Hintergrund

Häusliche Gewalt ist ein in Europa weitverbreitetes Problem. So berichtet die Agentur der Europäischen Union für Grundrechte, dass innerhalb der EU etwa 33 % aller Frauen seit ihrem 15. Lebensjahr von ihrem Partner bzw. ihrer Partnerin oder einer anderen im Haushalt lebenden Person körperliche und/oder sexuelle Gewalt erfahren haben. In Deutschland sind 35 %, in Österreich 20 % [1] der Frauen betroffen. Eine bevölkerungsbasierte Studie in Österreich zeigt, dass Frauen im Laufe ihres Lebens zu 30 % körperlicher Gewalt, 40 % psychischer und 30 % sexueller Gewalt ausgesetzt sind. Für Männer liegen die Werte bei 28 % für körperliche, 31 % für psychische und 8,8 % für sexuelle Gewalt [2]. Frauen, die in Notaufnahmen aufgenommen werden, erleben aktuell häusliche Gewalt, mit einer Lebenszeitprävalenz von 36,6 % [3].

Das Erleben von Partnergewalt (IPV) und sexualisierter Gewalt (SV) sind bedeutende Gesundheitsrisiken für Frauen und ihre Kinder [4]. Die mit Gewalt in Verbindung stehenden gesundheitlichen Folgen sind vielfältig: Somatische und psychosomatische Symptome (z. B. Prellungen, Frakturen, Gesichts- und Schädelverletzungen, unerklärliche Schmerzen, gastrointestinale Beschwerden sowie Herz-Kreislauf-Symptome), psychische Erkrankungen (Belastungs- und Stressreaktionen, Essstörungen, Schlafstörungen, Angst- und Panikerkrankungen, PTSD, Depression und Suizidalität) sowie gynäkologische Erkrankungen (Fehl- und Frühgeburten, Schwierigkeiten während Schwangerschaft und Geburt, geringes Geburtsgewicht) und Entwicklung einer Suchterkrankung (Rauchen, Alkohol- und Drogengebrauch [5, 6]). Auch das Erleben von Gewalt während der Kindheit und Jugend kann in der Folge zur Ausbildung körperlicher Erkrankungen, wie beispielsweise Herzkreislauferkrankungen, Diabetes oder Schlaganfällen, führen sowie ein deutliches erhöhtes Risikoverhalten fördern [7]. In einer aktuellen Studie konnte gezeigt werden, dass die Kombination von frühkindlichen Traumatisierungen und häuslicher Gewalt im Erwachsenenalter die Auftretenswahrscheinlichkeit verschiedener körperlicher Erkrankungen (chronische Schmerzen, gastrointestinale Erkrankungen, Atemwegserkrankungen, Stoffwechselstörungen) signifikant erhöhen [8].

Gewaltbetroffene nehmen häufiger ärztliche Hilfe in Anspruch als Frauen, die keiner Gewalt ausgesetzt sind. 60 % der Frauen, die Gewalt durch ihren Partner erleben, suchen Hilfe im Gesundheitssystem (23 % in Krankenhäusern), wo hingegen nur 29 % der Betroffenen Hilfe in Opferschutzorganisationen wie Frauenhäusern oder anderen sozialen Einrichtungen suchen [1]. Aus den Ergebnissen unser kürzlich publizierten eigenen Studie wissen wir, dass am Landeskrankenhaus Innsbruck auch 15,7 % der befragten Männer angegeben haben, von Gewalt betroffen zu sein [9].

Zumeist berichten die Frauen nicht spontan von der erlebten Gewalt. Sie schämen sich, denken, sie seien selber Schuld oder ein Erzählen würde ihre Situation nur verschlimmern. Es ist einerseits die Angst vor dem Täter (z. B. „wenn du jemanden etwas erzählst, bring ich dich um“), aber auch die Angst vor den Behörden (z. B. Wegnahme der Kinder von Seiten des Jugendamts), die ein spontanes Berichten und das aktive Aufsuchen von Hilfe von Seiten der Betroffenen verhindert.

Somit kommt dem medizinischen Fachpersonal eine bedeutende Rolle bei der Identifikation und Behandlung von gewaltbetroffenen Personen zu [10, 11]. Dennoch werden in Krankenhäusern noch immer deutlich zu wenig von Gewalt betroffene Menschen vom medizinischen Fachpersonal erkannt und auf ihre Situation angesprochen [12, 13].

Von Seiten des medizinischen Fachpersonals werden vor allem ein Mangel an Zeit, die abweisende Haltung der Patientinnen und Patienten und auch „ein Vergessen“, danach zu fragen (vielleicht ein Produkt der gemeinsamen Abwehr der Patientinnen und der Behandler), als Hindernisse genannt [14]. Auch eine spürbare Unsicherheit von Behandlerinnen und Behandlern nach Gewalt zu fragen, kann es den Betroffenen erschweren, Gewalterfahrungen zu thematisieren [15]. Hinzu kommt die Tatsache, dass Personen jeden Alters, sozialen Status und ethnischer Zugehörigkeit von Gewalt betroffen sein können, so dass es außer dem Auftreten spezieller Verdachtsmomente im Kontakt keine spezifischen Merkmale gibt, die auf Gewalt hinweisen [16].

In Studien wurde immer der Nutzen eines generellen Screenings nach Gewalt in Krankenhäusern diskutiert [17, 18]. Ein Screening nach Gewalterfahrung kann neben der Entlastung des Personals den zusätzlichen Effekt haben, dass Betroffenen das Problem bewusster werden kann, auch wenn es ihnen zu diesem Zeitpunkt vielleicht noch nicht möglich ist, Veränderungen oder Handlungen zu setzen [19].

Die frühe Identifikation und adäquate Versorgung von Gewalt-Betroffenen ist eine zentrale Aufgabe des Gesundheitssystems. Dem wurde im Jahr 2011 Rechnung getragen, als von der Republik Österreich ein Gesetz verabschiedet wurde, das Krankenanstalten die Einrichtung einer Opferschutzgruppe (OSG) vorschreibt, denen die Früherkennung häuslicher Gewalt sowie die Sensibilisierung des medizinischen Fachpersonals für häusliche Gewalt obliegt [20]. Die Gründung der OSG im Landeskrankenhaus Innsbruck (LKI) erfolgte im März 2012. Mittlerweile konnte von der OSG des LKI ein dreistufiges Ausbildungsprogramm für medizinisches Fachpersonal implementiert und der erste Zyklus der Ausbildung evaluiert werden. Die Module sind aufeinander aufbauend (von einer Dauer von 15 min, über 90 min bis zu einem Tag) und umfassen neben der Vorstellung der OSG, spezifischen Informationen über häusliche Gewalt und Hinweisen zur Gesprächsführung auch Rollenspiele und Falldiskussionen (Details siehe Tab. 1).

Tab. 1 Sensibilisierungsschulungen am Landeskrankenhaus Innsbruck

Methode

Seit Beginn der interdisziplinären Schulungen haben mittlerweile rund 1000 Krankenhaus-MitarbeiterInnen an dem mehrstufigen Ausbildungsprogramm teilgenommen. Ca. 1000 TeilnehmerInnen besuchten Modul 1 und 2, ca. 100 absolvierten Modul 3. Nur einige wenige Teilnehmerinnen und Teilnehmer absolvierten vor dem Besuch des Moduls 3 entweder Modul 1 oder 2. Diese wurden nicht in diese Erhebung miteingeschlossen. 76 der Teilnehmerinnen und Teilnehmern von Modul 3 wurde vor und nach dem Training ein Evaluationsbogen ausgehändigt, in dem neben demografischen Fragen (Alter, Geschlecht, Berufsgruppe und Berufserfahrung) auch insgesamt 13 Fragen zur empfundenen Sicherheit im Umgang mit gewaltbetroffenen Patientinnen und Patienten gestellt wurden. Die Daten der vorliegenden Untersuchung wurden in den Jahren 2018 und 2019 erhoben. Dabei wurde eine adaptierte und den in Innsbruck vorliegenden Gegebenheiten angepasste Form der Evaluation gewählt, die bereits bei einem ähnlichen Projekt in Düsseldorf zum Einsatz gekommen ist [21].

Die statistischen Analysen wurden mit SPSS (v22.0) durchgeführt. Die Größe der Effektstärken wurde mittels Cohens’ d errechnet, wobei Werte von d = 0,3 wurden als kleine Effekte, d = 0,5 als mittelgradige Effekte und d = 0,8 als große Effekte interpretiert wurden [22, 23].

Ergebnisse

Insgesamt konnten 70 Fragebögen in die Auswertung aufgenommen werden. Davon wurden 55 (79 %) von Frauen und 15 (21 %) von Männern ausgefüllt. Im Durchschnitt waren die teilnehmenden Personen 40,5 Jahre alt und seit 5,8 Jahren in ihren Berufen tätig. Es nahmen 35 VertreterInnen der Pflege (50,0 %), 17 SozialarbeiterInnen (24,3 %) sowie 12 Ärztinnen bzw. Ärzte (17,1 %) an dem Fortbildungszyklus teil. Weitere 6 Teilnehmerinnen (8,6 %) kamen aus anderen Berufen.

Die Auswertung der Fragebogenuntersuchung hinsichtlich den Veränderungen im Gefühl der Sicherheit im Umgang mit Patientinnen und Patienten mit Gewalterfahrungen nach der Schulung zeigten eine deutliche Verbesserung in den meisten erfragten Bereichen. Bei 11 der dreizehn gestellten Fragen konnten nach der Schulung signifikant bessere Werte in der empfundenen Sicherheit der Teilnehmerinnen und Teilnehmer in Bezug auf gewaltbetroffene Patientinnen bzw. ein signifikant geringeres Stresserleben nachgewiesen werden.

Die deutlichsten Veränderungen (Effektstärke >0,8) zeigten sich hinsichtlich der Sicherheit im Umgang (p < 0,001; d = 1,2), der Gesprächsführung mit Gewaltbetroffenen (p < 0,001; d = 1,2), dem Wissen wie am besten psychologische Hilfe angeboten werden kann (p < 0,001; d = 1,2) sowie der Kenntnis über Ressourcen, auf die betroffene Patientinnen und Patienten zurückgreifen können (p < 0,001; d = 1,1). Lediglich in Bezug auf die Gefahr, sich mit gewaltbetroffenen Patientinnen und Patienten identifizieren zu können sowie der Angst, diese zu retraumatisieren, zeigten sich keine signifikanten Veränderungen durch die Schulung. In diesen Bereichen zeigten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer jedoch bereits vor der Schulung recht gute Werte (Details siehe Tab. 2).

Tab. 2 Ergebnisse der Prä‑, Postbefragung

Fazit für die Praxis

Für Betroffene von Gewalt ist das Gesundheitswesen eine der wichtigsten Anlaufstellen auf der Suche nach Hilfe und Unterstützung [1]. Umso bedeutender ist es, dass die Angehörigen der medizinischen Fachberufe sensibel gegenüber dem Thema „Gewalt“ und auch entsprechend sicher darin sind, dies mit den betroffenen Patientinnen und Patienten ansprechen bzw. diese an geeignete Hilfseinrichtungen weitervermitteln zu können.

Das stufenweise Trainingsprogramm, das am Landeskrankenhaus Innsbruck angeboten wird, verbessert das subjektive Gefühl der Sicherheit des medizinischen Fachpersonals im Umgang mit gewaltbetroffenen Patientinnen und Patienten. Am Landeskrankenhaus Innsbruck werden alle drei Module angeboten, wobei die Module 1 und 2 vorwiegend auf Anfrage für ganze Stationsteams angeboten werden, während das Modul 3 für alle frei zugänglich ist. Nachdem die Versorgung von diesen Patientinnen und Patienten trotz der doch erheblichen Anzahl an Betroffenen nicht zur alltäglichen Routine zählt, ist eine regelmäßige Wiederholung der Schulungen sinnvoll und nötig.

Die Bereiche, in denen das angebotene Schulungsprogramm keine signifikanten Verbesserungen bringen konnte, beziehen sich überwiegend auf die eigene emotionale Befindlichkeit des medizinischen Fachpersonals im Umgang mit gewaltbetroffenen Patientinnen und Patienten. Unserer Ansicht nach benötigt es dafür zusätzliche Angebote, wie beispielsweise moderierte Fallbesprechungen oder auch ein spezielles Supervisionsangebot, um das Befinden in diesen Bereichen verbessern zu können. Die Notwendigkeit dieser Angebote wiederum könnte in den Schulungen dargelegt und etwaige Vorbehalte dagegen somit reduziert werden.

An den evaluierten Schulungen haben nur wenige Ärztinnen und Ärzte teilgenommen, was einerseits an strukturellen Gegebenheiten (zeitliche und personelle Ressourcen, Dienstpläne usw.) liegen kann oder dass es andererseits bisher zu wenig gelungen ist, diese Berufsgruppe zur Teilnahme an den Schulungen zu motivieren und die Relevanz des Themas auch für Ärztinnen und Ärzte deutlich zu machen. Als Konsequenz daraus könnte überlegt werden, ein spezielles Schulungsangebot für Ärztinnen und Ärzte anzubieten.

Die empfohlene Struktur der Communication Skills Trainings in der Onkologie, die in der Regel aus Basiskurs und Aufbauseminaren, Fallbesprechungen, Vertiefungsseminaren und Rollenspielen sowie dem Beziehungsaufbau und dem Umgang mit entstehenden Emotionen bestehen [24], lässt sich nach unseren Erfahrungen gut auf Sensibilisierungstrainings gegenüber häuslicher Gewalt übertragen. Auch wäre eine erneute Befragung der Teilnehmerinnen und Teilnehmer in einem größeren Abstand zur Schulung sinnvoll, um die Nachhaltigkeit der Ergebnisse (Gefühl der Sicherheit bei den Befragten) zu überprüfen.