Die Frage nach der sinnvollen Versorgung für Menschen mit psychischen und körperlichen Krankheiten ist eng verknüpft mit der Rolle und Ausrichtung der Konsiliar- und Liaisonpsychiatrie. Im Laufe der Differenzierung und Spezialisierung des großen Gebiets der Psychiatrie in den letzten 50–60 Jahren hat sie sich als psychiatrische Subdisziplin heraus entwickelt, die für klinische Praxis, Forschung, Bildung, Versorgungs- und Berufspolitik an der Nahtstelle zur somatischen Medizin zuständig ist.

Erste Voraussetzung für eine zweckmäßige Versorgung ist es, die somato-psychisch kranken Menschen und ihre Behandler und Betreuer überhaupt zu erreichen. Dies ist aber nur dann möglich, wenn ein ausgebautes Versorgungsnetzwerk besteht, welches einerseits über die notwendigen Ressourcen verfügt und andererseits es auch erlaubt, Patienten aufzusuchen, sie also dort zu erreichen, wo sie sich befinden. Diese Patienten werden nämlich nicht nur in nicht-psychiatrischen Krankenhäusern und Rehabilitationskliniken betreut, sondern auch in Praxen von hausärztlichen Grundversorgern und in Heimen. Darüber hinaus müssen die an der Behandlung oder Betreuung beteiligten Fachleute (Mediziner, Pflegekräfte, Pädagogen, Sozialarbeiter etc.) für psychiatrische und psychosoziale Themen sensibilisiert und darin geschult werden – auch dies eine „klassische“ Aufgabe der Konsiliar- und Liaisonpsychiater. Es müssten also „verbindende“ Dienste geschaffen werden, deren Wirkungsradius über die Grenzen des Allgemeinkrankenhauses hinaus bis in die Hausarztpraxen, Pflegeheime und Einrichtungen für Menschen mit geistiger Behinderung reicht [1]. Dieser „Liaison“-Charakter sollte auch innerhalb der Krankenhäuser zum Tragen kommen und zu einer vertieften Kooperation mit den somatischen Abteilungen führen, z. B. in Form von interdisziplinären Angeboten wie Gedächtnisambulanzen, Schmerzzentren oder Zentren für Neurostimulation.

Ein herausforderndes Problem, mit dem sich der Konsiliar- und Liaisonpsychiater im beruflichen Alltag oft konfrontiert sieht, ist die Stigmatisierung. Dieses Phänomen umfasst neben der Stigmatisierung von Menschen mit psychischen Erkrankungen auch diejenige von Psychiatern, psychiatrischen Institutionen und Behandlungen [2]. Die Angst der Patienten vor Stigmatisierung erhöht die Schwelle für die Inanspruchnahme psychiatrischer Dienste erheblich und senkt die Akzeptanz für psychische Störungsbilder zugunsten somatischer Krankheitskonzepte. Es ist daher eine weitere Aufgabe des Konsiliarius, „aufsuchende“ Aufklärungsarbeit zu leisten – in den nicht-psychiatrischen Versorgungseinrichtungen, aber auch in der Öffentlichkeit.

In den letzten Jahren ist eine weitere „Aufklärungsarbeit“ der Konsiliar- und Liaisonpsychiatrie zunehmend gefragt: Ihre ökonomische Bedeutung für die somatischen Krankenhäuser nachzuweisen und dadurch den Spitalbetreiber zu motivieren, solche Dienste zu schaffen und zu finanzieren [3]. Diese Angelegenheit erhielt einen neuen Auftrieb durch die Einführung des Fallpauschalen-Systems in den Allgemeinkrankenhäusern mit entsprechendem Druck, die Krankenhausverweildauer zu verkürzen. Während bei neurokognitiven Störungen wie Delir oder Demenz der Einfluss konsiliarpsychiatrischer Interventionen auf die Aufenthaltsdauer nachgewiesen wurde, lieferten Studien über andere Störungsbilder eher widersprüchliche Resultate.

Es stellt sich auch die Frage nach der anzustrebenden Fachkompetenz des Konsiliar- und Liaisonpsychiaters, der als klinischer Experte an der Nahtstelle von Psyche und Soma tätig ist. Bereits vor fast zwei Jahrzehnten stellten Saupe und Diefenbacher fest, dass „durch die Differenzierung des Faches Konsiliar- und Liaisonpsychiatrie eine zunehmend komplexere Qualifikationsanforderung an den in diesem Bereich Tätigen gestellt werden wird“ [4; Hervorh. D.G.]. Das Kompetenzprofil des Konsiliarpsychiaters kann sich somit nicht auf die psychosomatische Medizin im traditionellen Verständnis (Konversionsneurosen, Belastungs- und somatoforme Störungen plus Psychotherapie als Behandlungsmethode der Wahl) beschränken, sondern inkludiert u. a. auch systemtheoretisches, neuropsychologisches, gerontopsychiatrisches, neurophysiologisches und psychopharmakologisches Wissen und Können. Dieses komplexe Kompetenzprofil soll ihn dazu befähigen, über das notwendige „special expertise in the diagnosis and treatment of psychiatric conditions in complex medically ill patients“ zu verfügen [5; Hervorh. im Original]. Im Verständnis der Vertreter der Academy of Psychosomatic Medicine (APM) sind dabei folgende Patientengruppen gemeint: Patienten mit 1) komorbider psychiatrischer und somatischer Pathologie, deren Kombination die Behandlungsprozesse erschwert, 2) hirnorganischen und symptomatischen psychischen Störungen, 3) somatoformen und funktionellen Störungen sowie 4) schweren psychischen Krisen, die im Allgemeinkrankenhaus versorgt werden müssen [5].

Seit der offiziellen Anerkennung der Konsiliar- und Liaisonpsychiatrie in den USA als Subspezialität der Disziplin Psychiatrie im Jahre 2004 ist auch in Europa mehr Bewegung in ihre Entwicklung gekommen. Zwar wurden entsprechende Weiterbildungscurricula nur in einigen europäischen Ländern entwickelt und behördlich anerkannt (Grossbritannien, Finnland, Schweiz; in Deutschland nur durch die Fachgesellschaft). Auf internationaler Ebene hingegen sind durch das Publizieren der Training Guidelines der European Association for Consultation-Liaison Psychiatry and Psychosomatics (EACLPP) und des Consensus Statement der EACLPP und der APM Meilensteine für die Entwicklung des Faches gesetzt worden [6, 7].

Wichtig für die Anerkennung des Faches war auch das 2009 veröffentlichte Position Paper der Psychiatrie-Sektion der Union Européenne des Médecins Spécialistes (UEMS) [8]. Die UEMS ist eine europaweite Fachärzte-Dachorganisation, die sich mit der Qualitätssteigerung und Harmonisierung der Weiter- und Fortbildung und der Entwicklung der medizinischen Fachgebiete befasst. Da in der UEMS und ihren Sektionen die nationalen Fachgesellschaften und Weiterbildungsgremien vertreten sind, besitzen ihre Stellungnahmen und Empfehlungen an die nationalen Entscheidungsträger, Fachgesellschaften oder europäischen Behörden eine hohe Legitimation. Ihre Empfehlungen stehen in einem komplementären Verhältnis zu den Curricula der nationalen oder internationalen Fachgesellschaften: Die UEMS liefert die allgemeine Grundstruktur und die strategische Stossrichtung, die Fachgesellschaften sind hauptsächlich für den fachspezifischen Inhalt zuständig.

Das Positionspapier befasst sich mit verschiedenen Aspekten der Konsiliar- und Liaisonpsychiatrie, unter anderem mit dem Stand der offiziellen Anerkennung in den europäischen Ländern, der Definition und Bezeichnung des Faches. Es anerkennt die Bedeutung dieser Subspezialität für die gesamte Psychiatrie – „psychiatry’s ambassador“ to the wider medical world [8] – und empfiehlt ihre Weiterentwicklung (Behandlungsstandards, Weiter- und Fortbildungscurricula, Kooperation der verschiedenen Organisationen u. a.). Weiter befürwortet es ihre offizielle Anerkennung als psychiatrische Subdisziplin im Sinne einer Schwerpunktbildung innerhalb des Gesamtfaches Psychiatrie – wie in den USA oder in der Schweiz [9, 10]) –, lehnt aber ihre Abtrennung als separates Fachgebiet ab. Ausserdem empfiehlt es angesichts des hohen Anteils älterer Patienten im Allgemeinkrankenhaus, dass die Weiterzubildenden auch gerontopsychiatrische Fachkompetenzen erwerben sollen. Schliesslich befürwortet es die Beibehaltung des Begriffs „Konsiliar- und Liaisonpsychiatrie“ als Bezeichnung des Schwerpunktes und übernimmt somit nicht die neue amerikanische Bezeichnung („Psychosomatic Medicine“) – im Gegensatz zur European Association of Psychosomatic Medicine (EAPM – früher EACLPP), die seit 2012 die „Konsiliar- und Liaisonpsychiatrie“ nur noch im Untertitel trägt.

Das Dokument enthält auch eine weitere denkwürdige Passage, die wegen ihrer Aktualität hier vollständig zitiert wird: „The UEMS European Board of Psychiatry does not regard as desirable the creation of a distinct certified physician specialty dealing with a limited range of mental disorders. Splitting psychiatric care delivery may cause unnecessary and unhelpful competition in health care delivery and financing, and could adversely affect the efforts to diminish stigma of all psychiatric disorders“. Damit wird auch der Besorgnis Ausdruck gegeben, dass durch die Spaltung der Psychiatrie eine fragmentierte, um Ressourcen konkurrierende Zwei-Klassen-Versorgung von Menschen mit psychischen Störungen entstehen bzw. sich zementieren könnte. Psychisch kranke Menschen nicht nach objektiven Patientenmerkmalen, wie z. B. Diagnose oder Alter, sondern nach sozialem Funktionsniveau, Introspektionsfähigkeit [11], Therapiebereitschaft oder sozio-ökonomischem Status zu unterscheiden und sie unterschiedlichen Versorgungsstrukturen zuzuordnen, wird als medizinisch und ethisch nicht vertretbar betrachtet. Damit wird auch von der UEMS eine Kritik formuliert, die in Deutschland auch mit Hinweis auf die Stigmatisierung von Menschen mit schwereren – i. S. von funktionell und/oder sozial beeinträchtigenden – psychischen Störungen zuvor bereits geäussert worden war [12, 13]. Die von deutschen Exponenten der Psychosomatischen Medizin oft vertretenen Standpunkte – die psychosomatischen Abteilungen behandeln andere (aber nicht leichtere) Krankheitsbilder und mit anderen Methoden als die psychiatrischen Abteilungen [14] – stoßen im übrigen Europa meistens auf Unverständnis.

Es ist anzunehmen, dass das in Deutschland historisch gewachsene Nebeneinander von zwei Fachdisziplinen und zwei Versorgungsstrukturen für psychisch kranke Menschen bis auf weiteres eine lediglich interne Angelegenheit bleiben wird [15]. Für viele „Aussenstehende“ ist die Situation ohnehin verwirrend: Wie oben erwähnt, wird der Begriff „Psychosomatische Medizin“ in den USA seit Anerkennung der Subspezialität als synonyme Bezeichnung für Konsiliar- und Liaisonpsychiatrie verwendet. In Deutschland hingegen ist in den letzten Jahren eine merkwürdige Polemik entfacht, seitdem das offensichtlich als weniger stigmatisierend empfundene Label „Psychosomatik“ von immer mehr psychiatrischen Kliniken – nicht nur privaten – und Fachgesellschaften (z. B. DGPPN) verwendet wird.

Es gibt nichts Neues unter der Sonne – möge man denken beim Betrachten solcher emotional geführten Debatten. Denn schon seit Ende des 18. Jahrhunderts wollten die Nerven- und Kurärzte der „besseren Gesellschaft" ja nicht mit Geisteskrankheiten, mit Irrenärzten oder Heilanstalten in Verbindung gebracht werden [16]. Die Stigma-Problematik und auch weitere gesellschaftliche und ethische Gesichtspunkte sollten aus keiner Diskussion über die Krankenversorgung an der Nahtstelle von Somatik und Psychiatrie ausgeklammert werden. Als beratende und verbindende Fachdisziplin, die an dieser Stelle tätig ist, wird sich die Konsiliar- und Liaisonpsychiatrie auch künftig damit auseinandersetzen müssen.