1 Einleitung

Als gesellschaftlicher Chancenapparat hat Schule eine zentrale Bedeutung in Prozessen sozialstruktureller (Re‑)Produktion. Ursachen für die Reproduktion von Bildungsungleichheiten werden von der Forschung vor allem im Kontext der beiden zentralen Sozialisationsinstanzen Familie und Schule gesucht. Als verantwortliche Akteure in diesem Geschehen erscheinen die Erwachsenen: Eltern, ihre Ressourcenausstattungen, Erziehungspraktiken und Bildungsentscheidungen sowie Lehrkräfte, ihre Bewertungspraktiken und Übergangsempfehlungen. Trotz der großen Aufmerksamkeit, die die Ungleichheitsfrage im Bildungsdiskurs genießt, bleibt damit bisher weitgehend ausgeblendet, wie Kinder selbst an der Herstellung von Bildungserfolg und Mobilität beteiligt sind. Dies ist umso erstaunlicher, als dass der empirische Ertrag der Forschung, die ausschließlich das Erwachsenenverhalten fokussiert, in der Erklärung von ungleichem Bildungserfolg bislang gering bleibt. An diese Leerstelle knüpft der vorliegende Beitrag an und macht die kindheitssoziologische Vorstellung, dass das „Kind als kompetenter Akteur“ (Esser et al. 2016) – und damit auch als Akteur ungleichen Erfolgs – zu betrachten sei, zum Ausgangspunkt der Untersuchung. Dazu werden zunächst zentrale Einsichten und Ausblendungen der Forschung beleuchtet, die den Beitrag der Erwachsenen in den Mittelpunkt stellt, um die Entstehung und Reproduktion von Bildungsungleichheiten zu erklären. Dem gegenüber gestellt wird die Perspektive der internationalen Kindheitsforschung, die den Handlungsbeitrag der Kinder in der Gestaltung sozialer Ordnung empirisch sichtbar machen will, bisher aber nur im Ansatz auf die Frage nach bildungsbezogenen Ungleichheiten übertragen wurde. Nach eben diesen häufig ausgeblendeten sozialen Leistungen der Kinder und ihren sozialstrukturellen Bezügen fragt dieser Beitrag. Ausgearbeitet wird ein interaktionistischer Zugang zu Prozessen struktureller (Re‑)Produktion, auf dessen Grundlage davon ausgegangen wird, dass die Bedingungen für ungleichen Erfolg in den Interaktionen zwischen allen Beteiligten erzeugt werden. Konkret soll untersucht werden, wie Kinder sich über ihre Akteursleistungen in den Kontexten der Familie und Schule einbringen können und welche Bedeutung diesem Handeln der Kinder im Erzeugen, der Reproduktion und dem Durchbrechen sozialer Positionen zukommt. Dazu wird die eingenommene Perspektive am empirischen Material einer qualitativen Längsschnittstudie zu ungleichen Schüler/innenkarrieren nach dem Übergang auf die weiterführenden Schulen ausgearbeitet.

2 Zur wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Frage nach ungleichen Bildungschancen

2.1 Lehrkräfte und Eltern als (Re‑)Produzenten von Ungleichheiten

Dort, wo Ursachen für ungleiche Bildungschancen auf institutioneller Ebene der Schulen gesucht werden, kommt in Deutschland insbesondere dem Übergang auf die weiterführenden Schulen Bedeutung zu: Diese frühe Selektion am Ende der Grundschulzeit erzeugt Ungleichheiten, die durch spätere Schulwechsel (Auf- oder Abstiege) nur bedingt ausgeglichen werden können (Jacob und Tieben 2010). Die quantitative Forschung zum Schulübergang macht deutlich, dass Bildungserfolg und -verläufe nur zum Teil auf Kompetenzen der Heranwachsenden zurückzuführen sind, die aufgrund ihrer sozialen Herkunft differieren. Konstatiert werden vor allem leistungsunabhängige soziale Herkunftseffekte (Bühler-Niederberger 2020). So reagieren die Bewertungspraktiken und Übergangsempfehlungen der Lehrkräfte auf soziale Herkunftsmerkmale der Schüler/innen. Bei gleichen Leistungen erhalten Kinder aus niedrigen sozialen Positionen schlechtere Noten und seltener Empfehlungen für das Gymnasium (Stubbe et al. 2017; Neugebauer 2010). In die Bewertungen der Lehrkräfte fließen neben Leistungskriterien auch ihre Einschätzung der Motivation, Leistungsfähigkeit und Anstrengungsbereitschaft der Kinder mit ein, welche für Kinder mit höherem sozialen Status höher veranschlagt werden (Stubbe und Bos 2008; Bremm 2020). Qualitative Studien, die untersuchen, wie Lehrkräfte an der Reproduktion von Bildungsungleichheiten beteiligt sind, liefern einen ähnlichen Eindruck: Sie zeigen, wie Lehrkräfte in ihrer alltäglichen Handlungspraxis die sozialstrukturelle Verortung der Schüler/innenschaft in Rechnung stellen und wie dadurch defizitäre Perspektiven auf Kinder mit niedrigem sozialen Status hergestellt werden (Lange-Vester 2015).

Neben den Praktiken und Beurteilungen der Lehrkräfte wird auch den Bildungsentscheidungen der Eltern eine zentrale Rolle in Bezug auf den durch den Schulwechsel in Aussicht gestellten Bildungsweg zugeschrieben. Diese Befunde fallen aber weniger eindeutig aus als jene zu den Praktiken der Lehrkräfte. Zeigen verschiedene Studien, dass Eltern mit höherem Status ihren Nachwuchs auch bei geringerer Leistung als für das Gymnasium geeignet betrachten (Stocké 2009; Dumont et al. 2019) und eher Gebrauch von späteren Korrekturoptionen machen (Buchholz und Schier 2015), verweisen andere Arbeiten darauf, dass auch Eltern mit niedrigem sozialen Status hohe Aspirationen entwickeln (Bittlingmayer und Bauer 2007).

Weitere quantitative und qualitative Studien unternehmen den Versuch, das Erziehungsverhalten der Eltern über die unterschiedlichen Ressourcenausstattungen und gesellschaftlichen Erfahrungen der Familien zu erklären und untersuchen deren Wirkung auf Bildungsdisparitäten. Die groß angelegten Leistungsstudien überprüfen etwa, wie Erziehungsbemühungen schichtspezifisch differieren und sich auf die schulischen Leistungen des Nachwuchses auswirken. In den PISA-Studien zeigen sich geringe signifikante Effekte zwischen den kulturellen Praktiken der Eltern und den Leseleistungen der Kinder. Begünstigende Zusammenhänge lassen sich für Theater- und Museumsbesuche, den Besitz von Büchern oder Kunstwerken und damit für an den Ressourcen und Kindheitsvorstellungen der Mittelschicht orientierte Praktiken feststellen (vgl. Bühler-Niederberger und Türkyilmaz 2017). Darüber hinaus lassen sich die elterlichen Erziehungs- und Förderpraktiken empirisch aber nicht eindeutig sozialen Gruppen zuordnen. Sie zeigen – egal wie sie operationalisiert werden – keine wesentlichen Effekte auf Kompetenzen und Bildungserfolg der Kinder (Lehrl 2013; Baumert et al. 2003; Henderson 2013). Besonders interessante Befunde liefert in diesem Kontext auch eine Studie von Schaub (2010), die zeigen kann, wie sehr die elterlichen Investitionen in die frühe schulbezogene Förderung der Kinder (gemessen etwa am Vorlesen und gemeinsamen Üben) in den letzten Jahrzehnten erhöht wurden – das gilt unabhängig vom Herkunftsstatus der Eltern. Viel deutlicher als der Einfluss elterlicher Förderbemühungen fällt allerdings der direkte Einfluss der sozialen Herkunft als solcher aus – das zeigt die Millenium Cohort Study (Dearden et al. 2010, S. 15). Egal wie der Status der Herkunftsfamilie gemessen wird – als Migrationshintergrund, Bildungsstatus der Eltern oder Familiengröße – erklärt er weitaus mehr Varianz in den schulischen Leistungen der Kinder als das Elternverhalten. Die Ergebnisse qualitativer Studien fokussieren auf die alltäglichen Interaktionen zwischen Familien unterschiedlicher sozialer Herkunft und Bildungsinstitutionen. Sie lassen erkennen, dass Eltern mit hohem Status selbstbewusster mit Bildungsinstitutionen umgehen und sich bemühen, eine solche Haltung auch an ihre Kinder weiterzugeben (Reay 1998; Lareau 2011).

2.2 Kinder als Akteure

Die Vorstellung, dass auch Kinder als soziale Akteure zu betrachten sind, stellt in der internationalen Kindheitsforschung ein Schlüsselkonzept dar, das eng mit der Abkehr von der in der Sozialisations- und Bildungsforschung nach wie vor dominanten erwachsenenzentrierten Perspektive auf das Aufwachsen verknüpft ist. Damit sollen die Beiträge von Kindern in der Gestaltung sozialer Welt – also ihre eigenständigen Leistungen im Hier und Jetzt – fokussiert werden. Erst wenige Studien – deren zentrale Ergebnisse im Folgenden dargestellt werden – verfolgen diesen Ansatz, um zu untersuchen, wie Kinder an der Entstehung und Reproduktion ungleicher Bildungschancen beteiligt sind.

In quantitativen Studien zeigen die Selbsteinschätzungen der Kinder in Bezug auf die eigenen Fähigkeiten einen deutlichen Effekt auf die Leistungen, doch nicht immer wird hier der Zusammenhang zur sozialen Herkunft erfasst (Möller und Trautwein 2014; OECD 2019). Untersucht wird auch der Einfluss, den die Kinder über eigene Ambitionen und Wünsche auf die Übergangsentscheidung nehmen können (Wohlkinger 2019; Machold 2019). Eine neuere österreichische Studie von Gamsjäger und Wetzelhütter (2020) untersucht die Mitbestimmungsrechte der Kinder in der Schule. Zwar werden insgesamt auf nahezu allen untersuchten Dimensionen (z. B. Unterricht, Schulregeln, Entscheidungen) geringe bis keine Mitgestaltungsrechte für die Kinder konstatiert, doch unterscheiden sich die Möglichkeiten zur Einflussnahme je nach Schulstandort und Lehrpersonen. Weitere quantitative und qualitative Studien untersuchen die Strategien der Kinder im Unterricht und in Verhandlungen mit Lehrkräften (Calarco 2011; Maschke und Stecher 2010). Diese Forschung verweist auf herkunftsspezifisch divergierende Haltungen gegenüber der Schule und deren Anforderungen; so sind Kinder mit niedrigem sozialen Status besorgter im Umgang mit den schulischen Anforderungen und sie fühlen sich auch stärker von der Beziehung zu den Lehrkräften abhängig. Die Einschätzungen der Lehrkräfte in Bezug auf ihre Leistungsfähigkeit und -bereitschaft nehmen sie als herabsetzend wahr (Reay 2006). Andere Studien thematisieren die schulischen Ambitionen und Zukunftspläne der Kinder und wie diese strukturell verortet sind (Jünger 2008; Bühler-Niederberger und König 2011; Willis 1977). In den Zukunftsentwürfen der Kinder lassen sich ebenfalls unterschiedliche Anspruchshaltungen erkennen: Während die Pläne der Kinder mit hohem Sozialstatus vor allem an eigenen Interessen und hochrangigeren beruflichen Positionen orientiert sind, nehmen die Kinder mit niedrigem sozialen Status geringe Möglichkeiten wahr. Eindrücklich werden diese Positionierungen der Kinder zur Schule und zum Gesellschaftsgefüge auch von Untersuchungen veranschaulicht, die das Bildungssetting der Hauptschule beleuchten (Lange-Vester und Redlich 2015; Wellgraf 2014). Die Schüler/innen berichten von Stigmatisierungserfahrungen, wissen um ihre tiefrangige Position im Bildungssystem und werten sich aufgrund dieser Lage selbst ab – wodurch sie die gesellschaftliche Defizitperspektive auf die Hauptschule legitimieren.

Zusammengefasst zeigen die Ergebnisse der präsentierten Forschungsstränge Folgendes: Sie verweisen auf den direkten Einfluss, den die soziale Herkunft auf den Bildungserfolg hat und verdeutlichen den Stellenwert, den herkunftsbezogene Einschätzungen und Bewertungen der Lehrkräfte im Zustandekommen von Bildungskarrieren haben. Die Befunde zeigen auch, dass die Erziehungs- und Förderbemühungen der Eltern nicht eindeutig herkunftsspezifisch divergieren und nur begrenzt Einfluss auf den Bildungserfolg des Nachwuchses nehmen (können). Der erkennbare Beitrag, den Kinder in diesem Geschehen zu ihrer zukünftigen Position leisten, lässt Bezüge zu ihrer gegenwärtigen Platzierung im gesellschaftlichen Gefüge erkennen. Neuere Auseinandersetzungen mit dem Akteurskonzept fordern vor diesem Hintergrund empirische Analysen, die Kinder als relevante Akteure im Kontext sozialer Beziehungen berücksichtigen, dabei aber auch die hinter ihren Leistungen stehende gesellschaftliche Strukturierung in Rechnung stellen (Hammersley 2017; Moran-Ellis 2021; Bühler-Niederberger 2021). Es gilt also für unterschiedliche Kontexte empirisch zu überprüfen, in welchem Umfang und auf welche Art Kinder Handlungsmacht geltend machen und darüber dann allenfalls auch soziale Strukturen bearbeiten können. Ein solcher Zugang zur kindlichen Akteurschaft wird im vorliegenden Beitrag über einen interaktionistischen Zugang zu Prozessen struktureller (Re‑)Produktion erarbeitet.

3 Interaktionistischer Zugang zur strukturellen (Re‑)Produktion

Im Folgenden soll ein Verständnis von Akteurschaft eingeführt werden, das die unterschiedlichen Erscheinungsformen des kindlichen Handlungsbeitrags und seine Bedeutung in Prozessen struktureller Reproduktion zu erfassen vermag. Dabei kann an eine Vorstellung von Akteurschaft angeknüpft werden, wie sie von Strauss (1993) im sozialtheoretischen Verständnis der pragmatischen Soziologie konzipiert wurde. Mit dem Konzept des „processual ordering“ (ebd. S. 254) bezieht sich Strauss auf die unauflösliche Verbindung zwischen (unmittelbaren) Interaktionen und institutionellen Strukturen (vgl. auch Sauder 2005). Interaktionen zielen dabei auf geordnete Abläufe und Situationen; diese sind aber stets und wieder herzustellen und werden von Interpretationen der beteiligten Akteure begleitet (Strauss 1993, S. 127). Von großer Bedeutung ist dabei das Selbst der Beteiligten (ebd., S. 111): im Sinne der Erwartungen der anderen und der Evaluation der eigenen Person in diesem Geschehen, ihrer Eigenschaften und Ansprüche. In diesem Zugang sind Strukturen – sollten sie noch so stabil und geordnet wirken – dann nicht einfach als determinierende Ursachen sozialen Geschehens zu denken, sondern in Interaktionen herzustellen, zu verändern und zu reproduzieren. Die pragmatische Soziologie nähert sich ihnen über den Begriff der „Routinen“ an, über die das Interaktionsgeschehen zunächst verläuft. Diese werden von den an den Interaktionen beteiligten Akteuren erkannt und reproduziert, erfordern aber auch permanent Abstimmung untereinander. In dieser Komplexität der Aushandlungsprozesse kann es zu Zwischenfällen oder Kreuzungen von Steuerungsversuchen durch die Beteiligten kommen, die die Interaktionsverläufe dann reflektieren und gegebenenfalls neu ausrichten.

Wie es das kindheitssoziologische Postulat fordert, werden in dieser prozessualen Vorstellung sozialer Welt auch Kinder als mit ihrem Selbst im Interaktionsgeschehen beteiligte Akteure berücksichtigt, ohne ihre soziale Handlungsfähigkeit zu essentialisieren. In Bezug auf die strukturellen Begrenzungen ihres Handlungsradius erhalten insbesondere die Interaktionen zwischen Erwachsenen und Kindern Bedeutung, da diese mit einem grundsätzlich ungleichen Zugang zu Rechten, Pflichten und Ressourcen für die Altersgruppen verbunden sind. In diesem Sinne ist dann auch das Handeln der Kinder vor allem auf ein Einfügen in die Routinen eines bestehenden „generationalen Arrangements“ (Türkyilmaz 2018) und damit auf ein Mitarbeiten an sozialer Welt ausgerichtet. Bühler-Niederberger spricht von „kompetenter Gefügigkeit“ (2020, S. 238) als aktive Aneignung der einem zugeschriebenen Position – im generationalen Gefüge, aber auch darüber hinaus: innerhalb gesellschaftlicher Chancenstrukturen. Gemeint ist das (An‑)Erkennen der eigenen Position in sozialen Hierarchien und bei der Umsetzung von Erwartungen. Angesprochen ist damit aber auch die soziologische Vorstellung von agency als Durchsetzungskraft gegenüber gesellschaftlichen Strukturen (Giddens 1995; Archer 2003). Da es sich dennoch um einen eigenen Beitrag zur Herstellung geordneter und strukturierter Interaktionsverläufe handelt, sind auch Widerständigkeiten und Abweichungen durch die Kinder möglich – die Übersetzung der an sie gerichteten Erwartungen ist damit weniger vorhersehbar und lückenlos.

4 Die Studie

Mit dem erarbeiteten theoretischen Zugang wird nun der Frage nachgegangen, wie Kinder über ihr kompetentes Handeln in alltäglichen Interaktionen mit Lehrkräften und Eltern dazu beitragen, den Status der Familie in Bildungsvor- oder -nachteile zu übersetzen oder von den Erwartungen, die die soziale Herkunft in Aussicht stellt, abzuweichen. Dieser Frage wird auf Grundlage von qualitativen Längsschnittdaten einer Mixed-Methods-Studie zu ungleichen Schüler/innenkarierren nachgegangen.Footnote 1 Im Rahmen von Hausbesuchen wurden dabei 24Footnote 2 Schüler/innen sowie mindestens eines ihrer Elternteile mit Leitfadeninterviews an zwei Erhebungszeitpunkten befragt – je einmal vor dem Übergang auf die weiterführenden Schulen, als die Kinder im Alter von sieben bis zehn Jahren waren, und einmal danach, als die Kinder 12 bis 15 Jahre alt waren. Die qualitative Studie orientierte sich an den Prinzipien und Forschungsstrategien der Grounded Theory (Strauss und Corbin 1996; Charmaz 2014), die den gesamten Forschungsprozess als Produkt der (dialogischen) Interaktion zwischen Forschenden und Beforschten versteht. Mit dem Einsatz von Verfahrensschritten wie dem theoretical sampling, also der bewussten Auswahl von Fällen auf Basis theoretisch interessierender Kriterien, dem Entwickeln von Codes und sensitivierenden Konzepten am empirischen Material sowie dem konstanten Vergleich von Fällen, erfolgte die qualitative Studie als induktiv-deduktives Wechselspiel, in dem sich Phasen der Datenerhebung und –analyse permanent abwechselten.

Die erste Interviewstudie zielte auf einen systematischen Vergleich der familiären Interaktionen (vgl. Türkyilmaz 2018). Ziel des Samplings war es also, eine möglichst große Heterogenität an Familien hinsichtlich sozialer Herkunft und schulischer Erfahrungen zu erzielen.Footnote 3 Der Zugang zu den Familien erfolgte über die Teilnahme der Kinder an der ersten quantitativen Befragungswelle, in dem Kinder aus 31 Grundschulen sozial-räumlich unterschiedlicher Stadtbezirke klassenweise zu ihren Einschätzungen in Bezug auf das Lernen, ihre Leistungen und familiäre Interaktionen befragt wurden. Früh im Verlauf der ersten Interviewstudie zeichnete sich ab, dass die Eltern kontinuierlich bemüht waren, ihre eigenen Ansprüche an die Vorbereitung des Kindes und die wahrgenommenen Anforderungen der Schule übereinzubringen. Dabei suchten die Eltern gezielt nach passenden Förderangeboten – je nach Möglichkeiten, die sich aufgrund ihrer sozialen Position boten, je nach Bedeutung, die der Schule als gesellschaftlicher Platzierungsinstanz zugeschrieben wurde und je nach verzeichnetem Schulerfolg des Kindes. Um die Zielorientierungen und Ansprüche hinter diesen unterschiedlichen Förderbemühungen der Eltern in ihrer Vielfalt zu erfassen, wurden in der Folge Zielkinder an weiteren Bildungsinstitutionen (Nachhilfeschule, Kinderuniversität, freie Schule, Montessorischule) akquiriert. Die Fragen des Interviews waren weitestgehend offen formuliert und zielten darauf ab, Narrationen zu konkreten Interaktionen und Situationen zu generieren. Themenkomplexe, die in den Interviews besprochen wurden, betrafen die Gestaltung des familiären Alltags, Erziehungsziele der Eltern sowie den Umgang mit schulischen Anforderungen und Zukunftsvorstellungen von Kindern und Eltern.

Zum zweiten Erhebungszeitpunkt wurden die bisherigen Bildungskarrieren der Kinder bilanziert. Es war vorgesehen, das Zustandekommen von konkreten Bewertungen und der Übergangssituation auch aus Perspektive der Grundschullehrkräfte zu erfassen. Leider konnte dies trotz wiederholter Anfragen nur für wenige Fälle realisiert werden; stattdessen wurden von den Familien zur Verfügung gestellte Zeugnisse und Laufbahnempfehlungen der Lehrkräfte thematisiert. Die Kontextbedingungen der Familien wurden über die gesellschaftlichen Erfahrungen (Migrations‑, Bildungs- und Berufserfahrungen der Eltern) sowie die Bezugnahmen der Befragten auf die eigene soziale Position und verfügbare Mittel angenähert, ohne diese an den Anfang der Untersuchung zu stellen. Vielmehr rückten die permanent ausgehandelten Positionierungen und aufgebauten Konstellationen zwischen Schule, Eltern und Kindern in den Blick – dies entspricht der sozialtheoretischen Perspektive des prozessualen Ordnens und dem methodologischen Ansatz der Grounded Theory.

An dieser Stelle soll nun herausgearbeitet werden, wie die Kinder – nachdem sie mit dem Übergang auf die weiterführenden Schulen besser oder schlechter im Bildungssystem platziert sind – in Interaktionen mit Lehrkräften und Eltern Handlungsleitlinien entwickeln und umsetzen, wie sie sich dabei auf soziale Strukturen beziehen und ob sie dabei – auch mit Blick auf ihre zukünftige Positionierung – agency geltend machen können. Um die Akteursbeiträge der Kinder konsequent aus Akteursperspektive zu fokussieren, bezieht sich die Analyse vorwiegend auf die an den Kindern erhobenen Daten; Elterneinsichten werden ergänzend hinzugezogen, um das Interaktionsgeschehen weitergehend zu illustrieren.

4.1 Anpassung als Strategie und einzige Option: Interaktionen zwischen Schüler/innen und Lehrkräften

Der Begriff der kompetenten Gefügigkeit wurde eingeführt, um den Handlungsmodus der Kinder zu erfassen, der sich auf das (situative) Ermitteln und Umsetzen von kontextspezifischen Anforderungen bezieht. Als die Kinder in der Grundschule waren, war es dieses Erkennen und mehr oder weniger lückenlose Einfügen in familiäre Vorgaben, das einen wesentlichen Bestandteil der kindlichen Mitarbeit an den zwischen Familie und Schule stattfindenden Interaktionen ausmachte, auch wenn dieser Beitrag je nach Kontext in seiner Ausgestaltung variierte. Das Interviewmaterial, das nach dem Übergang der Kinder auf die weiterführenden Schulen erhoben wurde, zeigt sehr deutlich, dass das Einpassen in die strukturierten Zusammenhänge des jeweiligen schulischen Kontexts eine zentrale Rolle spielt. Dies lassen die Selbstpräsentationen der Kinder als Schülerin bzw. Schüler erkennen. Es handelt sich zunächst um beispielhafte Aussagen von Schüler/innen, die eine Gymnasialempfehlung erhalten haben und entsprechend platziert wurden:

Das [Hausaufgaben bei Mitschüler/innen abschreiben] machen voll viele Leute und wenn der Lehrer einmal rumgeht, man weiß ja nie, ob der rumgeht, dann kriegt man ja noch mehr Ärger als das einfach so zu sagen. (Aleyna)

Ich weiß nicht, was sie gegen mich hat, aber egal, was ich sage, die schreit mich an. […] I: Und was machst du dann, wenn sie dich anschreit? […] M: Bei sowas, da bringt das nichts [sich anzulegen], weil dann schreit die mehr rum und dann muss ich am Ende nur zur Schulleitung oder so, weil ich mich ja anscheinend falsch benommen habe, deshalb, da mach ich dann gar nichts. (Matthias)

In ähnlicher Weise beschreiben Aleyna und Matthias hier ihre Anpassungsleistungen an das schulische Regelwerk als Versuch, um gut durch die Schule zu kommen. Von deviantem Verhalten und von Verhandlungen mit den Lehrkräften sehen sie in den geschilderten Situationen ab, um unmittelbare negative Konsequenzen (etwa Sanktionen) zu vermeiden. Sie beziehen sich dabei auf die untergeordnete Position, mit der sie als Schüler/in der Lehrkraft im generationalen Gefüge der Schule gegenüberstehen. Matthias’ Aussage, dass es bei „sowas“ nichts bringe, eigene Ansprüche zu präsentieren, verdeutlicht das situative Abwägen von Kooperation und Widerstand – in dieser Hinsicht hat das Handeln der Kinder also auch einen strategischen Charakter. Die Akzeptanz und Übernahme der ihnen zugeschriebenen Position durch die Kinder geht zum Teil sogar soweit, dass schlechtere Bewertungen hingenommen werden, wie die Ausschnitte aus weiteren Interviews von Kindern auf dem Gymnasium zeigen:

I: Gibt es denn irgendwas wie du die Lehrer auf dich aufmerksam machst? Manche Kinder schnipsen ja z. B.

O: Nein, ich meld’ mich halt dann und wenn ich Glück hab, komm’ ich dran, wenn nicht, dann halt nicht. Auch egal. (Ole)

Ich habe mal die Note schlechter gekriegt […] also, das war im Sport und dann habe ich ja eine Zwei gekriegt, aber das ist mir jetzt egal. Über sowas will ich dann mit Lehrern nicht diskutieren, weil es ist ja nicht so wichtig. (Findus)

Die Gleichgültigkeit, mit der Findus und Ole in Kauf nehmen, von der Lehrkraft übersehen zu werden oder eine Note schlechter zu bekommen, mag zunächst erstaunen. Vor dem Hintergrund ihrer bisherigen Schülerkarriere erweist sich diese Distanziertheit jedoch als strategisch: Beide Schüler sind bereits gut im Bildungssystem platziert und verzeichnen auch nach dem Schulwechsel Erfolg. Von einzelnen Bewertungssituationen sehen sie sich daher nicht abhängig und können gelassen bleiben – Findus bringt es mit „es ist ja nicht so wichtig“ auf den Punkt.

Anders stellt sich das Verhältnis zu den Lehrkräften für die Schüler/innen an den weniger prestigreichen Schulformen dar. In ähnlicher Weise wie Findus berichten Seliz, eine Realschülerin, und Ebru, eine Gesamtschülerin, davon, die Bewertungspraktiken der Lehrkräfte nicht immer nachvollziehen zu können. Im Gegensatz zu den Gymnasiast/innen zeigen sie sich aber wesentlich betroffener vom Verhalten der Lehrkräfte:

Und bei der mündlichen zum Beispiel/Da bekommen wir halt auch Noten. Und ich habe mich wirklich oft gemeldet. Ich habe mich mehrmals gemeldet an einem Tag, also in einer Stunde. Und sie hat dann immer gesagt „Nein, du hast dich nicht gemeldet“. […] Das hat mich auch sehr depressiv gemacht, Matheunterricht. (Seliz)

Und dann sagt meine Klassenlehrerin zu mir, ich habe wohl eine schlechte Note. Obwohl ich mich jede Sekunde melde. (Ebru)

In den hier berichteten Situationen tauchen die Lehrkräfte als handlungsmächtige Akteure auf, deren scheinbar willkürlichen Bewertungen und Zuschreibungen die Kinder ausgeliefert sind. Trotz der großen Anstrengungen, den Erwartungen der Lehrkräfte nachzukommen, bleiben ihre Möglichkeiten der Einflussnahme begrenzt. Den angestrebten Schulerfolg können sie über die von ihnen genannten Anpassungsleistungen nicht verzeichnen. Aus ihrer Perspektive wird ihr Einsatz – die permanente Mitarbeit im Unterricht – von den Lehrkräften nicht wahrgenommen. Anders als für die Gymnasiast/innen, geht es damit für die schlechter platzierten Kinder nicht nur um das Anbringen oder Zurückhalten eigener Ansprüche. Vielmehr nehmen sie das Verhalten der Lehrkräfte als potenzielle Bedrohungen für den weiteren Bildungsweg wahr, denen sie durch ihr Handeln kaum etwas entgegensetzen können.

4.2 Aneignung und Ausarbeitung familiärer Vorgaben: Interaktionen zwischen Kindern und Eltern

Unabhängig vom Herkunftsstatus betonen die Kinder auch in Bezug auf die Interaktionen mit den Eltern zunächst ihre grundsätzliche Kooperationsbereitschaft. Beschreiben die Kinder ihre Unterordnung im schulischen Kontext als mehr oder weniger unausweichlich, um gut durch die Schule zu kommen, wird das Einpassen in der Familie stärker mit der eigenen Handlungsfähigkeit und -intention legitimiert. Dass es sich nicht um eine bloße Übernahme elterlicher Vorgaben, sondern um ein eigenständiges Aufdecken und Aneignen teils unausgesprochener Regeln handelt, bringt Rayas Aussage zum Ausdruck:

Also es gibt klar so Regeln, aber jetzt nicht so klare Regeln, „ja, das darfst du nicht, das darfst du“ […]. Ich weiß halt, was meine Eltern mögen und was halt nicht. Und das bilde ich dann so selbst als Regel dann quasi. (Raya)

Mit dem Herausstellen des aktiven Beitrags, den sie zur Umsetzung elterlicher Erwartungen leistet, grenzt Raya sich bewusst von einer inferioren Position im generationalen Gefüge ab. Damit wird ein Erweitern der Handlungsspielräume vor allem im privaten Raum möglich: So geben alle Kinder an, die bestehenden elterlichen Regeln etwa zur Mediennutzung, zur Schlafenszeit oder zu Ausgehzeiten zumindest ein Stück weit auszuarbeiten, indem sie sie „mal vergessen“ oder „ausreizen“.

Auch die wahrgenommenen schulischen Anforderungen wirken sich auf die in den Familien realisierten Konstellationen aus. So äußert der Großteil der Kinder, dass die Eltern ihnen zwar weitgehend die Verantwortung für den eigenen Bildungsweg zuschreiben, aber auch enttäuscht oder verärgert sind, wenn der Nachwuchs nicht genug in den eigenen Erfolg investiert. Einige der Befragten berichten auch von Einschränkungen der eigenen Freiräume bei Schulleistungen, die unter den Erwartungen der Eltern bleiben (z. B. Fernseh- oder Computerverbote). Deutlich zeigt sich in diesen Reaktionen auf die schulischen Rückmeldungen auch der Bezug zur sozialen Position der Familien: Dort, wo die Eltern vor dem Hintergrund der eigenen gesellschaftlichen Erfahrungen Bildungsabstiege befürchten, sind die Interaktionen zwischen Eltern und Kind in besonderem Ausmaß auf das Bearbeiten des Schulerfolgs ausgerichtet. Die Versuche, den schulischen Anforderungen Rechnung zu tragen und ein Versagen des Kindes doch noch abzuwenden, erfordern ein strenges elterliches Regime über das Kind; für das Kind sind Möglichkeiten der Einflussnahme vor allem auf das Erzielen von Schulerfolg verengt. Das Zitat von Ebrus Mutter, einer Reinigungskraft, die bereits in der Grundschulzeit ihr gesamtes Gehalt für die Nachhilfe der Tochter aufwendete, zeigt eindrücklich, mit wie viel Druck und Enttäuschung jede neue schulische Bewertung in der Familie ankommt.

Dann lernen wir manchmal. Und wenn sie dann eine schlechte Note bekommt, dann sage ich ihr: „Ich habe die Nase voll von dir. Mache was du willst. Dann bleibe halt sitzen.“ (Ebrus Mutter)

Andersherum gelingt es erfolgreichen Kindern über ihren Schulerfolg auch im privaten Setting Freiräume zu realisieren. Diese Kinder präsentieren ihr hohes Zutrauen in die eigenen Fähigkeiten und ihre Selbstständigkeit im Umgang mit den schulischen Anforderungen. Melina zum Beispiel, deren Mutter alleinerziehend und arbeitssuchend ist, zeigt mit ihrer Aussage, dass sie sich auf ihren Einsatz in zweierlei Hinsicht verlassen kann: Er führt zum Erfolg und erwirkt Zugeständnisse von Seiten der Mutter.

Manche Kinder wissen nicht so ganz, was sie lernen sollen und für mich war das immer so voll klar. […] Das mach ich halt einfach immer alleine, so selbstständig irgendwie mehr so. Meine Mama erlaubt es [viele Freiräume], weil ich jetzt kein Problem mit der Schule so hab oder so. (Melina)

Ihre Einschätzung spiegelt sich in der Wahrnehmung der Mutter, die sich in der „glücklichen Position einer Mutter“ sieht, deren „Kinder noch nie Schwierigkeiten in der Schule hatten“. Damit begründet die Mutter dann auch die Freiheiten, die sie der Tochter einräumt:

Ich bin sehr entspannt und sehr locker und erlaube wahnsinnig viel, weil ich es einfach vertreten kann. (Melinas Mutter)

4.3 Reproduktion und Veränderung ungleicher Startbedingungen

Nach dem Übergang waren 18 der insgesamt 24 Kinder an Gymnasien oder Gesamtschulen platziert. Damit hat der Großteil der Kinder über ihre Schulkarrieren eine Ausgangslage erreicht, die potenziell den höchstmöglichen Schulabschluss in Aussicht stellt. Während keines der Kinder vom hohen Status der Herkunftsfamilie „abgestiegen“ ist, hat sich für sechs der Kinder – wie für Melina – die Chance eröffnet, in der Zukunft die niedrige soziale Position der Eltern zu verlassen. Unabhängig vom sozialen Status und der eingeschlagenen schulischen Laufbahn sind sich aber alle befragten Kinder einig darüber, dass der Schule in Bezug auf zukünftige Chancen eine zentrale Bedeutung zukommt. Das ist ein deutlicher Unterschied zu ihren Orientierungen in der Grundschulzeit. Sämtliche Eltern versuchten damals, den Nachwuchs mit dem Übergang auch bei schlechteren Leistungen zumindest auf einer Real- oder Gesamtschule zu platzieren. Die Kinder hingegen bezogen sich – sofern sie schon Vorstellungen dazu hatten – eher auf ihre Leistungen oder Anstrengungsbereitschaft, um ihre Übergangswahl zu begründen. In ihrer Selbstpräsentation rekurrieren nun auch sie auf die Relevanz, die der näher rückende Schulabschluss und die eigenen Aspirationen nach dem Übergang gewonnen haben:

Also, ich verstehe jetzt schon sehr viel davon, was meine Eltern damals gesagt haben, denn wenn man jetzt einen guten Schulabschluss macht, kann man auch später/also, hat man bessere Chancen irgendeinen Job zu bekommen und hat auch eine große Auswahl. (Gerrit)

Ich habe viel nachgedacht und ich habe früher nicht so viel überlegt, ob das wichtig ist mit der Schule […] Aber jetzt habe ich überlegt und ich merke, dass wenn ich lerne, dann werde ich auch Erfolg haben später und deshalb versuche ich auch vieles zu tun und dann später zu Erfolg zu kommen. (Seliz)

Indem sie die Schule „jetzt“ ernst nehmen und die formalen Bedingungen für den zukünftigen Zugang zu gesellschaftlichen Positionen benennen, bringen die Kinder ihr wachsendes Wissen über soziale Strukturen in Anschlag. Sie setzen sich bewusst und ernsthaft mit ihren Ansprüchen auseinander und berufen sich auf den aktiven Einsatz, den sie – wie Seliz hier anbringt – für das Erreichen von Erfolg leisten. Gerrits explizite Bezugnahme auf das, was die „Eltern damals gesagt haben“ lässt erkennen, dass sie auch dabei Erwartungen der Eltern in Rechnung stellen und aneignen. Jedoch schätzen die Kinder die Möglichkeiten, über diese Investition in die eigene Zukunft auch Erfolg zu erzielen, vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Position unterschiedlich ein. Unter den sechs Kindern, die niedrigere Übergangsempfehlungen erhielten, war keines mit hohem sozialem Status. Vier dieser Kinder erhielten eine Realschulempfehlung; zwei Kinder erhielten eine Hauptschulempfehlung, keines wechselte aber tatsächlich auf eine Hauptschule. Diese Kinder sind sich unsicher, ob sie ihre zukünftige Position über den eigenen Einsatz beeinflussen können – egal wie hoch dieser ausfällt:

Und ich werde auch alles dafür geben, dass ich Abi schaffe, aber, ob es wirklich klappt, da zweifle ich selber an mir. (Shirin)

Flugbegleiterin möchte ich auf jeden Fall werden. Ich muss dafür richtig gut Englisch können und ich möchte halt auch so bessere Abschlüsse bekommen, damit die auch mich direkt dann so annehmen und so […] Ich bin mir nicht so ganz sicher, weil man braucht so viel. (Ebru)

Shirin möchte „alles dafür geben“, das Abitur zu erreichen; Ebru möchte auf „jeden Fall“ Flugbegleiterin werden, doch wie sie den Weg dahin beeinflussen können, wissen sie nicht. In Anbetracht des bisherigen Erfolgs wird das Erreichen des anvisierten Aufstiegs zu einem nahezu unmöglichen Unterfangen.

5 Fazit

Ziel des Beitrags war es, die Erscheinungsformen, Bedingungen und Grenzen der Akteurschaft von Kindern in Prozessen struktureller (Re‑)Produktion zu analysieren. Der empirisch gut belegte Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Bildungserfolg wurde dazu als Effekt von Interaktionen zwischen Kindern und den zentralen Sozialisationsinstanzen Familie und Schule betrachtet. Ein zentrales Ergebnis der eingenommenen Perspektive ist, dass der Beitrag der Kinder in diesen Prozessen auch am nahenden Ausgang der Kindheit hauptsächlich strukturreproduzierenden Charakter hat. Sie erkennen und befolgen die strukturellen Regeln des jeweiligen Kontexts und wirken so wesentlich an ihrer Herstellung und Konsolidierung mit. Der Beitrag verdeutlicht, dass es sich beim bisweilen umstandslos erscheinenden Aufspüren und Umsetzen der Erwartungen der Erwachsenen dennoch um einen eigenständigen Beitrag der Kinder handelt: In welchem Ausmaß und auf welche Weise man sich in jeweiligen Kontext einfügt, welche Chancen und Risiken das stückweite Ausbrechen aus dem vorgegebenen Gefüge birgt, muss dabei stets aufs Neue austariert werden. In Interaktionen mit den Lehrkräften und den Eltern stellen die Kinder die strukturellen Bedingungen und Konstellationen mit den Erwachsenen unmittelbar, aber auch in Bezug auf ihre Zukunft in Rechnung, wenn sie etwa eigene Ansprüche gegenüber den Lehrkräften zurückhalten, um ungünstige Auswirkungen auf den Bildungsverlauf zu vermeiden oder Regeln des familiären Kontexts ausarbeiten.

Die Berücksichtigung der wechselseitigen Interaktionsverläufe zwischen Lehrkräften, Eltern und Kindern hat differenzierte Einsichten in das Zustandekommen ungleicher Bildungsverläufe ermöglicht. Dabei zeigt das Handeln der Kinder vielfältige Bezüge zur Herkunftsposition der Familie: So weisen die Schüler/innen, die eine Empfehlung für eine weniger prestigeträchtige Schulform als das Gymnasium erhalten haben und entsprechend platziert sind, alle einen niedrigen sozioökonomischen Status auf, sehen sich den Lehrkräften in besonderem Maße untergeordnet und nehmen in der Schule und zum Teil auch in der Familie höhere Einschränkungen der eigenen Handlungsintentionen wahr. Sie zeigen sich auch unsicherer in Bezug auf die schulischen Anforderungen und ihren Einfluss auf die zukünftige Platzierung. Damit werden aus Perspektive der Kinder im Wesentlichen die statusbedingten Differenzierungslinien und Einschränkungen im Umgang mit institutionellen Autoritäten und Leistungsanforderungen thematisiert, die bereits in anderen Studien zur strukturellen Selbstverortung der Kinder konstatiert wurden (Reay 2006; Jünger 2008). Doch diese Studien fokussieren vor allem auf die Passung zwischen Sozialisationserfahrungen in der Herkunftsfamilie und Bildungsinstitutionen. Einblicke in die Einbettung biographischer Prozesse in unmittelbaren Interaktionen mit signifikanten Anderen bleiben dagegen in der bisherigen Erforschung ungleicher Bildungsverläufe bruchstückhaft. Die vorliegende Studie stellt eben diese alltäglichen Interaktionsgeflechte in Rechnung – die wechselseitigen Verhandlungen und Zuschreibungen sowie deren beständige Korrektur zwischen den Beteiligten. In dieser Weise kann die Untersuchung dann auch wertvolle Anhaltspunkte über das Zustandekommen von Bildungsaspirationen und -anstrengungen liefern. Denn nicht nur vor dem Hintergrund des Wissens um die eigene Platzierung im Bildungssystem und im gesellschaftlichen Gefüge begründen die Kinder ihre Aspirationen in Bezug auf die Schule und die Zukunft. In eindrücklich gleichförmiger Weise erkennen sie die relevante Bedeutung der Schule als Platzierungsinstanz an, sie beziehen sich aber auch auf die spezifischen Erfahrungen, die sie in den Interaktionen mit den Lehrkräften machen. Die von den Schüler/innen ohne Gymnasialempfehlung bzw. -platzierung geschilderten Unterrichtssituationen lassen zum Teil massive Abwertungserfahrungen und Enttäuschungen greifbar werden, die in ihre Evaluation der eigenen Bildungsinvestitionen und auch in die allgemeinere biographische Planung einfließen.

Indem die Analyse über eine segmentierende Betrachtungsweise der Sozialisationsinstanzen hinausgeht, kann das Material auch zeigen, dass das familiäre Arrangement variabler ist für die Suche der Kinder nach Freiräumen: Besonders deutlich wird dies, wenn das Kind entgegen den Erwartungen des Herkunftsstatus souverän mit den schulischen Anforderungen umgeht und eigenständig Erfolg verzeichnet. In diesem Sinne stellt das Handeln der Kinder dann auch einen zukünftigen sozialen Aufstieg in Aussicht. Auch das Verhalten der Eltern in diesen Prozessen zeigt sich als wesentlich komplexer, als es in der Erforschung ungleicher Bildungschancen bisher größtenteils erfasst wird. Wie die Literaturzusammenschau gezeigt hat, reduziert sich die Perspektive in der Bildungsforschung, insbesondere in den großen Leistungsstudien, allzu häufig auf Ressourcenausstattungen und habituelle Praktiken der Eltern, die als unterschiedliche Investitionen in den Schulerfolg und die Zukunftsvorbereitung der Kinder gefasst werden. Die vorliegende Studie zeigt vielmehr, dass die Eltern auch auf schulischen Erfahrungen und das Handeln des Kindes reagieren und dabei ihr eigenes Verhalten und Zugeständnisse an die Kinder anpassen (vgl. Bühler-Niederberger und Türkyilmaz 2017, 2018). Die Forschung zu sekundären Herkunftseffekten verweist wiederum darauf, dass die soziale Herkunft der Kinder in Prozessen der Urteilsbildung nicht ungefiltert durchschlägt; u. a. reagieren die Lehrkräfte auch auf die antizipierte elterliche Unterstützung (Nölle et al. 2009), die für Familien mit höherem Status höher veranschlagt wird. Nicht zuletzt hat unsere Analyse aber gezeigt, dass ein wesentlicher Aspekt des kindlichen Beitrags zum Erfolg gerade darin besteht, sich ein Stück weit von den Erwachsenen distanzieren zu können – sowohl von der Unterstützung der Eltern als auch vom Verhalten der Lehrkräfte. Diesen Eindruck stützen auch unsere quantitativen Ergebnisse, in denen eine hohe und zuverlässige Selbsteinschätzung den weitaus höchsten Effekt auf die Wahrscheinlichkeit hat, in die Gruppe der Aufsteiger/innen zu fallen (Bühler-Niederberger et al. 2019). Zu „Absteiger/innen“, d. h. Kindern, die entgegen der hohen sozialen Position ungünstige Bildungsverläufe verzeichnen, können auf Grundlage der empirischen Einsichten keine Aussagen getroffen werden – keines der Kinder weicht in dieser Richtung vom familiären Herkunftsstatus ab.

Das Berücksichtigen auch dieser Anteile kindlicher Akteurschaft in Interaktionen mit Familie, Schule, Peers und der dabei aufgebauten Konstellationen kann somit wichtige Anknüpfungspunkte für die Erforschung bildungsbezogener Ungleichheiten in weiteren Kontexten des Aufwachsens liefern.