierten Gruppen wird die Notwendigkeit des Protokollierens jeweils thematisiert. In Gruppe C erfolgt die Verschriftlichung analog zu ihrem Vorgehen, indem das ausgewählte Material akribisch notiert wird („Materialien jetzt einmal hier aufschreiben“). In Gruppe D liegt der Fokus beim Protokollieren hingegen auf der Verschriftlichung der ermittelten Gewichte der geschnittenen Kartoffelstücke.

Diskussion

Unsere Untersuchung studentischer Experimentierprozesse intendierte, das gruppenbezogene Forschen als soziale Praxis von Lehramtsstudierenden der Biologie zu analysieren. Vergleichbar mit bereits vorliegenden, die Phasen von Experimentierprozessen untersuchenden Studien (Arndt 2016; Kambach 2018; Meier und Mayer 2012) deuten sich auch bei den von uns rekonstruierten hypothesen- bzw. materialbasierten Vorgehensweisen nicht-lineare, prozessüberlappende Verläufe an, da beim hypothesenbasierten Vorgehen die Hypothesenbildung zwar an den Beginn des Arbeitsprozesses gestellt wird, allerdings mit Phasen der Materialsichtung überlappt. Mit Ausblick auf den weiteren Verlauf der Gruppenarbeiten kann beim materialbasierten Vorgehen ebenfalls ein prozessüberlappender Verlauf aufgezeigt werden, da auch diese Gruppen später eine Hypothesenbildung vornehmen.

Darüber hinaus zeigen sich Unsicherheiten in der Aufgabenbearbeitung und beim experimentellen Problemlösen insofern, dass die ‚Richtigkeit‘ der Aufgabenerledigung – selbst beim hypothesenbasierten Vorgehen – über das bereitgestellte Material abgesichert wird. Das Material stellt somit zusätzlich zu dem in der Studie von Dunbar und Klahr (1988) genannten Vorwissen („memory“) einen weiteren Suchraum zur Hypothesenbildung dar. Das materialbasierte Vorgehen könnte u. a. auch durch die Vorgabe bedingt sein, ein Experiment durchführen zu müssen, was aus studentischer Sicht möglicherweise mit einer Priorisierung des praktischen Handelns gegenüber einer theoriegeleiteten Vorbereitung des Experimentierens verbunden ist. Ob es sich beim materialbasierten Vorgehen um eine handlungsleitende Orientierung der Gruppen handelt oder ob dieses Vorgehen durch die Aufgabenstellung hervorgerufen wird, muss hier zunächst offen bleiben. Insgesamt wird aber deutlich, dass die Experimentierverständnisse in den Gruppen zwar nicht expliziert, aber während der Gruppenarbeiten stets mitverhandelt werden. Beim hypothesenbasierten Vorgehen liegt dahingehend ein geteiltes Verständnis darüber vor, dass es sich beim Experimentieren um einen formalisierten Prozess handelt, der mit der Hypothesenbildung zu beginnen habe. Dabei wird das dafür notwendige Vorwissen jedoch nur sporadisch hinzugezogen und dessen Bedeutung für das Aufstellen von Hypothesen scheint den Studierenden nur bedingt klar zu sein. Dies zeigt sich dadurch, dass fachliche Aspekte (Stärke, Wasserverlust) eher assoziativ eingebracht werden. Das Experimentierverständnis beim materialbasierten Vorgehen bezieht sich hingegen auf ein praktisches Problemlösen. Bei beiden Vorgehensweisen – hypothesenbasiert und materialbasiert – wird sichtbar, dass eine möglichst korrekte Art der Aufgabenerledigung zentral ist, was sich in wiederholten (materialbasierten) Vergewisserungen zeigt.

Unsicherheiten während der Aufgabenbearbeitung konnten für alle Gruppen auch durch den Gebrauch von umgangssprachlichen Formulierungen rekonstruiert werden. Dies kann zum einen allgemein auf die Konstitutionsphase in studentischen (Arbeits‑)Gruppen verweisen (Sacher et al. 2021). Zum anderen kann mit Blick auf die Aufgabenstellung festgestellt werden, dass der fachliche Gegenstand des Experiments dort nicht weiter spezifiziert war. Den Studierenden wurde nicht vorgegeben, dass es um das Thema ‚Osmose‘ ging, wodurch die Überlegungen zur Hypothesengenerierung in verschiedene Richtungen gehen konnten (Stärke, Erhitzen, Wasserabgabe), was von uns im Sinne einer offenen Aufgabenstellung bewusst gewählt worden war.

Dabei fällt jedoch auf, dass entgegen der fachdidaktischen Erwartung einer theoriegeleiteten Hypothesenbildung (Nerdel 2017) zumindest in einem Fall eine unfokussierte und diffuse Praxis der Hypothesengenerierung sichtbar wurde, bei welcher jegliche Hypothese ihre Berechtigung zu haben schien, um dann im Zweifelsfall widerlegt zu werden. Diese Praxis zeigte sich, obwohl die Studierenden (potenziell) an das im Studium erworbene Vorwissen anknüpfen konnten. Dies steht den Ergebnissen von Sonnenschein et al. (2019) entgegen, die auch bei Studierenden das Phänomen der „fear of rejection“ – also die Befürchtung, die aufgestellte Hypothese widerlegen zu müssen – feststellen konnten. Damit können Unfokussiertheit (Berechtigung jeglicher Hypothese) als auch „fear of rejection“ als zwei unabhängige Probleme bei der Generierung sowie der Weiterarbeit mit Hypothesen angesehen werden. Außerdem wurde in unserer Studie offenbar, dass kaum Gründe zur Stützung der fachlichen Angemessenheit der Hypothesen benannt wurden. Diese kaum stattfindenden Aushandlungen der verschiedenen Orientierungskomponenten im antithetischen Modus könnten einerseits als Folge von unzureichenden Fachkenntnissen verschiedener Gruppenmitglieder, andererseits aber auch als Strategie der Gruppeninstandhaltung gedeutet werden. In jedem Fall stehen die fehlenden, vertieften Aushandlungen der Hypothesen sowohl den Erwartungen an einen naturwissenschaftlichen Erkenntnisprozess als auch der angenommenen unterstützenden Funktion der Gruppenarbeit entgegen. Die Studierenden elaborieren kaum die Vorschläge der anderen Gruppenmitglieder, sondern die verschiedenen Orientierungskomponenten bleiben entweder nebeneinander stehen oder es kommt zu Konklusionen, ohne dass die einzelnen Beiträge untereinander verhandelt werden. Dabei stellt die Gruppe, die im parallelen Modus interagiert, die Ausnahme dar, allerdings verbleiben die Aushandlungen dort auf Ebene der Materialauswahl, was als weniger kognitiv anspruchsvoll gelten kann und das gegenseitige Elaborieren erleichtern könnte. Bezüglich der unzureichenden Aushandlungen ist die von uns gewählte Aufgabenstellung (d. h. keine Vorgabe des zu untersuchenden Fachinhalts Osmose) insofern kritisch zu reflektieren, da die Studierenden über eine vorgegebene fachwissenschaftliche Einordung besser hätten an ihr Vorwissen anknüpfen und die Hypothesen mit mehr Orientierung intensiver diskutieren können. Allerdings hätte eine solche Vorgabe den inhaltlichen „Spielraum“ in der Diskussion stark eingeschränkt und vermutlich einen parallelen Interaktionsmodus befördert. Hinsichtlich der von uns gewählten Aufgabenstellung muss weiterhin berücksichtigt werden, dass diese von den Studierenden nicht explizit verlangte, einen kausalen Zusammenhang (in unserem Fall: Salzkonzentration zu Gewicht bzw. Größe der Kartoffelstücke) aufzustellen, sodass evtl. auch dadurch zu wenig Anleitung für intensive Aushandlungen gegeben war. Weitergehend zu untersuchen wäre deshalb, ob sich (a) bei anderen Aufgabenformaten, bei denen z. B. fachinhaltliche und/oder aushandlungsbezogene Vorgaben gemacht werden, oder (b) bei Experimentierprozessen in einem fortgeschritteneren Stadium der Lehramtsausbildung oder (c) beim Einsatz anderer Erkenntnismethoden wie dem Vergleichen und Beobachten, bei denen kein kausaler Zusammenhang zu untersuchen ist (vgl. Wellnitz und Mayer 2013), andere handlungsleitende Orientierungen der Gruppen zeigen.

Im Hinblick auf die weitreichenden Erwartungen, die an Forschendes Lernen und das eigene Experimentieren hinsichtlich der Förderung einer wissenschaftlichen Problemlösefähigkeit (Häkkinen et al. 2017; Mayer und Ziemek 2006) gestellt werden, zeigt sich also für die Anfangsphase der von uns untersuchten Gruppen zunächst eine Orientierung an der Erledigung der an sie gerichteten Aufgabe (vgl. Asbrand und Martens 2018). Dies überrascht für eine didaktisierte Lernsituation insofern nicht, als dass die Gruppen sich in der verfügbaren Zeit um eine finale Problembearbeitung bemühen (müssen). Dass dies auch für den Aufgabentyp Forschendes Lernen gilt, verweist auf die Wirkmächtigkeit des die Situation präfigurierenden, hochschulischen Kontextes (vgl. Herzmann und Liegmann 2020). Dies ist auch deshalb interessant, da das Erhebungssetting außerhalb eines regulären Seminars stattfand, die Studierenden sich also zum einen freiwillig dafür gemeldet hatten, zum anderen keine Leistungsbewertung erfolgte. Dies kann auf eine besondere Motivation der Teilnehmer*innen hinweisen. Zugleich wird deutlich, dass trotz des bewertungsfreien Settings die Anbahnung einer möglichst originären Forschungssituation auch im von uns untersuchten Fall Forschenden Lernens kaum gelingt. Dass die Experimentiersituation von den Beteiligten unterschiedlich ausgestaltet werden kann, zeigen die Rekonstruktionen der Gruppenarbeiten. Dass diese Lernsituation für die Studierenden aber nicht beliebig interpretierbar ist, deutet sich in unseren Analysen ebenfalls an: Für die Studierenden sind mit der Gruppenarbeit im Kontext angeleiteten Forschenden Lernens sowohl die Anforderungen verbunden, sich als Biologiestudent*in kenntnisreich im Hinblick auf das geforderte Experimentieren als auch sich als Kommiliton*in in einer Arbeitsgruppe als kompromissfähig zu zeigen. Ohne diese ‚Grundspannung‘ auflösen zu können, wäre wie bereits angedeutet, weitergehend zu untersuchen, welche Art der Aufgabenstellung im Kontext angeleiteten Forschenden Lernens das Potenzial hat, die intendierte naturwissenschaftliche Erkenntnisgewinnung hervorzubringen.