1 Einleitung: Schule als Subjektivierungskontext

Man bleibt nicht unangetastet. (Butler 2005, S. 40)

Die Institution Schule ist ein bedeutsamer Subjektivierungs- und Normierungskontext, in dem Schüler/innen nicht nur Lernerfahrungen auf der Ebene des curricularen Wissens- und Könnens-Kanons machen, sondern auch mit gesellschaftlichen Ordnungen, den darin wirksamen sozialen Differenzkategorien (etwa race, class, gender, dis/ability) und scheinbar ‚legitimen‘ Unterscheidungspraktiken vertraut gemacht werden (vgl. etwa Rose 2015; Jäckel et al. 2016; Fritzsche 2015). Differenzbezogene und differenz(re)produzierende Unterscheidungspraktiken, die wir im Rahmen eines Forschungsprojektes zu Bildungsbiografien in der Rekonstruktion der Erzählungen von Schüler/innen erörtern und analysieren, werden in der Institution Schule wirksam und sind zugleich in „größere Konstellationen“ (Budde et al. 2019, o. S.), d. h. in gesellschaftliche Diskurse und Selbstverständnisse, eingebettet bzw. gehen aus diesen hervor. In der Schule können sie, u. a. aufgrund des hierarchischen Verhältnisses zwischen Lehrer/innen und Schüler/innen, spezifische Dynamiken entfalten, mit denen wir uns in dem vorliegenden Text beschäftigen. In kaum einem anderen Handlungsfeld wird in derart vielfältiger Weise auf Subjekte und ihre bildungsbiografischen Verläufe Einfluss genommen, wie es durch pädagogisches Handeln in der Schule geschieht (vgl. etwa Gerheim und Spies 2017). So war ein Ausgangspunkt für das diesem Beitrag zugrunde liegende Forschungsprojekt „Widerfahrnisse und Umgangsweisen – bildungsbiografische Rekonstruktionen von Jugendlichen nach dem ersten Schulabschluss“ die Frage, welche „Formen von Subjektivität“ (Foucault 2005, S. 877) in diesem Kontext ermöglicht, nahegelegt, ausgeschlossen oder eingeschränkt werden.

In Anlehnung an Judith Butler (2001) und die Rezeption ihrer Arbeiten mit Bezug auf migrationsgesellschaftliche Ordnungen bei Nadine Rose (2012, 2014) verstehen wir Subjektivierung als den Konstitutionsprozess des Subjekts, in dem das Subjekt mit den normativen Vorgaben des Sozialen vertraut gemacht wird. In poststrukturalistischen Zugängen wird das Subjekt nicht als autonomes, selbsttransparentes Subjekt konzipiert, sondern der Blick auf gesellschaftlich zirkulierende Diskurse und Normen gelenkt, die „nicht nur das Handeln von Menschen regulieren, sondern auch das, was Menschen als ihre ‚Individualität‘ oder ‚Subjektivität‘ begreifen, maßgeblich bestimmen“ (Rose 2016, S. 331; Herv. im Orig.). Soziale Differenzen sind demnach stets diskursiv vermittelte soziale Konstruktionen (vgl. Tuider und Trzeciak 2015, S. 365), die in Subjekt-Werdungs-Prozessen gewissermaßen Wirklichkeit werden. Die Frage danach, „wie normative Bestimmungen von Subjektivität sowie Techniken ihrer Herstellung zum Einsatz kommen“ (Alkemeyer und Brümmer 2017, S. 701; Herv. im Orig.) und welche Rolle pädagogisches Handeln in der Schule in diesen Herstellungsprozessen spielt, stehen im Zentrum unseres Erkenntnisinteresses.

In einer an Foucault angelehnten Perspektive auf „Schule als Disziplinierungs- und Machtraum“ machen Grabau und Rieger-Ladich (2014) deutlich, dass neben der Frage „wie jemand zu sich selbst kommt“ (ebd., S. 64) auch die Frage nach dem Prozess bedeutsam wird, „wie er oder sie zu jemandem gemacht wird“ (ebd.) und welche Rolle die Schule und die dort handelnden Akteur/innen in diesem Werden und Geworden-Sein spielen. Denn Schule ‚ereignet sich‘ qua Schulpflicht für alle in einer bestimmten Zeit, in bestimmten gesellschaftlichen Verhältnissen und erfüllt bestimmte Funktionen, um „die in ihre Obhut gestellten Schüler/innen zu vergesellschaften“ (Geier 2016, S. 436). Als Ort und System, das sowohl durch gesellschaftliche Differenzordnungen und Machtverhältnisse strukturiert und vermittelt, als auch an der Stabilisierung und (Re‑)Produktion dieser Ordnungen und der damit verbundenen Positionierungen von Subjekten beteiligt ist, tragen die Schule und die schulischen Akteur/innen zur Stabilisierung und/oder zur Transformation gesellschaftlicher Verhältnisse bei.

2 Theoretische Rahmung und Begriffsklärungen: Macht und Anrufung

Entlang der Rezeption und Weiterentwicklung des von Foucault entworfenen Machtverständnisses ist Macht nicht vordergründig als Verfügungsgewalt einiger weniger ‚Herrschender‘ oder als physische Gewaltanwendung zu verstehen (vgl. Keller et al. 2012, S. 11 f.), sondern als allgegenwärtige „Konstitutionsbedingung des Sozialen“ (Gottuck und Mecheril 2014, S. 89). Entgegen alltagsweltlicher Vorstellungen, in denen Macht mit Unterdrückung und Repressionen in Verbindung gebracht wird, untersucht die foucaultsche Machtanalyse nicht die „normativen Rahmenbedingungen und Regelsysteme der Macht, sondern öffnet sich der Analyse kultureller Praktiken“ (Bublitz 2003, S. 64), denn „moderne Macht ist nicht gleichbedeutend mit Gewalt von Menschen über Menschen, sie bezeichnet überhaupt kein Gewaltverhältnis; sie […] zirkuliert als mikrophysische Kraft und funktioniert als Kräfteverhältnis, das in der Unterwerfung die Subjekte und die Körper materiell konstituiert“ (ebd., S. 68). Sie hat einen „produktiven Charakter“ (Audehn 2017, S. 682), der an und mit den Körpern der Subjekte arbeitet und sich gewissermaßen in diese einlagert (vgl. ebd.). Der Machtbegriff bezieht sich demnach auf die Selbstverständlichkeiten, Normalitäten, Alltagspraktiken und Bedingungen, in denen Subjekte in einer bestimmten Weise geformt werden (vgl. Leiprecht 2014).

Mithilfe des Theoriemodells der Anrufung, welches Butler (2001) ins Zentrum ihrer Subjektivierungstheorie stellt, werden aus machttheoretischer Perspektive die Praktiken der Subjektivierung analytisch fassbar. Eine Anrufung ist kein einzelner Akt der Benennung, sondern zeigt sich als beständig wiederholende Verkettung von Bedeutungsaufführungen (ebd.; Ivanova-Chessex und Steinbach 2017, S. 57 ff.), in denen Subjekte als spezifischer Jemand adressiert werden. In diesem Prozess der Adressierung erfahren Subjekte unweigerlich etwas über sich selbst und ihre (von anderen wahrgenommene) gesellschaftliche Position. Butler bezeichnet dies als „Forderung, die von anderswo an uns herantritt“ (Butler 2005, S. 155).

Anrufungen sind dabei grundsätzlich zitatförmig, d. h., sie zitieren einen Diskurs, der immer schon vor dem angerufenen und dem anrufenden Subjekt präsent ist und dieses übersteigt: „Obgleich das Subjekt zweifellos spricht und es kein Sprechen ohne Subjekt gibt, übt das Subjekt nicht die souveräne Macht über das aus, was es sagt“ (Butler 2006, S. 60). Denn Anrufungen erhalten wir „von den anderen unserer sozialen Welt und sie wird formuliert, indem auf Diskurse und in ihnen zirkulierende historisch spezifische Wissens- und Wahrheitsbestände zurückgegriffen wird“ (Rose 2015, S. 197). Anrufungen bringen also stets bestimmte Vorstellungen von Normalität zum Ausdruck, die dem Subjekt gegenüber vorgängig sind und in und durch Subjektivierungsprozesse (re-)produziert werden. Indem Butler verdeutlicht, dass Anrufungen auch ‚scheitern‘ oder ‚misslingen‘ können, betont sie die Handlungsfähigkeit von Subjekten, die an sie gerichteten Adressierungen zurückzuweisen bzw. sich nicht normkonform zu verhalten oder aufzuführen und dabei auch Bedeutungsverschiebungen vorzunehmen (vgl. Butler 2006, S. 139; Rose 2015, S. 335 ff.).

3 Projektkontext, Methoden und Methodologie

Im Rahmen des Forschungsprojektes Widerfahrnisse und Umgangsweisen – bildungsbiografische Rekonstruktionen nach dem ersten Schulabschluss Footnote 1wurden anhand narrativer Interviews (Schütze 1983) die bildungsbiografischen Erzählungen von 22 Schulabsolvent/innen erfasst, um u. a. das in den Erzählungen zum Vorschein kommende machtvolle Anrufungsgeschehen im schulischen Setting zu rekonstruieren. Die Auswertung der Daten erfolgte in Anlehnung an die Narrationsanalyse von Schütze (1983) und das thematische Kodieren nach Flick (2016) in drei Schritten: 1. Systematisierende Einzelfallanalyse und Erstellung von deskriptiven Fallbeschreibungen, 2. Offen-induktives Codierverfahren und sequenziell-hermeneutische Fein- und Tiefenanalyse der Einzelfälle (diachrone Ebene) und 3. Kategorialer Fall- und Gruppenvergleich (synchrone Ebene).

Das Projekt ist in der Erziehungswissenschaftlichen Biographieforschung verortet (vgl. Loch 2006; Marotzki 2006). Der bildungstheoretische Referenzrahmen der Erziehungswissenschaftlichen Biographieforschung ist darauf orientiert, die Verortung der Menschen in der Welt und deren Selbst- und Weltreferenzen zu analysieren (vgl. Marotzki 2006, S. 61), da „Welt und Selbst […] nicht ein Gegebenes“ sind, sondern „aufgrund unserer perspektiven- und deutungsgebundenen Wahrnehmung zu etwas [werden], was erst hergestellt und über soziale Interaktionen aufrechterhalten oder verändert wird“ (ebd.). Die epochalen Bedingungen sind insofern bedeutsam, da das Individuum seine/ihre Geschichte nur diachron zu seiner/ihrer eigenen Einbettung in die Sozialstrukturen und historisch entstandenen Kontexte der Gesellschaft betrachten kann. Ohne diachrone Erinnerungen wäre das Individuum „existentiell entwurzelt“ (ebd.): „Menschen haben eine individuelle und eine kollektive Geschichte. Ich und die Geschichte, die ich für mein Leben halte, sind nicht zu trennen“ (ebd., S. 65). Wenn also auf den bildungstheoretischen Referenzrahmen der Erziehungswissenschaftlichen Biographieforschung verwiesen wird, rücken die Erfahrungen, Widerfahrnisse und Perspektiven der Schüler/innen selbst ins Zentrum, denn:

Wir können das zu erziehende Kind nicht wirklich verstehen, ohne dessen eigenen Kommentar, wie es selbst verstanden werden will, zu würdigen (Hey 1988). Das Prinzip der Achtung erfordert, das pädagogische Verstehen am Selbstverständnis des Kindes zu orientieren (Loch 1981; Muth 1988). Das ist das ethische Motiv der biographischen Erziehungsforschung. (Loch 1988, S. 255)

Erziehungswissenschaftliche Biografieforschung ist also relativ eng mit subjektivierungstheoretischen Perspektiven verbunden, da sie sich „vor allem für die Erfahrungen und Bewältigungsstrategien der Subjekte, ihre Lernerfahrungen und Bildungsprozesse“ (Ecarius 2018, S. 166; vgl. auch Ricken 2019) interessiert. Sie ist mit Erziehungs‑, Bildungs- und Lernprozessen im Kontext der Entwicklung von Identität befasst (vgl. Krüger und Marotzki 2006), wobei Identität hier nicht als ‚fixiertes Ich‘ konzeptualisiert wird, sondern als fortlaufender und andauernder Identifikationsprozess. In der Erziehungswissenschaftlichen Biographieforschung wird unter dem Einfluss poststrukturalistischer Theoriebildung auf das Prozesshafte von Identität(en) verwiesen, wofür Alheit (2010) den Begriff der Biographizität nutzt und Gregor (2018) die gesellschaftlichen Bedingungen der Entwicklung von Biographizität hervorhebt (vgl. auch Spies und Steinbach 2020): „Die Entstehung einer Biographie in der Erzählung wird nicht als Produkt eines intentionalen Handlungsschemas (vgl. Alheit 2010, S. 238) angenommen, sondern Außeneinflüsse (Diskurse) als Aspekte aufgeschichteter Erfahrung verstanden, die das Subjekt durchdringen – ein je spezifisches Hintergrundwissen, das hochrelevant, aber nicht zwingend bewusst zugänglich ist“ (Gregor 2018, S. 95). Im Zentrum unserer Analyse stehen Rekonstruktionen von Normierungs- und Subjektivierungsprozessen im schulischen Kontext, die Jugendliche nach dem Schulabschluss der Sekundarstufe I erinnern. Vor dem Hintergrund der geschilderten Konzeptualisierung von Subjekt/Subjektivierung, Identität und Biographizität werden im Folgenden anhand zweier Interviewsequenzen exemplarische Forschungsbefunde zu folgenden Fragen erläutert:

  • Welche im Laufe einer Bildungsbiografie durch die Praktiken und Anrufungen professioneller Akteur/innen vermittelten Normalitätserwartungen lassen sich aus den biografischen Erzählungen der Jugendlichen rekonstruieren?

  • Inwiefern sind diese Anrufungen mit institutionellen Strukturen und pädagogischen Interaktionen verwoben?

  • Welche Strategien und Umgangsweisen mit den an sie gerichteten Anrufungen entwickeln die Jugendlichen in der Schule?

4 Exemplarische Analysen verbaler und nonverbaler Anrufungen im schulischen Kontext

4.1 Sequenz I: „Das begegnet einem immer noch“

Die 16-jährige Schulabsolventin, die wir hier Adira nennen, antwortet auf die Frage, ob ihr in der Schule Vorurteile oder Diskriminierung begegnet sind:

Ich meine, irgend-, eigentlich bin ich ja Deutsch, ich mein, ich kann nicht sagen, dass ich nicht Deutsch bin, ich meine, was unterscheidet mich, außer meiner Herkunft, ähm, von anderen Kindern, die ich hier-, die, ähm, Deutsche, ähm, Eltern haben, oder die halt, ähm, (.) Deutsch sind? Ich denk, das ist halt manchmal so, dass zum Beispiel, ähm, manche zu mir kommen und sagen „du kannst aber gut Deutsch sprechen, ähm, hast ja keinen türkischen Akzent, oder sowas“, von Lehrern, ich denke mir, warum sollte ich einen türkischen Akzent haben? Ich spreche genauso Deutsch, wie alle anderen Kinder, ich mein //I: mhm//, ich bin seit 16 Jahren hier, aber (..) ich denk, das begegnet einem immer noch und es gibt immer noch, ähm, Lehrer, die darauf achten und denken, „ok, die muss ich jetzt anders behandeln, oder ich muss die jetzt ein bisschen zur Seite schieben und die andern Kinder, die halt, ähm, nicht ausländisch sind, vielleicht erst mal ein bisschen bevorzugen, weil die was erreichen können“. Und es sind nicht alle so, aber ich denk, es begegnen einem immer noch. (Z. 982–997)

Gleich zu Beginn dieser Sequenz zeigt sich eine große Schwierigkeit für Adira, sich eindeutig zur Frage des ‚Deutsch-Seins‘ positionieren zu können. Nach einer anfänglichen Suchbewegung „ich mein, irgendw-, eigentlich“ offenbart sich diese Schwierigkeit darin, dass Adira sich selbst zwar als „Deutsch“ bezeichnen würde, diese Selbstpositionierung jedoch im Kontext der Adressierungen Anderer relativiert. Diese Ambivalenz kann von Adira nicht aufgelöst werden, was sie mit der Markierung des eigentlichen Problems verdeutlicht, indem sie fragt: „was unterscheidet mich […] von anderen Kindern?“. Dass diese Frage für Adira überhaupt relevant wird, unterstreicht die Diskrepanz zwischen Selbst- und Fremdpositionierung. Adira betont, dass sie sich nicht von anderen Schüler/innen unterscheidet, jedoch bezüglich bestimmter Fragen von Zugehörigkeit nicht die gleichen Erfahrungen macht, wie die „anderen Kindern, die ich hier-, die, ähm, Deutsche, ähm, Eltern haben“. Auch mit dem Aufrufen der elterlichen Herkunft als Unterscheidungskriterium verweist sie auf Adressierungspraktiken von außen. Für die 16-Jährige ist eine solche Unterscheidung, die sie am Beispiel einer akzentfreien Sprachbeherrschung verdeutlicht, nicht nachvollziehbar „Ich spreche genauso Deutsch, wie alle anderen Kinder [,,,] ich mein, ich bin seit 16 Jahren hier“. Damit wird Adira mit einer Fremdwahrnehmung konfrontiert, in der diskursive Wissensordnungen aufgerufen werden, die mit „körperlichen Merkmale[n] als Bedeutungsträger“ (Hall 2016 [1989], S. 172) operieren und zur „Klassifizierung“ (ebd.) von Menschen genutzt werden. Für die beteiligten Akteur/innen, also die Lehrer/innen und die Mitschüler/innen selbst, bleiben die damit letztlich ausgedrückten rassistischen Unterscheidungsweisen jedoch unsichtbar, während die ‚Sichtbarkeiten‘, die ‚Äußerlichkeiten‘ von Adira mit Bedeutung aufgeladen und markiert werden. Das vermeintliche Lob „du kannst aber gut Deutsch sprechen, ähm, hast ja keinen türkischen Akzent“, das Adira hier zitiert, misslingt und verfehlt das so adressierte Subjekt, obgleich es mit den besten Intentionen der Lehrkraft verbunden sein mag. Mit Butler (2014) geht es demnach „nicht darum, dass Lehrer_innen Rassismus […] vorleben, explizit lehren oder durch Botschaften kommunizieren, obwohl es all diese Situationen geben mag. Worauf es […] ankommt, ist, dass sich das Kind einem Normalisierungsprozess unterwerfen muss, um im Klassenzimmer, und im weiteren Sinn in der Schule, ein anerkennbares Subjekt zu sein“ (ebd., S. 185). In diesem Sinne kann die hier an Adira gerichtete Anrufung auch als unbewusster Akt der Diskriminierung und damit als „ein Verwehren von Anerkennung bzw. als eine Form der Missachtung verstanden werden“ (Bliemetsrieder et al. 2020, S. 426) – wenngleich Adira in ihrer Kritik dieses Beispiels eine kräftezehrende, emanzipative Abwehr der Anrufung ausdrückt.

Die Irritation der Lehrkraft hinsichtlich des nicht vorhandenen Akzentes aber ruft die Schülerin als ein Subjekt an, von dem/der das akzentfreie Sprechen nicht zu erwarten ist. Die Schülerin, die sich – im abgrenzenden Identifikationsprozess – fragt „warum sollte ich einen türkischen Akzent haben?“, wird in die Logik eingeführt, mit ihr vertraut gemacht, und hat zugleich kaum eine Möglichkeit sich diesen Ansprachen zu entziehen. Für die Lehrkraft, die die Anrufung formuliert, scheint die Schülerin vor allem dann als intelligibles Subjekt erkennbar, wenn dominante Unterscheidungs- und Wissensordnungen nicht irritiert werden. Adiras Äußerung „das gibt es immer noch“ verweist auf das iterative Moment, das solchen Situationen innewohnt, denn hier wird keine Erfahrung geschildert, die in ihrer Singularität bedeutsam ist, sondern in der beständigen Wiederholung wirksam wird. Adira unterstreicht damit die Routine solcher alltagsrassistischen Fragepraktiken als tradierte Anrufungen und Positionierungserfahrungen in pädagogischen Interaktionen.

In dieser Sequenz wird außerdem deutlich, dass sich die an die Schülerin gerichteten reduzierten Erwartungen, die unausgesprochen im Hinweis auf das akzentfreie Sprechen enthalten sind, nicht nur auf das Merkmal Sprache bezogen bleiben, sondern an umfassendere Positionierungen geknüpft sind, denn „die anderen Kinder“ werden von manchen Lehrer/innen bevorzugt, „weil die was erreichen können“. Hier werden Adiras Erfahrungen mit wiederkehrenden Einteilungen und Hierarchisierungen von Subjektpositionen in der Schule erkennbar, wobei das Differenzmerkmal Sprache in besonderer Weise als „ordnendes Prinzip“ (Heinemann und Dirim 2016) zum Einsatz kommt.

Adiras Schilderung der Anrufungen und ihrer Positionierungserfahrungen bestätigen die Befunde von Rose (2012) und Wuttig (2017), dass manche Kinder und Jugendliche in der Schule „als etwas angerufen werden, was sie in ihrem eigenen Empfinden nicht sind, oder dass sie als das, was sie sein könnten, nicht anerkannt werden“ (ebd., S. 362; vgl. auch Castro Varela 2016). Zugleich wird deutlich, und hierauf gehen wir im folgenden Abschnitt weiter ein, dass die rassialisierenden Einteilungen oftmals mit den unterrichtlichen Lehr‑/Lernsetting verknüpft sind, was eine offene Distanzierung bzw. kritische Befragung von dominanten Wissensordnungen und daran anschließender Unterscheidungspraktiken am Ort Schule noch weiter erschwert. Die Analyse der Erzählungen von Adira zeigt deutlich, dass sich die Lehrperson in der beschriebenen Situation „präreflexiv eines herrschenden Diskurses bedient [und] […] durch diesen gedacht und gehandelt“ (Wuttig 2017, S. 359) hat. Die in dieser Weise angerufenen Schüler/innen-Subjekte haben kaum eine Möglichkeit, sich öffentlich gegen diese machtvollen Anrufungen und Positionierungspraktiken zur Wehr zu setzen und damit die Infragestellung ihrer Identitätsentwürfe zurückzuweisen.

4.2 Sequenz II: „Dann gucken mich manchmal alle an“

In dieser zweiten Sequenz aus dem Interview mit Adira antwortet diese auf die Frage, ob es in der Schule eine Rolle spielt, aus welchem sozialen Umfeld man kommt:

Zum Beispiel, es geht manchmal, ähm, um die Türkei, wenn wir in Wirtschaft, oder keine Ahnung, über irgendwie (.), über irgendwas reden, dann gucken mich manchmal alle an, weil die wissen, mh, das ist doch die Türkin aus der Klasse, wir reden doch gerade über die Türkei, also müssen wir sie angucken, weil es um sie geht, aber es geht ja nicht um mich. Ich meine, wenn wir über Deutschland reden, dann gucke ich ja auch nicht jeden aus der Klasse an, der Deutsch ist. Aber ich denke schon, dass die Lehrer einen auch immer so (…), das tun die Lehrer, ob sie, ob sie es jetzt, ähm, unbewusst tun, oder bewusst tun, aber die gucken einen an, wenn es jetzt, zum Beispiel um so ein Thema geht, oder, zum Beispiel, wenn man jetzt irgendwie nicht nur über die Herkunft, sondern über die Religion, (…) über den Islam, oder irgendwie so was, wenn die Lehrer wissen, dass man muslimisch ist, dann gucken die einen, zum Beispiel, auch ganz an, wenn zum Beispiel darüber geredet wird, keine Ahnung, Terroranschlag, dies und das und dann werde ich auch immer halt so in die Richtung gedacht, so, ok, das sind halt (.) dann wird einem-, dann wird einem-, wird man auch so immer angeguckt, so, so, ich weiß nicht, es ist auch ein u‑, unwohles Gefühl. Keine Ahnung, wenn über was ganz anderes gesprochen wird, dann ist das gar nicht so, dann merkt man das auch gar nicht so, dann ist man halt so normaler Schüler, aber wenn dann diese betroffenen Themen halt, die halt in irgend einem Ansatz mit einem zu tun haben könnten, dann starren die Menschen und das ist echt ein bisschen komisch und man fühlt sich auch unwohl und dann traut man sich auch nicht sich zu melden. Da melde ich mich auch nicht, also wenn wir über solche Themen reden, sag ich auch nichts, weil ich Angst hab, dass ich verurteilt werde wegen irgendwas. (Z. 1026–1052)

Vor der weiteren Analyse dieser Sequenz sei angemerkt, dass es aus subjektivierungs- und machttheoretischer Perspektive nicht darum geht, bestimmte Subjekte als ‚Opfer und Täter/innen‘ zu markieren und/oder zu bewerten. Das Ziel besteht vielmehr in der Rekonstruktion der die Situation strukturierenden Anerkennungsordnungen und Alltagswissensbestände, die sich exemplarisch in den Schilderungen der Befragten zeigen. In diesem Fall beginnt die Sequenz mit dem Verweis auf eine konkrete Unterrichtssituation, die zu Beginn der Beschreibung jedoch nicht als ein besonderer Einzelfall dargestellt wird, sondern exemplarisch „zum Beispiel“ auf eine wiederholte Anrufungspraxis im pädagogischen Handeln verweist, welche Adira offenbar regelmäßig in verschiedenen Unterrichtskontexten „in Wirtschaft oder keine Ahnung“ begegnen.

Die Schilderung von Adira, dass sie bei bestimmten Themen (Türkei, Islam, Terrorismus) im Unterricht ungewollt auf eine bestimmte Art und Weise in den Fokus von Mitschüler/innen und Lehrkräften rückt bzw. gerückt wird, verweist auf die diskursive Vermitteltheit von unterrichtlichen Handlungsroutinen und auf ein übergeordnetes Unterscheidungswissen, das aufgerufen wird und sich oftmals über Blicke performativ und damit auf einer eher subtilen Ebene im Unterricht ‚ereignet‘. Dieses Ereignis ist für Adira nicht immer konkret zu beschreiben („ich weiß nicht, es ist auch u‑, unwohles Gefühl“). Die erlebte ‚Identifizierung‘ der Schülerin erfolgt entlang dieser mit race-Kategorien operierenden Annahmen, wenn es z. B. um „die Türkei geht“: Sie wird als Repräsentantin einer spezifischen (imaginären) Gruppe identifiziert, markiert und daran anschließend als zu dieser Gruppe zugehörig angerufen – hier nicht etwa über die verbale Ansprache in Form einer an sie gerichteten Frage oder Aussage, sondern über die Blicke im Klassenzimmer, die sie besonders dann treffen, wenn es um „diese Themen“ geht. Blicke, die sie auffordern, sich entsprechend einer natio-ethno-kulturellen Ordnung (vgl. Mecheril 2003) ‚eindeutig‘ zu positionieren. Mecheril und Plößer (2011) beschreiben die Effekte der hier aufgerufenen binären Ordnung als „Zwang zur Eindeutigkeit“ (ebd. S. 63). Über körperliche Merkmale erfolgt die Identifizierung vermeintlicher ‚Andersheit‘ und über die Blicke wird nicht nur eine Markierung und Verortung der Schülerin an einem bestimmten geografischen Ort (hier: der Türkei) vorgenommen. Ihre Zugehörigkeit zum ‚Deutschsein‘ und damit die Zugehörigkeit zu den Mitschüler/innen der Schulklasse wird ihr damit in diesem Moment implizit abgesprochen. Es findet also eine ‚Verlinkung‘ spezifischer Unterrichtsthemen mit körperlichen Merkmalen der Schülerin statt, auf die Adira zunächst keinen Einfluss hat, weil sie ihr ohne ihr direktes Zutun als Ausdruck pädagogischen Handelns widerfährt und sie in einer bestimmten Position fixiert: „Dieser Stoß, den die Adressierung des Anderen auf uns ausübt, konstituiert uns zuallererst gegen unseren Willen“ (Butler 2005, S. 155). Hierfür ist nicht zwangsläufig das gesprochene Wort oder die verbale Adressierung erforderlichen, man kann auch oder gerade durch die nonverbalen Handlungen, wie Blicke, angerufen und auf einen bestimmten Platz verwiesen werden.

In dem Moment, in dem die Anderen Adira anschauen und damit ihr Körper mit dem Unterrichtsthema „Türkei“ in Verbindung gebracht wird, erscheint sie als „die Türkin“ und als Repräsentantin eines geografischen Ortes, mit dem sie sich selbst in diesem Sinne eigentlich gar nicht identifiziert. Sie problematisiert diese von außen an sie herangetragene Positionierung und die damit verbundene Festlegung auf einen Subjektstatus. Butler (1996) markiert diesen Prozess als zeitweise Totalisierung: „Die Behauptung, ich sei etwas, impliziert eine vorläufige Totalisierung meines ‚Ichs‘“ (ebd., S. 18; Herv. im Orig.). Die Kategorie, die hier zum Einsatz gebracht wird und als Grundlage für Nicht-Zugehörigkeitserfahrungen einer Schülerin zur Anwendung gebracht wird, bezieht sich aber nicht nur auf eine nationalstaatliche Positionierung, sondern wird mit der Kategorie ‚Religion‘ verschränkt: „wenn man jetzt irgendwie nicht nur über die Herkunft, sondern über die Religion, (…) über den Islam, oder irgendwie so was, wenn die Lehrer wissen, dass man muslimisch ist, dann gucken die einen zum Beispiel auch ganz (.) an“. Über die Verlinkung dieser Kategorie mit dem Thema „Terroranschlag, dies und das“ erfolgt eine besondere Verschiebung bzw. Abwertung, die verdeutlicht, dass Alltagsdiskurse, die von Rassismus durchzogen sind, über, wie Adira sagt, „diese betroffenen Themen“ in die Schule gewissermaßen ‚hineinsickern‘ und dort im Kontext pädagogischen Handelns zum Ausdruck kommen und die Erfahrungen der Subjekte strukturieren.

In der Erzählung wird eine Ordnung aufgeführt und sichtbar, innerhalb derer nicht nur das erzählende Subjekt Adira einen spezifischen Platz zugewiesen bekommt, sondern zugleich wird in dieser Zuweisung implizit die fraglose Zugehörigkeit der Anderen (Mitschüler/innen und der Lehrer/in) zu einem imaginären, weißen, deutschen ‚Wir‘ deutlich. Damit wird eine migrationsgesellschaftliche Differenzordnung aufgerufen, in der verschiedene soziale Positionen vorgesehen sind und alle Schüler/innen der Klasse – auf unterschiedliche Weise – in dieses subtile Geschehen involviert bzw. sie platziert. Folgenreich ist dieses Involviertwerden allerdings vor allem für die ‚migrantisierte‘ Schülerin, die von den Blicken der Anderen und in der Bearbeitung eines Unterrichtsthemas in dieser Position festgeschrieben wird. Sie beschreibt aber auch, dass solche Erfahrungen ihren Schulalltag nicht durchgehend strukturieren, denn „wenn über was ganz anderes gesprochen wird, dann ist das gar nicht so, dann merkt man das auch gar nicht so, dann ist man halt so normaler Schüler“. Die Positionierungsaufforderungen, die Adira über die Blicke der Lehrer/in und Mitschüler/innen erfährt, ist also eng mit den jeweiligen Themen verbunden, die im Unterricht verhandelt werden.

Für den Umgang mit den sie verkennenden Anrufungen entwickelt sie für sich die Strategie des Rückzugs aus dem Unterrichtsgespräch, um den in den machtvollen Blicken der anderen enthaltenen Positionierungsaufforderungen zu entgehen: „Wenn wir über solche Themen reden, sag ich auch nichts, weil ich Angst hab, dass ich verurteilt werde wegen irgendwas“. Sie betont zwar „es geht ja gar nicht um mich“ und markiert damit deutlich die Diskrepanz zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung, zugleich scheint die Zurückweisung der Anrufung und damit die Strategie, die Verfehlung ihrer Identität offen in Unterrichtssituationen zu thematisieren, keine Handlungsoption zu sein, obwohl sie den Wunsch artikuliert, als „normaler Schüler“ wahrgenommen und angesprochen zu werden. Die Schule bzw. der Unterricht ist somit zwar ein Ort, an dem sie Erfahrungen mit rassistischen Einteilungslogiken macht, aber kein Ort, an dem diese Erfahrungen als solche artikuliert werden können.

5 Schluss

Die auf die Konstitutionsbedingungen des Subjektes bezogene Formulierung Butlers „man bleibt nicht unangetastet“ (Butler 2005, S. 40) wird in allen Interviews des o. g. Forschungsprojekts in unterschiedlicher Weise von den befragten Jugendlichen thematisiert. Dabei wird deutlich, dass nicht alle Schüler/innen-Subjekte gleichermaßen „angetastet“ (ebd.) werden, wie diejenigen, die nicht den Normalitätserwartungen der Schule entsprechen. Dies ist nicht nur im Hinblick auf migrationsgesellschaftliche Differenzmarkierungen, sondern in ganz grundlegender Weise problematisch, denn „jede pädagogische Thematisierung von Differenz als Unterschied und nicht als Ergebnis von Unterscheidungsprozessen identifiziert und reduziert Verschiedenheiten und verfehlt immer diejenigen, um die es doch angeblich geht – die Teilnehmenden von Bildungsprozessen“ (Messerschmidt 2017, S. 47). Es liegen zahlreiche empirische Arbeiten vor, die zeigen, dass die innerhalb von Bildungsinstitutionen pädagogisch Handelnden als anrufende Akteur/innen zu einer „systematischen Produktion von Differenzen“ (Fritzsche 2015, S. 165; Rose 2014; vgl. auch die Beiträge in Bräu und Schlickum 2015) beitragen und Kindern und Jugendlichen auf diese Weise in der Schule bestimmte Deutungsangebote und Selbstverständnisse nahegelegt werden, ohne dass dieses ‚Nahelegen‘ den Handelnden immer bewusst wäre. Dies wird in unserer Studie auch im Hinblick auf die in allen biografischen Interviews thematisierten segregierenden Schullaufbahnempfehlungs- und Beratungsprozesse deutlich (vgl. dazu auch Gerheim und Spies 2017).

Die pädagogisch Handelnden in Bildungsinstitutionen agieren dabei in einem vorstrukturierten Feld, d. h. innerhalb von historisch entstandenen Strukturen, Wissensordnungen und ‚legitimierten‘ Handlungsroutinen (vgl. Steinbach et al. 2020). Bildungsinstitutionen sind als Produkte gesellschaftlicher Verhältnisse und konditionaler Normen zu verstehen, die zugleich auf diese Verhältnisse zurückwirken (vgl. Fuchs 2018). Lehrer/innen und andere pädagogische Fachkräfte in Schulen nehmen somit nicht nur auf eine angenommene ‚Realität‘ der pluralen Migrationsgesellschaft Bezug, sondern sind ganz entscheidend an der Hervorbringung dieser Realität beteiligt. Das ‚beiläufige‘ Lernen und die oftmals unbeabsichtigte Bedeutungsproduktion und Subjektpositionierung durch verbale und nonverbale (pädagogische) Praktiken beeinflusst nicht nur die Selbstwahrnehmung von Kindern und Jugendlichen, sondern auch ihre Bildungsbiografien. Wenn wir die Erfahrungen von Schüler/innen als Bezugspunkte nehmen, um neue (anrufungssensible) Maßstäbe pädagogischen Handelns zu formulieren, muss – normativ gewendet – der Blick auf Formen und Praxen pädagogischen Handelns gerichtet werden, die im Rahmen der formalen Wissensvermittlung im Unterricht Zuschreibungen und Festschreibung vornehmen. Um diese zu reflektieren und in den analytisch-professionellen Blick zu bekommen, können Perspektiven von Schüler/innen einen wichtigen Anknüpfungspunkt darstellen. Fraglos wird es unbequem werden, sich mit dem Gewöhnlichen, den Selbstverständlichkeiten, den etablierten Abläufen und Praktiken und den darin enthaltenen verbalen und nonverbalen Anrufungen und Diskriminierungen organisationalen und interaktiven pädagogischen Handelns stärker zu befassen. Aber: „Wer Gewaltfreiheit sucht, muss Gewalt dort erkennen, wo die Allgemeinheit Normalität sieht“ (Castro Varela 2013, S. 67).