Digitalisierung wird seit einigen Jahren als neuer und tiefschürfender globaler Megatrend in der Gesellschaft postuliert. „Digitalevangelisten“ (wie Sebastian Thrun) meinen beispielsweise, dass alle menschlichen Erfahrungen in Zukunft digital gespeichert und für immer abrufbar sein werden, was den Menschen digital „unsterblich“ macht. Manche (wie Eduard Kaeser) sind da zurückhaltender und sehen Digitalisierung als „das trojanische Pferd unserer Zeit“ an. Auf alle Fälle wird der Digitalisierung ein Totalitätsanspruch zugeschrieben. Sie betrifft alle gesellschaftlichen Sektoren und damit auch Bildung und Erziehung und die mit ihr in Verbindung stehende wissenschaftliche Forschung. Digitalisierung meint die Umwandlung von analogen Inhalten in solche, die sich informations- bzw. computertechnisch verarbeiten lassen. Damit geht einher, dass viele Bedingungen, Prozesse und Produkte der Erziehung und Bildung durch moderne computergestützte Informations- und Kommunikationstechnologien abgebildet, unterstützt oder sogar ersetzt werden. Diese Entwicklung ist allerdings alles andere als neu: Wirkungsvolle computer-basierte Lehrsysteme oder auch schon „intelligente tutorielle Systeme“ gab es bereits seit den 1980-er, e‑learning seit den 1990-er oder blended learning bzw. hybrides Lernen seit den 2000-er Jahren. Der vor allem technologisch, aber nicht pädagogisch forcierte Digitalisierungstrend und der Fernunterricht in der COVID-19-Pandemie haben jetzt zum „Lazarus-Phänomen“ geführt: Viele schon bekannte Bildungstechnologien werden wiederbelebt und weiterentwickelt. Neben diesen bildungs- und lernbezogenen Auswirkungen im engeren Sinne, zeigen das Internet (mit Suchwerkzeugen, Youtube, etc.), Computerspiele (on- und offline, mit augmented oder virtual reality) oder Social Media (mit digitalen Plattformen zur sozialen Interaktion und Kommunikation) einen Einfluss auf Sozialisationsprozesse bzw. das schulische und außerschulische Verhalten von Kindern und Jugendlichen, die bedeutsam bildungs- und erziehungsrelevant sind. Für die grundlagen- und anwendungsorientierte Forschung in Bildungskontexten bedeutet Digitalisierung, dass Digitalisierungsszenarien (z. B. Lernmanagement-Systeme im Klassenzimmer der Zukunft) entworfen und geprüft, Forschungsprozesse computerbasiert ablaufen (z. B. online-Befragungen), große Datenmengen aufgezeichnet und verarbeitet (z. B. big data in internationalen Bildungstests) oder computer-basierte Anwendungen für die pädagogische Praxis (z. B. Online-Beratung) implementiert werden.

Seit ihrer Existenz werden diese Formen einer Digitalisierung und ihre Konsequenzen in Bildung und Erziehung intensiv wissenschaftlich untersucht. Mittlerweile hat sich eine fast unüberschaubare wissenschaftliche Evidenz in internationaler medienpädagogischer und -psychologischer Forschung angehäuft, die sowohl für Schul- als auch für Unterrichtsprozesse direkt oder indirekt relevant ist. Wir kennen viele Theorien, Studien und Reviews sowie Meta-Analysen zur kognitiven, motivationalen oder sozial-emotionalen Wirkungsweise von z. B. computer-basiertem Unterricht, multimedia-basiertem und hybridem Lernen, intelligenten bzw. adaptiven Lehrsystemen oder virtual reality-Umgebungen, die, je nach Lehr-Lern-Design, stark variierende Effekte erzielen, wobei jeweils auch der oft nicht optimale Wirkungsgrad (der erzielte Lerneffekt in Relation zum eingesetzten Entwicklungsaufwand) oder zielgruppeneinschränkende Interaktions- und nicht intendierte Nebeneffekte zu beachten sind (z. B. Hillmayr et al. 2020). Bekannt sind auch viele auf Sozialisationsprozesse abzielende Studien, beispielsweise solche über die Effekte der Nutzung von Computerspielen auf das Sozialverhalten, von youtube-Videos auf informelles Lernen oder von social media-Nutzungen auf die Lernleistung oder das psychische Wohlbefinden von Kindern und Jugendlichen (z. B. Kates et al. 2018). Mittlerweile wurden auch unzählige neue Phänomene identifiziert, die für kognitives und soziales Lernen in digitalen schul- und außerschulischen Kontexten von Kindern und Jugendlichen relevant sind. Diese betreffen beispielsweise kognitive bzw. lernrelevante Facetten einer informationstechnischen Grundbildung, einer Medienkompetenz, einer tablet-Nutzung im Klassenzimmer, von adaptivem Testen und Lehren, von cognitive load beim Multimedia-Lernen, von edutainment, von open educational ressources, von re-useable learning objects, von artificial intelligence education oder von educational robotics sowie soziale Facetten wie Internet-Sucht, digital citizenship, influencing, fear of missing out, ghosting, cyber-grooming oder snuffing. Auf der Basis der dabei erzielten Forschungsergebnisse liegen auch medienpädagogische bzw. -psychologische Empfehlungen vor, die z. B. didaktische Standards und best practice-Gestaltungen von hybridem Lernen oder Ratgeber zur Medienkompetenz (digital literacy) oder zur Bearbeitung des Problems des cyberbullyings in Schulen und Familien betreffen. Die ungeheure Fülle an Forschungsergebnissen und die hohe Entwicklungsdynamik machen es schwer, eine stringente Bestandsaufnahme und Ziel- bzw. Mitteleingrenzung für Schul- und Unterrichtsentwicklungsprozesse zu leisten. Das wird auch besonders dadurch erschwert, dass viele Entwicklungen in ihren Effekten umstritten oder nicht eindeutig sind oder sich über viele Jahre hinweg nicht als tragfähige Alternative zu traditionellen nicht-digitalen Vorgehensweisen nachhaltig in schulischen Kontexten etablieren konnten.

Hier setzen die vorwiegend aus der Schulpädagogik und verwandten Disziplinen kommenden Autor*innen dieses medienpädagogisch und auf Schul- und Unterrichtsentwicklung orientierten Sammelbandes an. Es geht um die „Vermessung einer multidimensionalen Herausforderung“, die mit Digitalisierung für Schule und Bildung in gesellschaftlichen Kontexten verbunden ist. Dabei werden zentrale Aspekte von „Digitalisierungen in Organisations‑, Kooperations- und Technologieentwicklung“, von „Lehren und Lernen“ sowie für eine „Professionalisierung für eine digitale Schule“ behandelt.

Konkret finden zunächst vor allem Fragen nach bildungspolitischen Maßnahmen und Zielsetzungen als Mittel digitalisierungsbezogener Schulentwicklung, rechtlichen Regelungen, Schulqualität im Kontext der Digitalisierung, digitalen Transformationen von Schulen während der COVID-19-Pandemie, schulischer Organisationsentwicklung und wirtschaftspädagogischen Anwendungen Berücksichtigung. Dabei werden beispielsweise Konzeptpapiere der digitalisierungsbezogenen Schulentwicklung bewertet oder die Rechtsentwicklung als wichtige Querschnittsaufgabe identifiziert. Berichtete Befragungsergebnisse im Kontext eines Schulqualitätsmodells fanden die Einstellung zu digitalisierungsbezogenen Bildungszielen der Schulleitung als einen wichtigen Prädiktor. Andere im Buch enthaltene Befragungsergebnisse zum Digitalisierungsschub in der COVID-19-Pandemie zeigen, dass die digitalen Transformationsprozesse meist nicht konzeptuell begleitet abgelaufen sind. Klar herausgearbeitet wird auch der Hinweis, dass digitale Transformationsprozesse in der Schule letztlich auch bedeuten, dass man, als zentrale Gelingensbedingung, auch die Entwicklung der Kooperation zwischen den Akteuren vorantreibt. Ein wirtschaftspädagogisches Beispiel zeigt, dass Digitalisierung in der Schule mit innovativen fachlichen Themen (z. B.: Schüler*innenfirmen) gekoppelt werden muss, um begeistern zu können.

Themenblöcke im Bereich des Lehrens und Lernens betreffen das Konstrukt der digitalen Kompetenz, Medienbildung und -erziehung, hybride Lernkonzepte, Überlegungen zur fachbezogenen Integration, den Einsatz von Programmieren und Lernrobotern, das Lernen mit digitalen Pinnwänden oder Lehrwerke im digitalen Wandel. In Sachen digitaler Kompetenz bzw. einer Medienerziehung wird im Buch herausgearbeitet, dass es dabei nicht nur um eine technologische, sondern gleichzeitig auch um eine gesellschaftlich-kulturelle sowie anwendungsbezogene Perspektive geht. In einem Konzept zu Dimensionen erweiterter hybrider Lernangebote werden auch die gestaltbaren und interagierenden Komponenten Lernzeit, Verantwortung, Inhalte, Lernort und Methoden als grundlegend bei der Realisierung zukünftiger Lernformen angesehen. In fachdidaktischen Anwendungen neuer Medien finden einerseits erweiterte Kompetenzmodelle (zu digitalisierungsbezogenen und fachlichen Kompetenzen) und andererseits unterschiedliche Integrationsansätze (Lernen an, mit und über Medien) Berücksichtigung. Dass das Programmieren von Robotern, digitale Pinnwände oder digitalisierte Lehrwerke im Fremdsprachenunterricht einen digitalen Kompetenzaufbau auf vielfältige und innovative Weise fördern können, wird anschaulich und zur praktischen Nutzung motivierend dargestellt.

Was den Aspekt der Professionalisierung für eine digitale Schule betrifft, werden Facetten einer digitalen Bildung in der Lehrer*innenbildung, die Fortbildung von Schulleitungen und Digitalisierung als ethische Herausforderung thematisiert. Analysen in der Lehrer*innenbildung und Schulleitungsfortbildung zeigen, dass digitale Bildung noch bedeutsam ausbaubar ist und zwar sowohl im Kursangebot als auch in Curricula oder Ausbildungsstandards. Im letzten Beitrag wird das wichtige Thema einer „digitalen Autonomie“ zusammen mit einer ethisch sensiblen Vorgehensweise im Kontext digitaler Transformationsprozesse angesprochen.

Zusammenfassend betrachtet liegt hier der gut koordinierte Versuch vor, sich den neuen Entwicklungen der Digitalisierung konstruktiv aufzuschließen und deren Potenzial für schulische Entwicklungsprozesse zu explorieren. Den Autor*innen dieses Bandes gelingt es wichtige Themen einer Digitalisierung im Schulkontext auszuwählen und relevante nationale Entwicklungen (in Deutschland) zu skizzieren und zwar aus einer vorwiegend schulpädagogischen Perspektive. Diejenigen Leser*innen, die einen dosierten Einstieg und kompakten Überblick zu Fragen der Digitalisierung bei Schulentwicklungsprozessen und damit zusammenhängenden Faktoren suchen, finden hierzu eine verständliche und zu weiteren Erkundigungen stimulierende Grundlage. Der Sammelband trägt zur notwendigen Bewusstseinsbildung für dieses wichtige Thema bei und richtet sich nicht nur an wissenschaftlich orientierte Schulpädagog*innen, sondern auch an Akteur*innen der Bildungspolitik oder der schulischen Personal- bzw. Organisationsentwicklung.

Eine vertiefende, kritisch-problemsensitive und Innovationen stimulierende Aufarbeitung des aktuellen nationalen und vor allem internationalen empirischen Forschungsstandes, notwendige interdisziplinäre Kooperationen mit Kolleg*innen aus der (pädagogisch-psychologischen) Medienforschung oder vorhandene best practices als praktische Orientierungshilfen wären wichtige ergänzende Perspektiven für weiterführende Arbeiten zu dieser Thematik. Bearbeitet werden muss in weiterführenden Arbeiten auch die Frage, warum frühere quasi-digitale Revolutionen in der Schule und Schulentwicklung wenig erreicht haben: Ein wichtiger Grund dafür war, dass Lehrer*innen zwar einen Mehraufwand aber keinen relevanten Mehrwert zum herkömmlichen Lehren und Lernen erkennen konnten. In zukünftigen digital ausgerichteten Schulentwicklungsprozessen muss man daraus lernen und wird man den Nachweis erbringen müssen, dass Digitalisierung einen bedeutsamen und nachhaltigen Vorteil für Lehrer*innen und Schüler*innen erbringen kann. Das ist in den letzten 20 Jahren mit vielen computertechnischen Möglichkeiten nicht bedeutsam gelungen. Digitalisierung lässt sich nur schwer top-down verordnen, vielmehr basiert sie auf einem komplexen Akzeptanzprozess (z. B. Scherer et al. 2019). Die COVID-19-Pandemie hat zumindest eine höhere Quantität des digitalen Lehrens und Lernens bewirkt. In der Notwendigkeit der Bearbeitung von Belastungsproblemen wurden digitale Zugewinne zugunsten von offline-Traditionen aber wieder rasch aufgegeben. Erste Studien über Lernverluste in Lockdown-Zeiten lassen außerdem an der Qualität des erhöhten digitalen Aktivitätsgrades zweifeln. In diesem Zeitraum hat die Digitalisierung möglicherweise mehr neue Probleme produziert als sie alte Probleme gelöst hat. Viele Lehrer*innen, die die zentralen Implementierungsschnittstellen der Digitalisierung darstellten, waren mit folgender Frage konfrontiert: Ich habe jetzt eine neue Technik und ein neues Problem, wer löst das technische Problem? Pädagogisch wirksamer wäre folgende Frage gewesen: Ich habe ein Lehr-Lernproblem und wie kann die digitale Technik mir dabei helfen dieses Problem effizient zu lösen? Insofern kann man sich in zukünftigen weiterführenden Arbeiten auch eine stärker ausgeprägte Problemorientierung wünschen und zwar nicht primär bezogen auf die Digitalisierung, sondern auf die auf für eine Digitalisierung relevanten klassischen Aufgaben des schulischen Alltags wie Kompetenzaufbau und -messung, Individualisierung, Motivierung oder Förderung der Persönlichkeitsentwicklung. Offen ist schließlich auch noch die Frage, ob und wie eine auch immer mehr digitalisierte Bildungsforschung mit digitalen Schul- und Unterrichtsprozessen wirkungsvoll gekoppelt werden kann. Dabei wird als Nukleus das Problem der Unterrichts- bzw. Lernförderungsqualität bestehen bleiben und es wird faktenbasiert und in jeweils spezifischen Kontexten zu klären sein, ob digitale Assessments kombiniert mit adaptiven digitalen Unterrichtsformen bedeutsames Potenzial für positive Transformationen in Schulen haben oder nicht. Klar ist dabei auch, dass Digitalisierung nicht als disruptive Methode eingesetzt werden sollte, was manche Schul- und Bildungskritiker*innen vielleicht hoffen mögen, weil man damit auch Gutes und Funktionierendes gefährdet und außerdem etwas Neues etabliert, dessen Potenzial nicht eindeutig oder filigran ist. Besser ist in jedem Fall eine Schulentwicklungsmethode, die an vorhandenen Stärken orientiert arbeitet, den pädagogischen Horizont erweiterndes Problembewusstsein schafft und mit Qualität und Praktikabilität der gemachten Lösungsvorschläge überzeugt. Dabei sollte man Schritt-für-Schritt in sequentiellen Qualitätsmanagementzyklen vorgehen: Problemanalyse – Lösungsgestaltung – Lösungsimplementierung – Evaluation usw. Digitalisierung kann dabei nur Mittel zum Zweck sein, aber nicht Selbstzweck. „Möge die Übung gelingen“!