1 Fokus und Ziele des Beitrags

Der Beitrag zeigt, dass für Heranwachsende in der globalisierten Moderne das Bewährungsmodell des Authentic Lifestyle Creators and Presenters, das im Folgenden entwickelt wird, eine hohe Bedeutung erlangt hat. In den sozialen Medien, z. B. im sozialen Netzwerk Instagram, das im Folgenden als virtuelle Bewährungsmesse charakterisiert wird, holen sich die Heranwachsenden Anregungen und präsentieren ihre eigenen Lebensentwürfe, um die bestätigende Resonanz zu erhalten, die sie als traditionsentbettete, außengelenkte und globalisierte Bewährungssucher benötigen.

Um diese Perspektive auf Adoleszenz in der mediatisierten und globalisierten Moderne zu entwickeln, wird erstens grundlegend die konstitutionstheoretische Perspektive auf Heranwachsende als Bewährungssuchende entfaltet. Vor diesem Hintergrund wird dann, zweitens, in einer historischen Skizze aufgezeigt, wie sich die Bewährungsmuster seit Beginn der Moderne in ihren Grundzügen verändert haben und Heranwachsende sukzessive zu globalisierten, Authentizität prüfenden Bewährungssuchern geworden sind, die sich in den digitalen Medien einerseits selbstständig und lokal entgrenzt Anregungen für mögliche Lebensentwürfe holen und andererseits dort auch ihre eigenen Bewährungsmodelle präsentieren, um bestätigende Resonanz zu erhalten. Als Authentic Lifestyle Creators and Presenters sind sie auch potenzielle Influencer:innen. Dies beleuchtet auch folgende Beobachtung von Nielsen-Sikora und Schütte in ihrem Band „Wem folgen?“. „Immer mehr Menschen wollen selbst Vorbild für andere sein: Auf Plattformen wie YouTube, TikTok oder Instagram stellen immer mehr Menschen ihren Alltag und ihre individuelle Persönlichkeit auf unterschiedliche Weise als vorbildlich dar“ (Nielsen-Sikora und Schütte 2023, S. 5). Mit der Charakterisierung der Bewährungssucher als globalisiert soll auf den historischen Trend der zunehmenden Mobilität der Heranwachsenden (de Haas, Castles und Miller 2020, S. 23) und vor allem auf die durch die digitalen Medien beförderte kulturelle Globalisierung hingewiesen werden. Heranwachsende können sich über digitale Medien, um ein Beispiel zu nennen, unabhängig von der älteren Generation umfassend und fortlaufend über die südkoreanische Kultur und z. B. die Band BTS informieren, sodass die Live-Übertragung eines Jubiläumskonzerts Kinosäle in deutschen Großstädten füllt. Diese medientechnisch beförderte Entwicklung vollzieht sich vor dem Hintergrund einer sich seit Jahrzehnten vollziehenden Traditionsentbettung. So konstatiert Liessmann mit dem Begriff der Unbildung zum Beispiel die „Abwesenheit jeder normativen Idee von Bildung“ (Liessmann 2012, S. 213). Ziehe stellt entsprechend fest: „Die Hochkultur wird mehr und mehr aufgrund völlig anderer Wahrnehmungs- und Genussgewohnheiten gemieden“ (Ziehe 2007, S. 105). Mit dem Begriff der „Eigenwelt“ (Ziehe 2007, S. 109) identifiziert Ziehe eine neue Form der individuellen Orientierung, die sich unabhängig von institutionell verbürgten Kontexten vollzieht. Die Eigenwelt ist „der Relevanzkorridor, den sich ein Individuum zurechtbaut, und der ist ebenso selektiv wie globalisiert“ (Ziehe 2007, S. 109).Footnote 1

Drittens wird in Kontrastierung mit den Begriffen Star, Celebrity und IT-Girl und am Beispiel von Julia Beautx die Kernfigur der Influencer:in herausgearbeitet, da sich in ihr wesentliche und für Heranwachsende bedeutsame Aspekte einer spätmodernen Form der Lebensgestaltung verkörpern.

In einem Perspektivwechsel wird viertens die Architektonik der Profilseiten auf Instagram am Beispiel von Chiarra Ferragni betrachtet, um zu zeigen, dass das soziale Netzwerk die Funktion einer virtuellen Bewährungsmesse erfüllt, indem es die Präsentation individueller Bewährungsportfolios ermöglicht und provoziert. Die genannten Influencerinnen, die sich im Alter deutlich unterscheiden (Julia Willecke Jg. 1999 und Chiarra Ferragni Jg. 1987), wurden ausgewählt, weil sie das jeweilige Phänomen besonders prägnant repräsentieren. Im Sinne einer Strukturgeneralisierung wird jedoch davon ausgegangen, dass sie einen allgemeinen Typus darstellen.

Der vorliegende Zugang weist Parallelen zu David Riesmans Theorie des Wandels von Lenkungsformen (Riesman 1989) und zur von Friedrich Krotz entwickelten Metatheorie der Mediatisierung auf, die einen „Rahmen der Forschung zum Zusammenhang von Medien- und Kulturwandel“ (Hepp 2010, S. 65) bildet. Der vorliegende Ansatz nimmt entsprechend die Wechselwirkungen zwischen Medien und sozialen Prozessen aus einer langfristigen Perspektive (Roth-Ebner 2016) in den Blick. Dabei werden Aspekte des technologisch bedingten Medienwandels vor dem Hintergrund kultureller Transformationsprozesse betrachtet. Anhand von Strukturanalysen sollen langfristige Trends und Entwicklungen herausgearbeitet werden. Mit der Bewährungstheorie wird diesem Reflexionsmodell eine aufschlussreiche, konstitutionstheoretische Dimension hinzugefügt. Riesmans Theorie trägt im Folgenden dazu bei, mittels der Unterscheidung von Traditions‑, Innen- und Außenlenkung diesen langfristigen Prozess der kulturellen Transformation zu differenzieren und insbesondere die für den vorliegenden Fokus bedeutsame Passung von Außenlenkung und sozialen Medien aufzuzeigen.

Wie auch Schmit in ihrer Arbeit zu „Soziale Netzwerke als Räume der Identitätsarbeit“ (Schmit 2021) eingangs bemerkt, ist „ein Leben ohne elektronische Medien (…) Mitte des ersten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts kaum noch möglich“ (Mikos et al. 2007, S. 7). Und auch der Einfluss der sozialen Netzwerke auf Sozialisation ist unbestreitbar (Schmit 2021; Schorb 2003, S. 75). Schmit wählt in ihrer Arbeit den Zugang über Interviews mit Micro-Influencer:innen und Followern (Schmit 2021, S. 5). Wie schätzen die Akteure und Rezipient:innen ihre Praxis in den digitalen Medien ein (Schmit 2021, S. 5)? Die vorliegende Untersuchung wählt komplementär die Betrachtung dessen, was die Influencer:innen machen und wie die digitalen Erfahrungsräume strukturiert sind, und ergänzt in dieser methodischen Hinsicht den Zugang von Schmit.

2 Bewährungstheoretische Perspektive auf Adoleszenz

Die bewährungstheoretische Perspektive, die im Folgenden entfaltet werden soll, ist ein sozialisationstheoretisches Konzept (Zizek 2015a, 2020a), das eine basale Motivation bezeichnet, die auf die grundlegende soziale Bezogenheit des Menschen verweist.

Der Sozialisationsbegriff bezieht sich vor allem auf Aspekte der Entwicklung, die der individuellen Perspektive der Lebenspraxis vorausgehen. Diese geraten in der Regel auch nicht in ihren Blick, weil jene, mit ihrer individuellen Entwicklungsgeschichte, immer schon in einen umfassenderen Erfahrungszusammenhang mit eigener, komplexer Geschichte eingebettet sich und die Welt deutet (Zizek 2018). Mead hat auf diese Vorgängigkeit der sozialen Prozesse hingewiesen (Mead 1967, S. 1), in denen der einzelne Mensch aufwächst und lebt. Kegans Begriff der „haltenden Kulturen“ (Kegan 2008) hebt den einbettenden Charakter der Lebenspraxen hervor, in denen und mit denen (nicht nur) die Heranwachsenden ihre Bildungsprozesse bewältigen. Der Begriff der Sozialisationspraxis (Oevermann 2004; Grundmann 2015) betont, dass es sich dabei immer schon um ein interaktives Zusammenwirken von Sozialisatoren und Sozialisanden handelt. Wir verstehen uns auch schon immer in sozialen Beziehungen und diese „haltenden Kulturen“ schaffen in der Regel die Räume für praxisentlastete Erfahrungskrisen und Bildungsprozesse (Kegan 2008), durch die wir uns sukzessive ablösen und eine eigene Perspektive entwickeln.

Diese grundlegende soziale Bezogenheit des Menschen lässt sich mit dem Begriff des „Bewährungsdrangs“ weiter differenzieren (Zizek 2012). Dieser bezeichnet die basale Motivation, sich für konkrete, vorhandene oder imaginierte Gemeinschaften als förderlich oder nützlich zu erweisen. Und mit ihm soll hervorgehoben werden, dass „Bewährungsfiguren“, in denen wir uns als für ein Gemeinschaftsleben wertvoll erleben, einen zentralen Bestandteil unserer Identität bilden (Zizek 2020a). Wie grundlegend wir immer schon sozial eingebettet und bezogen sind, wird auch daran deutlich, dass eine temporäre Emanzipation aus diesen sozialen Kontexten, die ein „Anerkennungsvakuum“ (King 2013, S. 105) erzeugt, etwa mit der Funktion der Kritik oder der Ablösung, immer herausfordernd ist und einer selbstvergewissernden Rahmung und Begründung bedarf. Kehrseitig kann aber auch ein nicht selbst verursachtes Anerkennungsvakuum zum Anlass und Grund für Bewährungssuche werden.

Der Begriff der Bewährung impliziert neben dem angesprochenen grundlegenden sozialen Bezug menschlicher Motivation auch „das Bestehen unter Real- bzw. Alltagsbedingungen“ und spricht das im Laufe des Heranwachsens zunehmende „Autonomiepotential und Ernsthaftigkeit der Folgen eigenen Handelns“ (Zizek 2020a, S. 158) an. Weber macht außerdem darauf aufmerksam (Weber 1991, S. 326), dass „Bewährung zudem auch mit einem Durch- und Aufrechterhalten von Standards oder Idealen verbunden“ (Zizek 2020a, S. 159) ist. Die unvorhergesehenen Probleme sind nicht auf beliebige Weise zu bewältigen; es reicht nicht aus, nur irgendwie durchzukommen. Im Gegensatz zu diesem Anspruch wird Bewährung aber immer auch an den biografischen Möglichkeiten gemessen (Zizek 2020a, S. 159). Immer berücksichtigen wir beim Blick auf die Lebensleistung die Nachteile, die jemandem zum Beispiel durch eine Fluchtmigration oder eine körperliche Beeinträchtigung entstanden sind.

Der Bewährungsdrang ist im Gegensatz zur Neugier ein Streben, das in der Logik der Assimilation auf Bewältigung von Problemen unter Anwendung erworbener Fähigkeiten und Wissen zielt, während die Neugier in der Logik der Akkommodation auch bisher als gesichert geltende Vorstellungen und Deutungen aufzulösen bereit ist (Zizek 2020a, S. 160).

Bewährungsfiguren, in denen die Einzelnen sich als nützlich empfinden, bilden sich in wertschätzenden Interaktionserfahrungen heraus, in denen Können und Freude an einer Tätigkeit in einem entscheidenden Augenblick eine motivierende, wertschätzende Resonanz seitens subjektiv relevanter Gegenüber erfahren (Zizek 2015a, S. 77).

Vor diesem Hintergrund wird aber auch deutlich, dass sich die Bewährungsmöglichkeiten mit dem historischen Wandel der konkreten Gemeinschaften verändern und dass sich in ihnen in der Regel die aus den jeweiligen Formen des Zusammenlebens resultierenden Bedürfnisse des Kollektivs niederschlagen. Nur solche Bewährungsfiguren erfahren eine wertschätzende Resonanz, die die Gemeinschaft als für ihre jeweilige Situation und Zeit wertvoll wahrnimmt. Das kann sich zum Beispiel durch eine pandemieinduzierte Veränderung der Lebenssituation auch schnell ändern, wenn zum Beispiel die „Helden des Alltags“ plötzlich als besonders systemrelevant in den Blick geraten, „Künstler:innen“ hingegen diesbezüglich eine Abwertung erfahren (Klein und Liebsch 2020, S. 59). Der Bezug auf eine Gemeinschaft, die eine Minderheit oder eine subkulturelle Teilgruppe darstellt oder z. B. als zukünftige Generation imaginiert wird, eröffnet bzw. bestärkt auch Widerstand oder Verweigerung akzentuierende Bewährungsfiguren wie die Antiheld:in oder die Außenseiter:in. Die These ist also, dass wir uns immer mit Bezug auf Gemeinschaften bewähren, auch wenn diese imaginiert sind.Footnote 2

3 Die Influencer:in als Produkt der Moderne

Die historisch entstehende Kernfigur der Influencer:in, in der sich wesentliche Aspekte spätmoderner Formen bewährter Lebensgestaltung abbilden, kann man in ihrer historischen Genese auch mit Jürgen Habermas’ Thematisierung der Verallgemeinerung der Autorschaft einzukreisen beginnen. Die sich einst um Bücher und Zeitungen konstituierende anonyme Öffentlichkeit, an die sich durch die Druckmöglichkeit Autor:innen zu wenden beginnen, hatte „andere Standards als für den privaten – noch lange Zeit handschriftlichen – Briefverkehr“ (Habermas 2020, S. 106), sie lädt die Leser:innen „nicht alle gleichzeitig als Autoren zur Teilnahme ein – ohne bei der Auswahl Qualifikationen vorzunehmen“ (Habermas 2020, S. 107). Das ändert sich mit dem Netz. Habermas bemerkt, „das Netz eröffnet virtuelle Räume, deren sich die Leser unvermittelt als Autoren auf eine neue Weise bemächtigen können“ (Habermas 2020, S. 107). In diesen frei zugänglichen Räumen, „die nach den bisherigen Maßstäben weder öffentlich noch privat sind, sondern am ehesten als eine zur Öffentlichkeit aufgeblähte Sphäre einer bis dahin dem brieflichen Privatverkehr vorbehaltenen Kommunikation beschrieben werden könnten“, beginnen die Leser sich „an ein anonymes Publikum“ (Habermas 2020, S. 108) zu wenden. Für die vorliegende Argumentation ist bedeutsam, dass, erstens, offenbar ein Motiv entsteht, sich mit vermeintlich Privatem an eine Öffentlichkeit zu wenden, dass, zweitens, in diesem Zusammenhang bisherige Standards abgebaut werden und, drittens, die Alltagssubjekte um eine Öffentlichkeit werben. „Die derart zu Autoren ermächtigten Leser müssen mit ihren Botschaften Aufmerksamkeit erst provozieren, denn die unstrukturierte Öffentlichkeit wird erst durch die Kommentare der Leser und die likes der follower hergestellt“ (Habermas 2020, S. 108). Warum aber ergreifen so viele die Position der Autorschaft, werben um Gefolgschaft und werden auf diese Weise zu potenziellen Influencer:innen? Was sind die primären Motive?

Auch Nymoen und Schmitt wählen eine historische Perspektive und versuchen die „Genese der Influencer“ nachzuzeichnen (Nymoen und Schmitt 2023, S. 114). Sie setzen mit dem 2005 gegründeten Videoportal Your Tube ein. Hier wird mit dem Übergang zur Moderne eine deutlich längere Perspektive angesetzt, um die Genese der Kernstruktur der Influencer:in als ein kulturgeschichtliches Produkt in den Blick zu rücken.

Immer schon haben sich die Bedürfnisse der Gemeinschaften in den sozialisatorischen Praktiken niedergeschlagen. Piaget zum Beispiel hat darauf hingewiesen, dass es kein Zufall sein kann, dass in vormodernen Gesellschaften Initiationsriten eingesetzt wurden, wenn die Heranwachsenden in ein Alter kamen, in dem sich autonome Moralität entwickelt (Piaget 1986, S. 119). Die autonome Moralität versetzt die Adoleszenten in die Lage, mit Bezug auf ein Ideal, unabhängig von der älteren Generation, soziale Regeln zu verändern und vorhandene Konventionen infrage zu stellen. Die Entwicklung einer solchen kritischen Kompetenz, wie sie moderne Gesellschaften später durch ihre Bildungsinstitutionen fördern, können vormoderne Gesellschaften mit wenig Personal und Ressourcen nicht unterstützen. Mario Erdheim versteht die Initiation entsprechend als „Versuch, diese adoleszente Dynamik aufzufangen“ (Erdheim 1984, S. 285), sie sei eine „Art Kühlsystem“ (Erdheim 1982, S. 290). Vormoderne Gesellschaften, die sich mit Claude Lévi-Strauss auch als kalte Gesellschaften bezeichnen lassen, sind durch Zyklizität geprägt (Lévi-Strauss 1980, S. 29). In ihnen bewährt man sich vor allem durch Bewahren, die zyklische, wiederkehrende Pflege der Traditionsbestände (Eliade 1998, S. 77) und die Übernahme tradierter Positionen. Es herrscht, mit Riesman gesprochen, die Traditionslenkung (Riesman 1989).

Schütte und Nielsen-Sikora thematisieren dies bezogen auf den Begriff des Vorbildes am Beispiel des Helden, der in der Vormoderne mit Verweis auf eine göttliche Ordnung „aus der eine Ordnung der (politischen) Gemeinschaft abgeleitet war“ (Nielsen-Sikora und Schütte 2023, S. 2) und im Epos zum herausragenden Beispiel gemacht wurde. „Die Legitimationskraft dieser Ordnung ist längst verloren“ (Nielsen-Sikora und Schütte 2023, S. 2).

Für die Moderne, die sich von überzeitlichen Modellen, Vorbildern und zyklischen Zeitvorstellungen löst (Taylor 1996, S. 510) und entsprechend den das Alltagssubjekt zum Gegenstand machenden Roman hervorbringt, ist die Sequentialität, die Zukunftsoffenheit charakteristisch. Krisenorientierte und risikobereite Bewährungsfiguren setzen sich allmählich durch (Zizek 2012). Das Neue ist hier, dass man auch ohne äußere Zwänge Krisen als Bewährungsmöglichkeit sucht und dafür entsprechend auch Risiken in Kauf zu nehmen bereit ist und dass ein solches Streben auch zunehmend allgemein Anerkennung erfährt (Zizek 2012, S. 100)Footnote 3.

In der Form einer Innenlenkung, so zeigt Riesman, können die freigesetzten Subjekte der Moderne eine lange Zeit noch mit einem verinnerlichten, auf festen Werten beruhenden Kompass (Riesman 1956) ihre Lebensführung jenseits ihrer primären sozialisatorischen Erfahrungs- und Anerkennungskontexte evaluieren und navigieren.

Das sich in der Romantik herausbildende Bewährungsmodell authentischer Lebensführung, das eine Echtheitsprüfung der eigenen und der überlieferten Lebensmodelle verlangt (Zizek 2012), breitet sich bis zu den Counter Cultures des 20. Jahrhunderts sukzessive aus und führt zu einer Erosion einst verbindlicher Werte (Kagan 2013, S. 186).

Die insbesondere in Großstädten und durch das Fernsehen geförderte Offenheit gegenüber alternativen, wechselnden Entwürfen hat Riesman als „Außenlenkung“ (Riesman 1956) bezeichnet, die nun vergleichbar einem Radar funktioniert und sich nicht mehr nach festen Orientierungspunkten ausrichtet, sondern hochsensibel aktuelle Tendenzen und Veränderungen einfängt. Es wurde also in der bisherigen Betrachtung eine wechselseitige Beeinflussung von 1. Formen des Zusammenlebens, 2. Medien und Technik und 3. im Individuum dominierender Orientierungs- und Bewährungsmuster aufgezeigt.

Mit den Begriffen der Halbbildung und Unbildung lässt sich die Erosion von Orientierungspunkten, die oben bereits angesprochen wurde, exemplarisch weiter verdeutlichen. Während Adornos Begriff der Halbbildung als Diagnose einer Erfahrung verstellenden Form des Bildungsstrebens (Adorno 2006, S. 206) Ende der 1950er-Jahre noch eine grundsätzliche Orientierung an der Hochkultur impliziert, konstatiert Liessmanns Begriff der Unbildung die Absenz einer solchen Orientierung (Liessmann 2006, S. 213). Ziehe stellt entsprechend fest: „Der heutige Abstand zur Hochkultur ist aber nicht Folge einer sozialstrukturellen Zugangssperre, wie in früheren Zeiten, sondern eines Akzeptanzproblems“ (Ziehe 2007, S. 105).

Damit geht eine Entbettung aus kollektiven Einbindungen einher (vgl. Giddens 1996, S. 33; Ziehe 2007, S. 107). „Das ist ein Gewinn an Freiheit und an Freiräumen. Und gleichzeitig ist es natürlich auch eine Bürde, die Individuen stehen damit unter Individualisierungsdruck“ (Ziehe 2007, S. 108).

Die Verbreitung der bereits erwähnten flexiblen, situativ prüfenden, außengelenkten Navigation des eigenen Lebens, die im 20. Jahrhundert sukzessive an die Stelle des inneren Wertekompasses tritt, hat sich Gitlin (Gitlin 2001) zufolge am Ende des 20. Jahrhunderts flächendeckend durchgesetzt. Sie findet in den neuen, digitalen Erfahrungs- und Resonanzräumen der Social Media ein entsprechendes Medium (Zizek 2017). In der bereits latent angelegten und in diesem Medium sich ausformenden Kernstruktur der Influencer:in sind wesentliche Bewährungsmomente des entbetteten, außengelenkten und authentizitätsprüfenden Subjekts integriert.

4 Self-presenting authentic lifestyle creators – Zur Kernstruktur der Influencer:in

Im Folgenden wird die in der historischen Betrachtung entwickelte These weiter ausgearbeitet, begrifflich geschärft und exemplarisch veranschaulicht, dass das, was wir heute als Influencer:in bezeichnen, im Kern jene Figur eines aus festen Traditionszusammenhängen entbetteten, außengelenkten, die Authentizität überlieferter und vorhandener Modelle prüfenden oder zumindest nicht mehr als verbindlich anerkennenden und eigene entwerfenden und präsentierenden Alltagssubjekts der globalisierten Moderne ist.Footnote 4

Was ist die Kernstruktur einer Influencer:in? Wodurch gewinnt diese Follower? Ich möchte hier die entscheidende Aktivität und Attraktionsquelle der Influencer:in fokussieren. In einer ersten Einkreisung werde ich wesentliche Aspekte der Kernstruktur der Influencer:in durch Kontrastierung mit dem Phänomen des Stars und des It-Girls unterscheiden.

In der Ausgabe der BRAVO vom 30. Dezember 1992 wird auf der Titelseite mit „Bei Kevin in New York“ ein Hausbesuch bei Macaulay Culkin, dem Hauptdarsteller des Kinofilms „Kevin allein in New York“, angekündigt. Betrachtet man Culkin hier exemplarisch als einen Star, dann wird deutlich, dass Stars erstens zunächst und dominant durch eine besondere Leistung hervorstechen. Sie haben etwas gelungen oder zumindest erfolgreich gespielt, gesungen, getanzt usw. und man interessiert sich dann aus diesem Grund auch für ihr Privatleben. Wie lebt, was macht X, Y, die/den ich so lustig oder beeindruckend fand, privat, wie gestaltet er/sie ihr/sein Leben? Und wie in der Ankündigung des Bravo-Artikels deutlich wird, berichten im Falle von Stars Journalisten über ihr/sein Privatleben. Anders als Keller, die Schmit für diese begriffliche Diskussion anführt (Schmit 2021), würde ich also vorschlagen, die Rolle des „mediatisierten Lebens(stil)-Darstellers“ (Keller 2013, S. 133) für die Bestimmung der folgenden beiden Typen herausgehobener Persönlichkeiten aufzusparen, um die aufschlussreiche Kontrastierung nicht zu verschenken. Gerade weil der Star zunächst wesentlich über seine besondere Leistung in Erscheinung tritt und von daher auch wie zum Beispiel Robert De Niro oder Meryl Streep seinen Lebensstil nicht unbedingt in der Öffentlichkeit zur Darstellung bringen muss, kann sie/er sich „durch eine Aura von Distanz und Rätselhaftigkeit“ (Schmit 2021, S. 3) auszeichnen. Selbstverständlich aber können Stars auch zu Celebrities und Influencer:innen werden, wie zum Beispiel manche Spitzensportler (Jäger und Lohwasser 2023).

Für eine begriffliche Bestimmung des It-Girls bietet sich Paris Hilton an, die mittlerweile auch eine Influencer:in geworden ist. Im Gegensatz zu Stars stechen It-Girls zunächst vor allem durch ein interessantes Privatleben hervor. Für sie gilt das Kriterium der ursprünglichen Werklosigkeit (Schmit 2021, S. 3; Rehberg und Weingart 2017, S. 13). Durch ein wenig herkunftsbedingte Grundaufmerksamkeit und einen besonderen Lebensstil erregte Paris Hilton große Aufmerksamkeit und wurde in der Folge auch einflussreich. Wahrscheinlich können sich fast alle aus einer bestimmten Generation daran erinnern, dass Hilton damals einen kleinen Hund wie eine Handtasche zu tragen begann und damit einen prägnanten Trend setzte.

In Seifert rezeptionstheoretischer Definition des Celebrity (Seifert 2010, 2013), bei der/dem der „Fokus des Publikumsinteresses auf dem Privatleben der Person liegt“ (Schmit 2021, S. 3) bildet der Begriff der Celebrity eine Zwischenform zwischen Star und It-Girl. Auf der einen Seite wird ein Star zur Celebrity, wenn man sich mehr für sein/ihr Privatleben interessiert als für ihr/sein Werk. Und auf der anderen Seite hat der Weg zur Celebrity beim It-Girl oder der Influencer:in seinen Ausgangspunkt im Kontrast zum Star eben nicht in einem Aufsehen und Anerkennung erregenden Werk. Influencer:innen können durch Ausarbeitung eines spezifischen Themenbereichs „den Eindruck einer gewissen Expertise in ihrem Bereich – oft Beauty, Reisen, Games oder Sport“ (Schmit 2021, S. 4) erwecken. Doch ihr Ausgangspunkt ist in der Regel nicht diese Expertise. Der wesentliche Unterschied zwischen It-Girls und Influencer:innen besteht darin, dass Letztere ihr Privatleben selbst dokumentieren oder es im Zuge ihres kommerziellen Erfolgs durch Lebenspartner:innen oder Angestellte dokumentieren lassen.

Nach dieser ersten begrifflichen Einkreisung der Kernstruktur der Influencer:in als eines sich selbst ohne Bezug oder Legitimation über ein Werk die eigene Lebensgestaltung präsentierenden Akteurs, werde ich die Kernfigur am Beispiel von Julia Beautx noch weiter herausarbeiten.

In vielen Vlogs beginnt Beautx oft müde, verschlafen und scheinbar ungeschminkt, wodurch sie zum Ausdruck bringt, eigentlich noch nicht bereit für den Tag zu sein. Zweifelsohne ist das Teil einer Inszenierung. Des Weiteren zeigt sie sich oft erstaunt und verwundert über die Dinge, die ihr im Laufe des Tages begegnen: OMG, die Welt überwältigt mich. In einem VLog auf TikTok vom 12.07.2022, in dem sie in 58 s berichtet, was sie auf Bali an einem Tag gegessen habe, sagt sie an einer Stelle „Das ist das X Café, heißt das, glaub ich …“ und bringt damit einen lockeren Umgang mit dem Anspruch auf Informiertheit und Bildung zum Ausdruck. Immer bleibt Beautx aber sympathisch, freundlich, hat Spaß und wirkt zufrieden mit sich, wodurch sie einen konfliktfreien Lebensentwurf akzentuiert.

Beautx entwirft in ihren VLogs offensichtlich eine Kunstfigur, in der ein entspannter, humorvoller und zufriedener Umgang mit der eigenen Imperfektibilität (Müdigkeit, Uninformiertheit, allgemein leichte Überforderung) gestaltet ist. Und genau in diesem sich nicht selbst verurteilenden, humorvollen Zulassen der eigenen Imperfektibilität liegt der spezifische Authentizitätsanspruch des Entwurfs von Beautx. Und auch das Attraktionspotential der Influencerin Beautx liegt in dieser zu einer Kunstfigur gestalteten Haltung zum Leben.

Follower:innen finden diesen von Beautx gestalteten Stil des Umgangs mit dem Leben ansprechend und inspirierend und möchten ihn in unterschiedlichen Situationen und Nuancen weiter kennenlernen. Die Kernfigur Influencer:in besteht also in der Gestaltung von Formen des Umgangs mit dem Leben mit Authentizitätsanspruch und der konkreten Veranschaulichung dieser in Alltagssituationen. Umgekehrt suchen Follower solche prägnanten und authentischen Beispiele des Umgangs mit dem Leben.

Ein mögliches Verständnis von Authentizität ist, es als Gegenteil von „fake“ zu verstehen (Schmit 2021, S. 11). Ein weiteres ist, wie Schmit mit David ergänzt, man gehe weg vom Sein und hin zum Wirken. Das Subjekt werde zum „Darsteller von Authentizität“ (David 2012, S. 66). Mit der These, dass Julia Beautx eine Kunstfigur entwirft, mit der sie ein Angebot macht, würde ich ein drittes Verständnis von Authentizität in diesem Zusammenhang vorschlagen, das zu den beiden genannten in der Mitte liegt. Beautx’ Angebot ist als gestaltete, akzentuierende und verdichtende Kunstfigur einerseits nicht einfach nur das unverstellte, ungeschminkte Private. Auf der anderen Seite ist diese Kunstfigur aber auch nicht bloß „fake“. Was daran ist also authentisch? Authentisch bedeutet entsprechend meiner Argumentation ein Umgang mit der jeweiligen Situation und den eigenen Gefühlen, den man nachvollziehen und potenziell selbst übernehmen würde.

Dieser Aspekt des Nachahmenswerten wird im Kontext der Forschung zu Influencer:innen auch oft mit dem Begriff des Vorbilds diskutiert (Schmit 2021, S. 12; Nielsen-Sikora und Schütte 2023). Im JAMESfocus (Suter et al. 2023, S. 2) bezieht man sich auf folgende Definition: „Zum Vorbild für einen anderen wird eine Person, deren konkreter Lebensvollzug so sehr überzeugt, dass jener sein eigenes Handeln und Leben freiwillig daran orientiert und ihm nachzufolgen strebt“ (Böhm und Seichter 2017, S. 498), wobei hier der Follower:in eine aktive Rolle zuzuschreiben sei. Es wird „nicht unreflektiert und kritiklos“ (Suter et al. 2023, S. 2) übernommen. Zu der vorliegenden Betrachtung von Beautx passt Wegeners, auch von Schmit angeführte Charakterisierung von Influencer:innen als „Fundus für die Ausgestaltung der eigenen Person“ (Wegener 2008, S. 59).

Vor dem Hintergrund der Überlegung zur Kernstruktur der Influencer:in lässt sich auch die Bezeichnung Influencer problematisieren, weil sie „eine zielgerichtete Beeinflussung“ der Nutzenden impliziert (Suter et al. 2023, S. 3). Die Autor:innen (Suter et al. 2023, S. 3) verweisen zum Beispiel auf die alternative Bezeichnung Social Media Content Creator (Thrun 2018). Mein Vorschlag für eine zusammenfassende Charakterisierung der Kernstruktur der Influencer:in lautet daran angelehnt Authentic Lifestyle Creator and Presenter. Zu dieser Kernstruktur der Influencer:in passt die Schilderung einer Followerin aus Schmits Arbeit, die bei Influencer:innen sehen will „wie sie ihr Leben leben“ (Schmit 2021, S. 34). Zum Social Media Content Creator wird man, so mein Vorschlag der begrifflichen Abgrenzung, wenn man als Authentic Lifestyle Creator and Presenter in den sozialen Medien Geld verdient.

Es wäre weiter zu untersuchen, wie sich sogenannte Sinnfluencer:innen (Schmit 2021, S. 49; Nymoen und Schmitt 2023, S. 121) von Authentic Lifestyle Creators and Presenters abgrenzen lassen. Inwieweit wenden sie sich ausschließlich spezifischen Themen zu und spielt ihre authentische Lebensgestaltung keine Rolle?

5 Instagram als virtuelle Bewährungs-Messe

Nach der Herausarbeitung der Kernstruktur der Influencer:in wird nun am Beispiel Chiarra Ferragnis in einem Perspektivenwechsel die Architektonik der Profilseiten beim sozialen Netzwerk Instagram betrachtet. Welche Möglichkeiten bieten sich den Self-Presenting Authentic Lifestyle Creators und welche inhaltliche Gestaltung provozieren sie. Mit Hepp gesprochen, stehen hier exemplarisch die „Prägkräfte der Medien“ (Hepp 2010, S. 68) als qualitativer Aspekt der Mediatisierung im Fokus.

Untersucht man die visuelle Struktur der Profilseiten, dann lassen sich mindestens drei visuelle Ebenen unterscheiden, die unter anderem eine Bedeutungshierarchie erzeugen. Das Profilfoto steht ähnlich einem Titel über allen anderen Beiträgen. Da es diese Beitragsmöglichkeit zudem nur einmal gibt, kommt dem Profilfoto die besondere Bedeutung einer verdichtenden Überschrift zu. Man muss sich also gut überlegen, welches Foto einen gut repräsentiert.

Die bekannte italienische Influencerin Chiarra Ferragni zum Beispiel, die sich in der Modewelt einen Namen gemacht hat, hatte hier im November 2022 ein Foto von sich mit ihren beiden Kindern auf dem Schoss gepostet. Darauf war sie top gestylt und auch die Kinder waren hübsch gekleidet und frisiert, so dass man den Eindruck hatte, dass sich die Influencerin, die mittlerweile fast 30 Mio. Follower:innen hat, sowohl im Beruf als auch als Mutter hervorragend behauptet bzw. bewährt.

Unterhalb des Profilfotos steht mit den Story-Highlights die zweite visuelle Einheit der Profilseite. Die Stories werden durch ein rundes Bildsymbol repräsentiert. Von ihnen sieht man auf den ersten Blick 5 bzw. 7, je nach dem, ob man die Seite auf dem Smartphone oder Laptop öffnet. Durch die Anzahl und Stellung kommt ihnen nach dem Profilfoto der zweithöchste Selektionsgrad zu.

Von den Beiträgen sieht man 12 quadratische Bilder, die an Memory-Karten erinnern. Wir haben während einer Interpretationssitzung zu einer anderen Profilseite miterlebt, wie sich plötzlich die Gruppe der Beiträge veränderte, weil eine Influencerin gerade ihren Aufenthalt in Paris dokumentierte und ein hocheditiertes Foto von sich auf einem Boot auf der Seine postete. In dieser visuellen Einheit scheinen die aktuellen Aktivitäten und Ereignisse dokumentiert zu werden, die die Influencer:innen teilen möchten, während es ausgewählte Themen und Punkte in die Story-Highlights schaffen.

Bei den Story-Highlights findet man am 25. September 2023 auf der Profilseite von Chiara Ferragni von links nach rechts bei den sichtbaren Bildsymbolen ein Foto ihres Sohnes, ein Foto eines Beauty Produkts, das ihren Namen trägt, ein Foto ihrer Tochter, eines ihrer Familie, ihr Bild auf der Titelseite der Zeitschrift Economia, ein Foto von sich und ihrem Mann, auf dem sie ein rückenfreies Kleid trägt und noch ein Foto von ihrem Sohn.Footnote 5

In den Beiträgen präsentiert sich Ferragni als schlankes Modell in teuren Kleidern und mit teuren Taschen, hervorragend geschminkt und gestylt. Wie die Story-Highlights bereits deutlich machen, macht sie hier scheinbar auch für eigene Produkte Werbung. In dieser visuellen Einheit zeigt sie sich vor allem in konkreten Situationen beruflicher Bewährung als Modell für eigene und andere Produkte. Lediglich eins der zwölf Fotos zeigt ihre Kinder, die erneut hübsch angezogen und hergerichtet sind und in einer großen, nobel eingerichteten Wohnung sitzen.

Mit der Theorie der Bewährung lässt sich Ferragnis Auswahl an Fotos wie folgt charakterisieren. Es sind hier mit dem Beauty Produkt und der Titelseite die „Bewährungsbereiche“ (Oevermann 2004; Zizek 2020a) Beruf und mit den übrigen Fotos der Bewährungsbereich Familie angesprochen, wobei sich Ferragni sowohl als gute Mutter als auch als attraktive Ehefrau präsentiert. In den Story Highlights stellt sich Ferragni durch die Wahl der Fotos in allen genannten Bewährungsbereichen als äußerst erfolgreich dar.

Wie Julia Beautx präsentiert auch die Influencerin Chiara Ferragni im Sinne eines Authentic Lifestyle Creators and Presenters eine Haltung zum Leben. Im Profilfoto vom 25.09.2023 etwa zeigt sie sich als eine zärtliche und geduldige Frau, die ihre Familie zusammenhält und ihren stark tätowierten, Nonkonformität ausstrahlenden, wilden Mann zu einem gefühlvollen Ehemann und Vater gebändigt hat. Sie präsentiert sich als eine moderne Frau, die sich nicht auf einen Bereich der Bewährung beschränkt, sondern sowohl die berufliche als auch die familiäre Bewährung in allen Aspekten (sorgende Mutter und attraktive Ehefrau) mit einer beeindruckenden Gelassenheit und Erfolg souverän zu bespielen scheint. In dieser Stilisierung des souveränen Gelingens schafft auch Ferragni eine Kunstfigur, die allerdings ganz andere Akzente setzt als die von Beautx entworfene.

Neben der visuellen, gebündelten Präsentation solcher Lebensentwürfe, erlaubt und provoziert die einen Gewichtungszwang beinhaltende Struktur der Instagram Profilseite eine differenzierte Profilierung der einzelnen Bewährungsbereiche in allen Aspekten: Ich bin beruflich sehr erfolgreich und ich habe auch noch eine hübsche Familie, für die ich gut sorge und außerdem bin ich auch noch eine attraktive Ehefrau. Man kann hier sein konkretes Bewährungsportfolio veröffentlichen. Insofern könnte man bei Instagram in Analogie zu einer Waren- oder Gebrauchsgütermesse von einer virtuellen, globalisierten Bewährungsmesse sprechen, auf der jeder einerseits seine Bewährungsmodelle und -erfolge präsentieren und andererseits in die Schaufenster der anderen schauen kann, was diese für bewährungsrelevant halten und was sie schon alles geleistet und erreicht haben.

6 Die sozialisations- und bewährungstheoretische Perspektive auf Adoleszenz in der mediatisierten, globalisierten Moderne

Mit der historischen, sozialisations- und bewährungstheoretischen Perspektive gewinnen wir einen aufschlussreichen Blick auf die starken, latenten Motive hinter der nicht abreißenden Begeisterung der Heranwachsenden für die sozialen Medien.

Die im 17. und 18. Jahrhundert einsetzende Moderne lässt die dominanten Formen der Bewährung allmählich vom zyklischen Bewahren ehrwürdiger Traditionsbestände auf abenteuerliche, risikobereite und krisenorientierte Zukunftsoffenheit wechseln. Zeitverzögert kommt die Idee hinzu, die vorhandenen Modelle möglicher Bewährung einer Authentizitätsprüfung zu unterziehen. Und mit noch größerer Verzögerung setzen sich diese Bewährungsmuster dann auch breitenwirksam durch. Mit David Riesmans Lenkungstypologie wurde hier eine Differenzierung dieses langen und dramatischen Transformationsprozesses vorgenommen. Und es wurde hervorgehoben, dass die Adoleszenten bei Einführung der digitalen und sozialen Medien für diese aufgrund ihrer außengelenkten Haltung schon bereit waren.

Die relativ traditionsentlasteten und bereits außengelenkten Heranwachsenden beginnen sich Ende des 20. Jahrhunderts, Anfang des 21. Jahrhunderts bereitwillig dem sprunghaft wachsenden, globalisierten Angebot der digitalen Medien zu öffnen, lassen sich bezüglich der Gestaltung ihres Lebens inspirieren. Damit entsprechen sie den sequenziellen, zukunftszugewandten Bewährungsmodellen der Moderne.

Doch die Ansprüche der Bewährung in der globalisierten Moderne erschöpfen sich nicht in der bloßen Rezeption. Eigene Entwürfe müssen vorgelegt werden. Und da die Adoleszenten den sozialisationstheoretischen Vorüberlegungen entsprechend auch weiterhin sozial bezogenen sind, müssen die traditionellen Anerkennungsquellen, die nicht mehr infrage kommen, substituiert werden.

All diese Ansprüche und Aufgaben kumulieren in dem sich herausbildenden Bewährungsmodell des self-presenting authentic lifestyle creators, die/der seine/ihre Entwürfe auch selbst postet und um Resonanz und Anerkennung wirbt. Für beide Aspekte der Bewährung bieten die sozialen Medien die entsprechenden Möglichkeiten: Globalisierte Inspiration und Präsentation, Autorschaft für alle. Exemplarisch hierfür wurde die Plattform Instagram als virtuelle Bewährungsmesse charakterisiert, auf der man sein Bewährungsportfolio präsentieren und auch schauen kann, was andere weltweit für bewährungsrelevant halten.

7 Abschließende kritische, bildungstheoretische Bemerkungen

In der vorliegenden Untersuchung liegt der Fokus auf der kulturhistorischen und bewährungstheoretischen Rekonstruktion der starken Motivationsmuster hinter dem veralltäglichten Followen und Präsentieren eigener Haltungen und Lebensstile. In meinen bisherigen Arbeiten habe ich den Fokus vor allem auf die Rekonstruktion digital vermittelter Strukturen der Interaktionen und Websites gelegt und die Interaktionsqualität zum Gegenstand der Auseinandersetzung gemacht (Zizek 2017; Zizek und Andermann 2020, 2023). Welche Haltungen werden durch die latenten Strukturen digitaler Interaktionsräume kultiviert und sind diese entwicklungsfördernd (Zizek 2020b)?

Meines Erachtens haben neben den deutlich sichtbaren, problematischen Oberflächenphänomenen wie Datenmissbrauch und Datensicherheit diese latenten Aspekte der digitalen Interaktions- und Erfahrungsräume langfristig einen enormen Einfluss auf unsere Haltungen und Gewohnheiten des Umgangs mit unserer Umwelt und uns selbst. Die Möglichkeiten der Kontrolle und Filterung des eigenen Ausdrucks und der Vermeidung von Begegnung zum Beispiel durch digital vermittelte Texting-Interaktion können dem eigenen Welt- und Selbstbezug wichtige bildungsrelevante Erfahrungen entziehen (Zizek 2020b) und auf diese Weise auch der Aneignung der eigenen Schwächen und Unvollkommenheit im Wege stehen (Zizek 2017), was auch die Vulnerabilität für digitale Übergriffe erhöht. Wir bilden sozusagen keine dicke Haut mehr aus. Sherry Turkle (2015) hat wiederholt auf den wichtigen latenten Aspekt hingewiesen, dass wir durch die ständige Erreichbarkeit und Kommunikation von Erlebnissen nicht mehr lernen, auch mal eine Wegstrecke mit uns allein zu sein und einer Erfahrung wesentlich selbst zu begegnen, eine Krise auszuhalten. Es ist offensichtlich, dass wir hier von wesentlichen Aspekten von Bildungsprozessen sprechen, deren ängstliche Vermeidung durch die digitalen Interaktionsstrukturen kultiviert werden. Die vorliegende Auseinandersetzung soll diese kritische Perspektive durch die Rekonstruktion der latenten Orientierungs- und Motivationsmuster ergänzen, die eine lange Entwicklungsgeschichte und in den sozialen Medien eine strukturelle Entsprechung haben. Warum haben wir uns die sozialen Medien so begeistert angeeignet?