Am 14. Juni 2020 ist der aus Wien stammende, seit den 1960er-Jahren in (West‑)Berlin tätige Medizinhistoriker Gerhard Baader kurz vor seinem 92. Geburtstag gestorben. Als – in der Diktion der Zeit – „Halbjude“ als Jugendlicher bis zu Zwangsarbeit und Arbeitslager diskriminiert, hat er nach der Befreiung in Wien maturiert und – dem akademischen Milieu seiner Eltern entsprechend – vor allem Altphilologie studiert. Nach der Promotion ist er auf Empfehlung seines Doktorvaters Albin Lesky nach München gegangen, um an antiken Texten zu arbeiten. In dieser Zeit fand er sein eigentliches Thema: die Medizingeschichte. Um in dieser zu arbeiten, ging er 1967 an das Medizinhistorische Institut der Freien Universität Berlin, an dem er auch nach seiner Pensionierung bis unmittelbar vor seinem Tod tätig blieb (noch im Wintersemester 2019/20 hat er am Historischen Friedrich-Meinecke-Institut, seiner zweiten akademischen Wirkungsstätte in Berlin, ein zeitgeschichtliches Seminar gehalten. Er war – auch als Zeitzeuge – bis zuletzt ein gesuchter akademischer Lehrer). Für die Hinwendung zur Zeitgeschichte der Medizin war seine Mitwirkung am Ersten Gesundheitstag in Berlin 1980 über „Medizin im Nationalsozialismus. Tabuisierte Vergangenheit – ungebrochene Tradition?“ eine wichtige Zündung.

Damit sind die wesentlichen Züge seiner Persönlichkeit zumindest angedeutet: die Unermüdlichkeit seiner Ambitionen, die Zugewandtheit und Förderung junger Menschen und seine Identität als akademischer Forscher und Lehrer. Seine Diskriminierung als „jüdisch“ (wiewohl aus einem säkular lebenden Elternhaus kommend) und die Erfahrung der Solidarität unter Arbeitern während der Zwangsarbeit haben seine jüdische und sozialdemokratische Identität mitbegründet, die er mit der gleichen Unermüdlichkeit lebte wie seine akademischen Aufgaben.

Warum wird seiner mit diesem Text in einer psychiatrischen Zeitschrift gedacht? Das hat mit der Frage nach seinem Einfluss auf das Gedenken und Forschen über die österreichische Psychiatrie im Nationalsozialismus (und in den Jahrzehnten unmittelbar danach) zu tun. Man kann in Österreich zwanglos vier „Epochen“ solchen Gedenkens und Forschens seit 1945 mit je verschiedenen Motivationen und Verfahren unterscheiden, deren gemeinsames Grundmotiv selbstverständlich die Verurteilung der Verbrechen ist. Gerhard Baader war in der als dritte genannten „Epoche“ ein in Österreichs kleiner medizinhistorischen Szene, die in die (noch kleineren) historisch interessierten psychiatrischen Szenen hineinwirkte, ein sehr präsenter Mentor.

Diese „Epochen“ können etwa wie folgt beschrieben werden:

  1. 1.

    Unmittelbar nach der Befreiung und dem Ende des Krieges eine wenige Jahre dauernde Zeit, in der unter dem verheerenden Eindruck der unmittelbar zurückliegenden Verbrechen und des Krieges einerseits strafrechtliche Verfolgungen von unmittelbaren Tätern stattgefunden haben, und andererseits einzelne prominente Psychiater sich auf die Wirkungen der vordergründig überwundenen „Barbarei und des Terrorismus“ unter verschiedenen Gesichtspunkten bezogen haben: Otto Kauders (Professor und Klinikvorstand in Wien 1945–1949 [1,2,3])Footnote 1, Viktor E. Frankl (1946 habilitiert und Vorstand der Neurologischen Abteilung der Städtischen Poliklinik in Wien. [4]), Leopold Pawlicki (Direktor der Heil-und Pflegeanstalt Am Steinhof in Wien. [5]). Diese Autoren waren gleichzeitig Zeitzeugen und Proponenten der Weiterarbeit in der Psychiatrie in einem anderen Geist, zum Teil mit einem starken psychotherapeutischen Akzent [6], in einer materiell und emotional sehr schwierigen Zeit. Frankl hat von der „äußeren und inneren Ausgebombtheit“ gesprochen und Kauders’ Diktum vom „geistigen Massenelend“ in dieser Zeit zitiert (a. a. O., p 469)Footnote 2. Diese besondere gesellschaftliche Situation hellte sich in den auf die Befreiung und das Kriegsende folgenden Jahren auf.

  2. 2.

    In mehr als drei Jahrzehnten nach 1950 überdauerte ein kaum artikuliertes [7] Wissen über die Ereignisse zwischen 1938 und 1945, ehe die Erinnerung daran und das reflektierende Gedenken in den 1980er-Jahren – auch vor dem Hintergrund gesamtgesellschaftlicher Entwicklungen und Jahrestagen (z. B. 1938–1988) – zugenommen haben. Die Thematisierung der „Medizin im Nationalsozialismus. Tabuisierte Vergangenheit – ungebrochene Tradition?“ bei dem schon erwähnten ersten deutschen Gesundheitstag in Berlin 1980 blieb in den psychiatrischen Szenen Österreichs weitgehend unbekannt und wurde allenfalls retrospektiv in Aktivitäten der interdisziplinären Gruppierung „Kritische Medizin“ über den ehemaligen Mitarbeiter der Städtischen Nervenklinik für Kinder Am Spiegelgrund in Wien Dr. Heinrich Gross und seine Karriere nach 1950 erkennbar, seinerzeit aber wohl nur begrenzt wahrgenommen. Gerhard Baader war in diesen Jahren wie Michael Hubenstorf ein aus Berlin die vor allem medizinhistorische Szene in Österreich beobachtender geborener Wiener, aber in den psychiatrischen Szenen vermutlich kaum bekannt [8] (Baader noch Zeitzeuge, wenn auch als Jugendlicher, Hubenstorf schon Angehöriger einer Nachkriegsgeneration).

  3. 3.

    Auch Hartmann Hinterhuber in Innsbruck, der 1995 seine Monographie „Ermordet und vergessen. Nationalsozialistische Verbrechen an psychisch Kranken und Behinderten in Nord-und Südtirol“ [9] vorgelegt hat, die aus Erfahrungen während seiner sozialpsychiatrischen katamnestischen Studien [10] hervorgegangen istFootnote 3, hat sich weder in seiner Motivation noch in seinem Buch auf diese erwähnten (bundes-)deutschen Entwicklungen bezogen.

    Hingegen war Gerhard Baader bei den Wiener Bemühungen um eine an Forschung orientierte und Forschungen fördernde Auseinandersetzung mit der NS-Euthanasie und den Zwangssterilisierungen sehr präsent. Er war zuerst 1998 einer der Sprecher („Ethik in der Begegnung mit der Vergangenheit – ein Weg der Auseinandersetzung“) bei dem Dritten Wiener Gespräch zur Sozialgeschichte der Medizin „Medizin im Nationalsozialismus – Wege der Aufarbeitung“ [11], das im damaligen Psychiatrischen Krankenhaus Baumgartner Höhe stattgefunden hat, und hat 2000 zum Zweiten Symposion „Zur Geschichte der NS-Euthanasie in Wien. Von der Zwangssterilisierung zur Ermordung“ (mit „Vom Patientenmord zum Genozid – Forschungsansätze und aktuelle Fragestellungen“, [12]) und 2002 zum dritten (und letzten) dieser Symposien „Vorreiter der Vernichtung?“ (Teilnahme an der abschließenden Podiumsdiskussion/Fokussierung auf das Stichwort Biologisierung gesellschaftlicher Prozesse und die Aspekte eigene Betroffenheit-Täter-Opfer, [13]) beigetragen. Schließlich hat er 2014 bei dem gemeinsamen Symposion der Arbeitsgemeinschaft Geschichte der ÖGPP und des Vereines für Sozialgeschichte der Medizin (VSGM), an dessen Konzipierung er regen Anteil genommen hatte, über „Gesellschaft und Psychiatrie in Österreich 1945 bis 1970“ mit seinem Beitrag „Der gesellschaftliche Hintergrund der Psychiatrie in den westlichen Besatzungszonen Deutschlands (ab 1949 Bundesrepublik Deutschland) 1945–1970“ [14] Vergleiche mit den österreichischen Entwicklungen ermöglicht.

    Die medizinhistorische Forschung wird in Österreich inzwischen ja weitgehend von Historikern und Historikerinnen wahrgenommen. Sie bedienen sich dabei unter Anderem des auch in den 1990er-Jahren entstandenen VSGM, als dessen Mentor Gerhard Baader gilt, und der Vereinszeitschrift VIRUS. Bis in seine letzten Jahre hat er trotz einer zunehmenden Behinderung in seiner Mobilität selbst an entlegenen Tagungsorten des Vereines an den Tagungen teilgenommen. Davon zeugen auch die für die Psychiatrie relevanten Beiträge über „Genetische Unvollkommenheit. Geschichte und Gegenwart“ (2004, [15]), „Zwischen Züchtungsutopien, Leistungsideologie und der ‚Ausmerze‘ der sogenannten erblich ‚Minderwertigen‘. 20 Jahre Forschung in der Sozial-und Rassenhygiene“ (2005, [16]) und seine führende Mitwirkung bei der Herausgabe des Sammelbandes „Eugenik in Österreich. Biopolitische Strukturen von 1900 bis 1945“ [17]. Unter den jüngeren Historikerinnen und Historikern, die dazu beigetragen haben, waren einige zumindest teilweise seine Schülerinnen und Schüler.

  4. 4.

    Schließlich: Seit der Tagung der ÖGPP 2013 hat diese Gesellschaft dem Erinnern und Bedenken jeweils prominenten Raum (und Zeit!) gegeben und dabei in regem Austausch mit der deutschen Schwestergesellschaft DGPPP gehandelt. Gerhard Baader hatte daran außer bei der unter [5] erwähnten gemeinsamen Tagung der AG Geschichte der ÖGPP und des VSGM 2014 keinen Anteil.

In den 20 Jahren zwischen der Mitte der 1990er und der Mitte der 2010er-Jahre war er also eine wichtige Figur in der zeitgeschichtlichen Forschung zu den nationalsozialistischen Verbrechen in der Psychiatrie auch in unserem Land und ihren ideologischen Hintergründen – eine sehr kommunikative Persönlichkeit, deren besondere Authentizität und Legitimation auch in ihrer eigenen Lebensgeschichte begründet war. Vielen von uns, so auch mir und meiner Familie, ist er in diesen Jahren zum Freund geworden. Eine Runde dieser Freunde, darunter der als Professor an der Universität Wien emeritierte Wissenschaftshistoriker Mitchell Ash und der kurz davor ernannte Professor für Geschichte der Medizin an der Medizinischen Universität Wien Herwig Czech und viele seiner jüngeren Freunde haben seiner in zeitlicher Nähe zu seinem Geburtstag (den er gerne in ähnlicher Runde in Wien beim Heurigen gefeiert hat) in eben dem Lokal seiner gedacht, das zuletzt sozusagen sein Wohn- und Empfangszimmer in Wien war. Wir werden ihn gewiss nicht vergessen.