1 Einleitung

Die Begriffe Partizipation, Mitbestimmung und Teilhabe werden oftmals synonym verwendet, wobei Partizipation als Überbegriff verstanden wird (Bartelheimer et al. 2020; Reisenauer 2020), der zum einen im Sinne eines inklusiven Schulsystems die gleichberechtigte Teilhabe aller Kinder und zum anderen die Teilhabe der Schüler*innen an ihrem eigenen Bildungsprozess umfasst (Reisenauer 2020). Mitbestimmung fokussiert die demokratische Teilhabe der Kinder, die auf die Entwicklung politischer und sozialer Zugehörigkeiten zielt, wonach „alle Menschen […] gleichberechtigt ein anerkanntes Leben nach eigenen Vorstellungen führen und in der Gesellschaft mitbestimmen können“ (Schäfers und Wansing 2020, S. VII). Junge Menschen sollen Mitbestimmung als grundlegendes Element demokratisch verfasster Gesellschaften kennenlernen, die auf Beteiligung an öffentlichen Angelegenheiten angewiesen sind. Demokratische Schul- und Unterrichtsentwicklung hat entsprechend die Aufgabe, bereits Kindern im Grundschulalter Lerngelegenheiten zu ermöglichen, in denen sie in Schule und Unterricht mitbestimmen können. Inwiefern Kinder im Grundschulalter im Klassenkontext mitbestimmen können, ist Gegenstand des vorliegenden Beitrags.

2 Mitbestimmung

Mitbestimmung im schulischen Alltag ist neben der demokratiepädagogischen und kinderrechtlichen Perspektive (Baumgardt 2022; GDSU 2013) auch aus grundschulpädagogischer Perspektive (Ertl et al. 2022) von Relevanz, da Kinder von Anfang an (politisch) mitbestimmen und Gestaltungsideen in lebensweltlichen Zusammenhängen initiieren können sollen (Torrau 2021). Ein „besonders neuralgischer Punkt“ (Beutel et al. 2022, S. 214) liegt dabei in der Mitbestimmung von Schüler*innen in unterrichtlichen und curricularen Angelegenheiten.

2.1 Mitbestimmung aus demokratiepädagogischer und kinderrechtlicher Perspektive

Im Sinne des demokratischen Lernens wird Mitbestimmung im gesellschaftswissenschaftlichen Lernfeld als Schlüsselkonzept gesehen (Simon 2023): So soll die Vielfalt politischer Beteiligung in demokratisch verfassten Gesellschaften für junge Menschen auf unterschiedlichen Bildungswegen sowohl innerhalb als auch außerhalb des Unterrichts repräsentiert werden. Dafür ist es notwendig, dass Grundschule als Ort verstanden wird, „der vielfältige Beteiligungschancen für Schüler_innen bietet – ein Ort, an dem Demokratie gelernt werden kann und soll“ (Baumgardt 2022, S. 533).

Die Auseinandersetzung von (Grundschul)Kindern mit ihren demokratischen Teilhabemöglichkeiten ist für den schulischen Kontext durch den Beschluss der KMK zur Menschenrechtsbildung (KMK 2018), die einzelnen Lehrpläne (z. B. für Bayern StMBW 2014) sowie den Perspektivrahmen im Sachunterricht der Grundschule (GDSU 2013) vorgesehen.

Mitbestimmung wird mit der Genese demokratischer Teilhabe kontextualisiert. Hervorgehoben wird, dass Gelegenheitsstrukturen Schüler*innen befähigen können, Handlungsmöglichkeiten realistisch einzuschätzen und „die Verbesserung der Demokratie als Aufgabe“ (Weiß 2020, S. 41) zu verstehen. Gestaltungsideen und Mitbestimmungswünsche junger Menschen werden dann als konstitutiv für demokratische Unterrichts- und Schulentwicklung verstanden. Dafür müssen bereits in Grundschulen entsprechende Lernarrangements verfügbar sein.

Eng verbunden mit dem demokratiepädagogischen Anspruch von Mitbestimmung ist die Berücksichtigung des Kinderwillens als eines der vier Grundprinzipien der Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen (UN-KRK), die sich u. a. in Artikel 12 als Recht auf freie Meinungsäußerung konkretisiert und zugleich über verschiedene Beteiligungsrechte in der UN-KRK kodifiziert ist (Art. 13, 17). Mit der Berücksichtigung des Kinderwillens werden Kinder als handlungskompetente Akteur*innen in den Fokus gerückt. Sie werden nicht nur als citizens in waiting adressiert, sondern als citizens with agency (Starkey 2019), so dass sie demokratische Teilhabe erfahren und ihre (politischen) Gestaltungsideen in verschiedenen lebensweltlichen Kontexten aufgenommen werden müssen.

Im Kontext Schule entwickelt sich so die herausfordernde Situation, die ‚Aufforderung zur Selbsttätigkeit‘ (Benner 2003) zwischen Selbst- und Mitbestimmung sowie erzieherischer Verantwortung auszubalancieren: Die Intensität von Mitbestimmung (vgl. 2.2) variiert dabei je nach Beteiligungsform vom Recht auf Information bis hin zur Mitentscheidung (teil-)öffentlicher Angelegenheiten. Aufgabe des Unterrichts ist es, diese verschiedenen Formen und Intensitätsstufen demokratischer Teilhabe aufzuzeigen, ohne ein Fehlverstehen einer allzeit verpflichtenden Partizipationsbereitschaft zu fördern (CRC 2019). Dabei ist Mitbestimmung kein situativ-volatiler Akt, sondern muss als systematischer und kontinuierlicher Prozess zwischen Kindern sowie zwischen Kindern und Erwachsenen gesehen und daher im Alltag verankert werden. Kinder müssen informiert werden, damit sie ihr Recht auf Mitbestimmung in Anspruch nehmen und sich z. B. eine eigene Meinung bilden können, die sie in Aushandlungsprozessen einbringen können (CRC 2019). Artikel 12, Absatz 1, formuliert Mitbestimmung für Kinder in allen sie ‚berührenden Angelegenheiten‘. Damit ist auch der Schul- und Unterrichtskontext eingeschlossen: „Respect for right of the child to be heard within education is fundamental to the realization of the right to education“ (CRC 2019, S. 21). Bereits in den 1930er-Jahren belegten Lewin et al. die Bedeutung eines demokratischen Führungsstils, der grundlegende Elemente von Mitbestimmung berücksichtigt, wie beispielsweise, dass Kinder Fragen stellen und eigene Meinungen äußern können sowie Entscheidungsmöglichkeiten haben (Lewin 2009; Soff 2023). Durch Mitbestimmungsmöglichkeiten im Unterricht werden Perspektiven und Erfahrungen der Kinder berücksichtigt, die von Erwachsenen eventuell nicht eingebracht werden (Krajewski und Brosi 2022). Durch eine systematische Implementierung der Kinderrechte soll eine „vielfältige Teilhabe- und Mitbestimmungskultur“ (Rieker et al. 2016, S. 2) entwickelt und dadurch demokratische Teilhabe ermöglicht werden.

2.2 Mitbestimmung aus grundschulpädagogischer Perspektive

Die Grundschule als erste gemeinsame Schule und als Schule grundlegender Bildung (Einsiedler 2014) hat das Ziel, alle Kinder bei der Entwicklung grundlegender Kompetenzen zu unterstützen (Ertl et al. 2022). Darunter fallen auch demokratische Handlungskompetenzen, die für die Teilhabe in einer demokratischen Gesellschaft maßgeblich sind und im Rahmen von Mitbestimmungsmöglichkeiten in der Grundschule initiiert werden müssen. Eng verbunden mit dem Konstrukt der Mitbestimmung ist die Selbstbestimmung der Kinder, wobei Mitbestimmung als kollektiver Prozess verstanden wird (Ertl et al. 2022), der von der individuellen Selbstbestimmung der Kinder abzugrenzen ist (Müller-Kuhn und Häbig 2022), wenngleich Mitbestimmung und Selbstbestimmung in einem engen Zusammenhang stehen (Hartinger 2005; Pupeter und Schneekloth 2018). Hart (1992) betrachtet in seiner Partizipationsleiter die Mitbestimmung als Vorstufe der Selbstbestimmung, wohingegen Martschinke et al. (2022) Selbstbestimmung als Voraussetzung für Mitbestimmung formulieren. In Bezug auf Partizipation haben sich unterschiedlichste Modelle etabliert, die Beteiligungsmöglichkeiten von Kindern und Jugendlichen im schulischen Kontext differenzieren (z. B. Hart 1992; Lundy und Hanna 2022). Die vielfach adaptierte Partizipationsleiter von Hart (1992) ordnet acht Intensitäten des Einflusses hierarchisch an, wobei die ersten drei Stufen als Scheinpartizipation kategorisiert werden und die achte Stufe, die Selbstverwaltung, das höchste Ausmaß an Partizipationsintensität repräsentiert.

Das Modell von Ertl et al. (2022, S. 75) kann als Weiterentwicklung der Partizipationsmodelle verstanden werden, indem auf den Aspekt der Mitbestimmung fokussiert wird und folgende vier Facetten für die Grundschule konkretisiert werden:

  • Das Recht auf Information und Gehört-Werden: Kinder und Lehrkräfte kommunizieren miteinander auf Augenhöhe und treten sich respektvoll gegenüber.

  • Das Recht auf Mitplanung und Mitberatung: Kinder und Lehrkräfte treten in den Austausch und beraten sich, Entscheidungen trifft jedoch die Lehrkraft.

  • Das Recht auf Mitgestaltung und Mitberatung: Kinder und Lehrkräfte treten in Aushandlungsprozesse, wodurch den Kindern mehr Beteiligung und Verantwortung zuteilwird.

  • Das Recht auf Mitentscheidung: Schüler*innen sind an Entscheidungsprozessen beteiligt, z. B. Abstimmungen und demokratische Entscheidungsformen, wie beispielsweise Schülersprecher*innenwahlen, in denen das Machtgefälle phasenweise auf die Seite der Kinder kippt.

Die theoretisch angelegten Mitbestimmungsfacetten sind als nicht-hierarchisch und gleichwertig konzipiert, jedoch sind sie „nach dem Maß der Mitbestimmung, aber auch nach den Machtverhältnissen, die sich zunehmend auf die Seite der Kinder neigen“ (Ertl et al. 2022, S. 75), angeordnet. Im Rahmen des Klassenkontexts können sich diese vier Facetten sowohl auf organisatorische Aspekte, wie beispielsweise die Klassenzimmergestaltung, aber auch auf unterrichtliche Aspekte, wie beispielsweise Unterrichtsthemen, beziehen.

In Untersuchungen zu Partizipations- und MitbestimmungsmöglichkeitenFootnote 1 wie z. B. dem LBS-Kinderbarometer (Müthing et al. 2018), der Children’s Worlds+-Studie (Andresen et al. 2019), der WorldVision Kinderstudie (Neumann et al. 2018) oder dem Kinderrechtereport (National Coalition Deutschland 2019) wird deutlich, dass sich die Mitbestimmung für Kinder in der Schule auf einem niedrigen Niveau befindet, ähnlich den Befunden von Forde et al. (2018) und Lundy und Hanna (2022). Grundschulkinder fühlen sich zwar von ihrer Lehrkraft ernstgenommen (Berngruber et al. 2021), erleben aber nur teilweise (42 %) eine Wertschätzung ihrer eigenen Meinung durch die Lehrkraft (Neumann et al. 2018). Demokratische Mitbestimmung in Form von Abstimmungen nehmen Lernende der Sekundarstufe nur selten wahr, zudem schätzen sie ihre Mitbestimmung sowohl in der Schulgestaltung und beim Unterricht/Lernen als gering, und im Rahmen der Schulorganisation als kaum vorhanden ein (Gamsjäger und Wetzelhütter 2020).

Bezüglich der Bereiche der Mitbestimmung zeigt sich für Schüler*innen der Sekundarstufe, dass sie vor allem hinsichtlich organisatorischer Belange, wie beispielsweise Sitzordnung oder Klassenfahrt, mitbestimmen können (Quenzel et al. 2023). Wenig Mitbestimmung erfahren sie hingegen bezogen auf unterrichtliche Aspekte, wie Hausaufgaben und Unterrichtsthemen (Fatke und Schneider 2005; Quenzel et al. 2023). Für die Grundschule zeigt sich, dass Kinder vor allem bezüglich der Sitzplatzwahl, der Sitzordnung und (zum Teil) der Klassenregeln Mitbestimmung wahrnehmen (Andresen und Neumann 2018; Brüschweiler et al. 2021; Coelen und Wagener 2011). Hinsichtlich der Klassenzimmergestaltung und der Auswahl von Aufgaben schätzen die Kinder ihre Mitbestimmungsmöglichkeiten hingegen gering ein (Andresen und Neumann 2018). Erste Ergebnisse einer qualitativen Interviewstudie bzgl. der vier Facetten der Mitbestimmung von Kindern einer Grundschule deuten an, dass diese vor allem bezüglich des Unterrichts und der Lernzielkontrollen vorrangig keine Mitbestimmung erfahren und dass Lehrkräfte aus ihrer Perspektive Mitbestimmung am häufigsten bezogen auf die Facette des Informiert- und Gehört-Werdens gewähren (Martschinke et al. 2023).

Beck und Meusburger (2023) gehen unter Bezugnahme auf Angebots-Nutzungs-Modelle (z. B. Helmke 2022; Seidel 2014) von Effekten personenbezogener Merkmale, wie Geschlecht und Migrationsgeschichte, auf die wahrgenommene Mitbestimmung der Kinder aus. Bei Kindern mit Migrationsgeschichte könnte die wahrgenommene Mitbestimmung durch erfahrene politische Beteiligungsmöglichkeiten im Herkunftsland, einem angenommenen Informationsdefizit über Beteiligungsmöglichkeiten sowie Diskriminierungserfahrungen bedingt sein (Beck und Meusburger 2023). Die empirische Befundlage bzgl. des Einflusses personenbezogener Merkmale ist jedoch nicht eindeutig: Während Weber et al. (2008) feststellen, dass die wahrgenommene Mitbestimmung von Neun- bis Zehnjährigen nicht mit ihrer Herkunft zusammenhängt, berichten Beck und Meusburger (2023) für die Sekundarstufe I, dass Schüler*innen mit Migrationsgeschichte häufiger das Gefühl haben, in der Schule viel mitbestimmen zu können als Schüler*innen ohne Migrationsgeschichte, wobei es sich hierbei um kleine Unterschiede auf Basis deskriptiver Befunde handelt. Bezüglich des Geschlechts berichten Guglhör-Rudan und Langmeyer-Tornier (2021) eine höhere Einschätzung von Mitbestimmung seitens der Mädchen, wohingegen Pupeter und Schneekloth (2018) keinen signifikanten Unterschied zwischen den Geschlechtern feststellten.

Neben quantitativen Studien liegen auch Befunde aus qualitativen Untersuchungen vor (z. B. Beutel et al. 2022). Es mangelt jedoch an Studien explizit zu Mitbestimmungsmöglichkeiten von Grundschulkindern im Klassenkontext, die verschiedene Facetten der Mitbestimmung erfassen und dabei Zusammenhänge mit beispielsweise Merkmalen der Schüler*innen und anderen Unterrichtsprozessen, z. B. der wahrgenommenen Selbstbestimmung, untersuchen. Diesem Desiderat wird mit der vorliegenden Studie nachgegangen.

3 Forschungsfragen

Im Fokus des Beitrags steht die Frage, inwiefern Kinder im Grundschulunterricht Mitbestimmungsmöglichkeiten wahrnehmen. Dabei wird folgenden Teilfragestellungen nachgegangen:

  1. 1.

    In welchem Ausmaß nehmen Grundschulkinder Mitbestimmungsmöglichkeiten bezogen auf verschiedene Facetten der Mitbestimmung auf Organisations- und Unterrichtsebene wahr?

  2. 2.

    In welchem Zusammenhang stehen die wahrgenommenen Mitbestimmungsmöglichkeiten der Kinder mit ihrem Geschlecht, ihrer Herkunft und ihrer wahrgenommenen Selbstbestimmung?

4 Methodik

Die Studie ist im quantitativen, querschnittlichen Design angelegt. Die Grundschüler*innen wurden im Mai und Juni 2022 mittels eines standardisierten Paper-Pencil-Fragebogens zu ihren Mit- und Selbstbestimmungsmöglichkeiten im Unterricht befragt.

4.1 Stichprobe

An der Befragung nahmen N = 543 Schüler*innen (49,4 % weiblich; 50,6 % männlich) der 3. Jahrgangsstufe teil, die sich auf insgesamt 32 Klassen und 17 Schulen, mehrheitlich Landkreisschulen, verteilen. Bezüglich der Herkunft der Kinder weisen 31,3 % eine Migrationsgeschichte auf. In der vorliegenden Studie liegt eine Migrationsgeschichte vor, wenn das Kind oder mindestens ein Elternteil nicht in Deutschland geboren ist. Im Mittel waren circa 22 Kinder in einer Klasse (min. = 15, max. = 29) und pro Klasse konnten durchschnittlich 17 Kinder befragt werden.

4.2 Erhebungsinstrumente

4.2.1 Skalen Mitbestimmung

Zur differenzierten Erfassung von Mitbestimmung im Klassenkontext wurde anhand der theoretisch angenommenen vier Mitbestimmungsfacetten von Ertl et al. (2022) (vgl. 2.2) ein Fragebogen konzipiert und pilotiert. Aus einer explorativen Faktorenanalyse resultierte jedoch, dass sich die vier theoretisch angenommenen Facetten empirisch nicht abbilden lassen. Es ergab sich eine dreifaktorielle Lösung: (1) Informiert- und Gehört-Werden, (2) Meinung und Abstimmen sowie (3) Diskussion und Austausch. In Anlehnung an Vandermeulen et al. (2020) wurde mittels konfirmatorischer Faktorenanalysen geprüft, ob sich die theoretisch angenommene Differenzierung der drei Hauptskalen in jeweils eine Organisations- und Unterrichtsebene (Subskalen) empirisch prüfen lässt. Dabei haben sich folgende FIT-Indizes ergeben: (1) Informiert- und Gehört-Werden, X2 = 448,971, p < 0,001, RMSEA = 0,084, CFI = 0,800, TLI = 0,767; (2) Meinung und Abstimmen, X2 = 237,302, p < 0,001, RMSEA = 0,055, CFI = 0,935, TLI = 0,922; (3) Diskussion und Austausch, X2 = 448,971, p < 0,001, RMSEA = 0,037, CFI = 0,985, TLI = 0,978. Abgesehen vom ersten Modell Informiert- und Gehört-Werden, handelt es sich um akzeptable bzw. gute FIT-Indizes (Homburg et al. 2014; Hoyle und Panter 1995). Da die Cut-Off-Kriterien jedoch als Richtwert und nicht als absolute Grenzen zu verstehen sind, müssen die FIT-Indizes vor dem Hintergrund des inhaltlichen Modells beurteilt werden (Chen 2007). Daher wurde das Modell zum Informiert- und Gehört-Werden trotz nicht ausreichender CFI- und TLI-Indizes beibehalten, um die drei Mitbestimmungsfacetten auf Organisations- und Unterrichtsebene inhaltlich vergleichen zu können.

Die wahrgenommenen Mitbestimmungsmöglichkeiten der Kinder wurden schließlich über sechs Skalen (vgl. Tab. 1) entsprechend der drei empirisch ermittelten Facetten der Mitbestimmung und der Differenzierung zwischen der Organisations- und Unterrichtsebene erfasst (α = 0,55 bis 0,86): Informiert- und Gehört-Werden, Meinung und Abstimmung sowie Diskussion und Austausch (vgl. ergänzender Online-Anhang). Dabei handelt es sich um ausreichende bis gute Reliabilitäten, lediglich die Skala Diskussion und Austausch auf Organisationsebene weist eine grenzwertige Reliabilität auf.

Tab. 1 Übersicht der eingesetzten Skalen des Fragebogens

Die Organisationsebene umfasst Klassenregeln, Klassendienste und Klassenzimmergestaltung, wohingegen sich die Unterrichtsebene auf Hausaufgaben, Unterrichtsthemen, Methodik/Lernen, den Unterrichtsablauf sowie Proben (Leistungsnachweise) bezieht.

4.2.2 Skala Selbstbestimmung

Die wahrgenommene Selbstbestimmung wurde über eine etablierte Skala von Röder und Kleine (2009) erfasst (neun Items; α = 0,78), die sich ausschließlich auf unterrichtliche Aspekte bezieht. Sowohl die Mit- als auch die Selbstbestimmungsmöglichkeiten wurden über vierstufige Likert-Skalen (trifft nicht zu bis trifft zu; operationalisiert über NEIN, nein, ja, JA) erhoben.

4.3 Statistische Analysen

Zur Beantwortung von Forschungsfrage 1 wurden deskriptive Analysen durchgeführt, um das Ausmaß der wahrgenommenen Mitbestimmung (Mittelwerte und Standardabweichungen) der Kinder zu ermitteln. Zusätzlich wurden bivariate Korrelationen aller Facetten und Ebenen sowie T‑Tests berechnet, um Zusammenhänge und Unterschiede zwischen den Mitbestimmungsmöglichkeiten zu untersuchen.

Bezüglich Forschungsfrage 2 wurden aufgrund der ermittelten Interklassenkorrelationen (ICC) von 0,04–0,14 (vgl. Tab. 2) multiple Regressionsanalysen berechnet, in denen die Klassenstruktur der Daten berücksichtigt wurde. Für den Zusammenhang zwischen den wahrgenommenen Mitbestimmungsfacetten mit personenbezogenen Merkmalen sowie der wahrgenommenen Selbstbestimmung wurden die Facetten der Mitbestimmung sowohl auf Organisations- als auch auf Unterrichtsebene als abhängige Variablen modelliert. Das Geschlecht, die Migrationsgeschichte und die wahrgenommene Selbstbestimmung dienten als Prädiktoren auf Individualebene. Für die Organisations- und Unterrichtsebene wurden anhand der drei Mitbestimmungsfacetten jeweils drei Regressionsmodelle berechnet. Berichtet werden die Gesamtmodelle, da sich keine statistisch relevanten Unterschiede zum schrittweisen Modellaufbau ergaben.

Tab. 2 Deskriptive Statistiken und bivariate Korrelationen (Pearson) der Mitbestimmungsfacetten

Die statistische Analyse erfolgte mit den Softwareprogrammen IBM SPSS Statistics 27 und RStudio (Version 2024.04.2+764). Fehlende Werte metrischer Items (0,02–4,7 %) wurden mithilfe des EM-Algorithmus in SPSS imputiert.

5 Ergebnisse

Die Ergebnisse werden entlang der Forschungsfragen präsentiert.

5.1 Wahrnehmung von Mitbestimmungsmöglichkeiten im Unterricht

Die deskriptiven Ergebnisse zur Wahrnehmung der Mitbestimmungsmöglichkeiten im Klassenkontext (vgl. Tab. 2) zeigen, dass die Kinder am meisten Mitbestimmung bezüglich des Informiert- und Gehört-Werdens auf Organisationsebene (M = 2,78; SD = 0,68) und Unterrichtsebene (M = 2,65; SD = 0,56) wahrnehmen. Die Facetten Meinung und Abstimmen auf Organisationsebene (M = 2,30; SD = 0,73) und Diskussion und Austausch auf Organisationsebene (M = 2,30; SD = 0,76) liegen signifikant unter dem theoretischen Mittelwert der Skalen (M = 2,5) und werden von den Kindern daher als eher gering eingeschätzt. Am wenigsten gewährte Mitbestimmung nehmen die Kinder bei den Skalen Meinung und Abstimmen auf Unterrichtsebene (M = 1,88; SD = 0,60) und Diskussion und Austausch auf Unterrichtsebene (M = 2,12; SD = 0,76) wahr. Die Korrelationen der sechs Facetten der Mitbestimmung liegen nach Cohen (1998) im mittleren bis starken Bereich (r = 0,32–0,69), wobei innerhalb der Mitbestimmungsfacetten bezüglich der Organisations- und Unterrichtsebene vor allem moderate Zusammenhänge bestehen.

Die Befunde der T‑Tests belegen, dass sich die Mittelwerte innerhalb der Mitbestimmungsfacetten bezüglich der Organisations- und Unterrichtsebene statistisch signifikant voneinander unterscheiden und die Kinder in allen Mitbestimmungsfacetten auf Organisationsebene mehr Mitbestimmung wahrnehmen als auf Unterrichtsebene (z. B. Meinung und Abstimmen auf Organisationsebene M = 2,30, Meinung und Abstimmen auf Unterrichtsebene M = 1,88; t (550) = 17,06, p < 0,001).

5.2 Zusammenhang zwischen der wahrgenommenen Mitbestimmung, den Personenmerkmalen und der wahrgenommenen Selbstbestimmung

Die sechs Regressionsmodelle werden aufgeteilt nach Organisations- und Unterrichtsebene berichtet. Die wahrgenommene Selbstbestimmung der Kinder liegt bei durchschnittlich 2,16 (SD = 0,61).

5.2.1 Ergebnisse bzgl. der Organisationsebene

Aus den Ergebnissen der Regressionsmodelle für die Organisationsebene (vgl. Tab. 3) geht hervor, dass das Geschlecht bezüglich der Mitbestimmung keinen signifikanten Prädiktor darstellt, wohingegen sich die Migrationsgeschichte der Kinder für alle wahrgenommenen Mitbestimmungsfacetten als signifikanter Prädiktor erweist. Somit fühlen sich Kinder mit Migrationsgeschichte signifikant besser informiert und gehört sowie nehmen sie mehr Meinungs- und Abstimmungsprozesse wahr als Kinder ohne Migrationsgeschichte. Zudem schätzen sie die Möglichkeiten für Diskussions- und Austauschprozesse als stärker ausgeprägt ein.

Tab. 3 Ergebnisse der multiplen Regressionsanalysen zur wahrgenommenen Mitbestimmung auf Organisationsebene

Die wahrgenommene Selbstbestimmung im Unterricht steht mit allen drei Facetten der Mitbestimmung auf Organisationsebene in einem positiven Zusammenhang mit einer mittleren Effektstärke.

5.2.2 Ergebnisse bzgl. der Unterrichtsebene

Auf Unterrichtsebene erweist sich das Geschlecht bezüglich der Facette Meinung und Abstimmen als statistisch signifikanter Prädiktor für die wahrgenommene Mitbestimmung (vgl. Tab. 4). Jungen nehmen bezüglich Meinungs- und Abstimmungsprozessen auf Unterrichtsebene mehr Mitbestimmung wahr als Mädchen, wobei dieser Zusammenhang lediglich eine geringe Effektstärke aufweist. Darüber hinaus schätzen Kinder mit Migrationsgeschichte ihre wahrgenommenen Mitbestimmungsmöglichkeiten auch auf Unterrichtsebene höher ein als Kinder ohne Migrationsgeschichte. Die Migrationsgeschichte ist dabei für alle drei Facetten der Mitbestimmung ein signifikanter Prädiktor mit einer kleinen bis mittleren Effektstärke.

Tab. 4 Ergebnisse der multiplen Regressionsanalysen zur wahrgenommenen Mitbestimmung auf Unterrichtsebene

Die wahrgenommene Selbstbestimmung ist sowohl für die Skala Informiert- und Gehört-Werden als auch für die Skalen Meinung und Abstimmen sowie Diskussion und Austausch auf Unterrichtsebene mit einer mittleren bis großen Effektstärke ein signifikanter Prädiktor. Je höher die wahrgenommene Selbstbestimmung im Unterricht, desto mehr Mitbestimmung nehmen die Kinder auf Unterrichtsebene wahr.

6 Zusammenfassung und Diskussion

Zusammenfassend zeigt sich, dass die Ergebnisse in Einklang mit dem aktuellen Forschungsstand zur geringen Ausprägung der wahrgenommenen Mitbestimmung von Schüler*innen im Grundschulalter stehen (vgl. 2.2). Es ergab sich ein bedeutender Unterschied zwischen der wahrgenommenen Mitbestimmung von Grundschulkindern auf Organisations- und Unterrichtsebene sowie bezüglich der einzelnen Mitbestimmungsfacetten. Kinder nehmen im Klassenkontext der Grundschule Mitbestimmung vor allem bezogen auf organisatorische Aspekte, z. B. die Klassenzimmergestaltung oder die Klassendienste, sowie bezüglich des Informiert- und Gehört-Werdens wahr und insgesamt weniger Mitbestimmung, wenn Austausch- und Abstimmungsprozesse gefragt sind. Das könnte damit erklärt werden, dass es Lehrkräften eher gelingt, die Kinder mitbestimmen zu lassen, wenn dies nicht primär den Unterricht, die Leistung oder das fachliche Lernen, wie Unterrichtsthemen und Proben betrifft, um das Lernen der Kinder zu sichern und nicht durch Mitbestimmung zu behindern (Maischatz et al. 2022). Dass Kinder eher wenig Mitbestimmung bezüglich Diskussions- und Abstimmungsprozessen wahrnehmen, könnte am Zeitfaktor, aber auch an der fehlenden Bereitschaft der Lehrkräfte liegen, das traditionelle Verständnis von Unterricht zu hinterfragen (Strauss et al. 2017). Zudem muss in Anlehnung an Diskussionen aus der Elementarpädagogik angenommen werden, dass in der Regel auch in der Grundschule Lehrkräfte weiterhin „die Bestimmer“ (Hansen und Knauer 2009, S. 20) sind.

Abgesehen von der Facette Meinung und Abstimmen auf Unterrichtsebene erweist sich das Geschlecht in Einklang mit Befunden der 4. World Vision Kinderstudie (Pupeter und Schneekloth 2018) als nicht signifikanter Prädiktor für die wahrgenommene Mitbestimmung. In weiteren (qualitativen) Untersuchungen ist zu klären, ob der gefundene Unterschied zwischen Mädchen und Jungen in der Facette Meinung und Abstimmen tatsächlich auf Geschlechtsunterschiede zurückzuführen oder beispielsweise aufgrund der vorliegenden Stichprobe bedingt ist.

Die Migrationsgeschichte erweist sich dagegen als signifikant positiver Prädiktor für alle Facetten der Mitbestimmung sowohl auf Organisations- als auch Unterrichtsebene, was in Einklang mit den deskriptiven Ergebnissen für die Sekundarstufe von Beck und Meusburger (2023) steht. Erklärt werden könnte dies damit, dass Kinder mit Migrationsgeschichte in ihren Familien teils weniger Mitbestimmung wahrnehmen als Kinder ohne Migrationsgeschichte (Pupeter und Schneekloth 2018), sodass sie dadurch ggf. auch nur wenig gewährte Mitbestimmung im Schulkontext als hohe Mitbestimmung wahrnehmen.

Die wahrgenommene Selbstbestimmung erweist sich in allen Facetten der Mitbestimmung als statistisch signifikanter Prädiktor. Damit bestätigt sich der Zusammenhang zwischen Selbst- und Mitbestimmung (Hartinger 2005; Pupeter und Schneekloth 2018). In einem Unterricht mit wahrgenommenen Selbstbestimmungsmöglichkeiten wird demnach mehr Mitbestimmung wahrgenommenen als in einem lehrerzentrierten Unterricht. Dass der Effekt jedoch vorrangig im mittleren positiven Bereich liegt, unterstreicht, dass Mit- und Selbstbestimmungsmöglichkeiten im Klassenkontext auch in der Wahrnehmung der Kinder nicht gleichbedeutend sind.

7 Limitationen und Implikationen

Limitierend ist anzumerken, dass die Erhebung lediglich in der 3. Jahrgangsstufe durchgeführt wurde und somit keine generellen Aussagen bzgl. der Mitbestimmungsmöglichkeiten von Grundschulkindern möglich sind. In weiteren Untersuchungen wären daher beispielsweise Längsschnittuntersuchungen ratsam, um Mitbestimmungsmöglichkeiten im Verlauf der Grundschule erfassen zu können. Aufgrund der grenzwertigen Reliabilität der Skala Diskussion und Austausch auf Organisationsebene sollten diese Ergebnisse vorsichtig interpretiert und in weiteren Studien geprüft werden. Zudem lässt die erwiesene Korrelation von Selbst- und Mitbestimmung aufgrund des querschnittlichen Designs keine Aussagen über Kausalitäten zu (Opp 2010). Hierzu bedarf es qualitativer Ansätze. Zudem ist limitierend anzumerken, dass bezüglich der wahrgenommenen Mitbestimmung relevante Prädiktoren, wie beispielsweise die Bildung der Eltern oder die Klassenzusammensetzung, die vor allem zur Interpretation des Effekts des Migrationshintergrundes zielführend wären (Gras 2023), aufgrund der Anlage der Studie nicht berücksichtigt werden konnten.

Trotz der genannten Limitationen leisten die vorliegenden Ergebnisse einen Beitrag zur Bearbeitung der vorliegenden Forschungsdesiderate zur wahrgenommenen Mitbestimmung von Grundschulkindern im Klassenkontext.

Um Schüler*innen möglichst früh in demokratische Teilhabeprozesse zu integrieren, sollte Mitbestimmung bereits in der Grundschule als ein vielschichtiges Konstrukt etabliert und bezüglich aller Facetten ermöglicht werden, insbesondere auch hinsichtlich Austausch- und Abstimmungsprozessen, mit denen demokratische Teilhabe im Klassenkontext als eine vielgestaltige Grundstruktur der „Einbindung von Individuen in Entscheidungs- und Willensbildungsprozesse“ (Reichenbach 2006, S. 54) reflektiert werden kann.

Zudem sollten die Mitbestimmungsfacetten auch in der Lehrkräfteaus- und -fortbildung stärker Berücksichtigung finden, damit (angehende) Lehrkräfte für die Bedeutung und Umsetzung von demokratischer Teilhabe von Grundschulkindern sensibilisiert werden. Dafür bedarf es auch der Reflexion des Verständnisses von Unterricht und der Lehrer-Schüler-Beziehungen. Die Mitbestimmungsfacetten (vgl. 2.2) können dabei als Analysetool dienen, um als Lehrkraft gewährte demokratische Teilhabe dahingehend zu hinterfragen, inwiefern Ohnmachtserfahrungen der Kinder produziert werden, wenn sich die Kinder zwar informiert fühlen, ihre Meinung für Entscheidungen aber nicht von Relevanz ist. Daher muss Mitbestimmung im Sinne der demokratischen Teilhabe als Prozess verstanden werden, der nicht beim Informiert- und Gehört-Werden stehen bleibt, sondern vermehrt Diskussions- und Austauschmöglichkeiten für Kinder, auch auf Unterrichtsebene, initiiert – auch wenn dies Zeit und Geduld in Anspruch nimmt. Denn „wie, wenn nicht durch praktische und erfahrungsbezogene Mitbestimmung sollen Kinder im Grundschulalter demokratische Handlungskompetenzen erwerben?“ (Baumgardt 2022, S. 536).