Es gibt neuerdings verstärkt Bemühungen, über Tagungen und Publikationen das Berufsbild von Personen, die in der Lehrer/innen-Bildung tätig sind, zu akzentuieren (vgl. Swennen und Snoek 2012; Murray und Kosnik 2011; Schratz 2015; Murray 2015); trotz der weitgehend unbestrittenen Sichtweise, dass der Prozess der Professionalisierung im Lehrberuf weder durch die Erstausbildung noch durch die Phase der beruflichen Sozialisation im Rahmen einer Induktionsphase abgeschlossen ist, sondern über eine kontinuierliche Fort- und Weiterbildung am Laufen gehalten werden muss (vgl. Messner und Reusser 2000), bleibt der wichtige Tätigkeitsbereich in der Fort- und Weiterbildung aber in den Aufgabenkatalogen zum Berufsbild des „Lehrerbildners“ bzw. der „Lehrerbildnerin“ inkonsequenter Weise unerwähnt (vgl. etwa Schratz 2015, S. 41 oder Swennen und Snoek 2012). Diese (unbewusste?) Ausblendung im Berufsprofil hat auch eine gewisse Entsprechung, wenn man nach systematisch begründeten und elaborierten didaktischen Modellen oder Konzepten sucht, auf die bei der Planung von Fort- und Weiterbildungsmaßnahmen zu pädagogischen und didaktischen Themen (die weiteren Ausführungen dieses Beitrags stehen unter dieser eingeschränkten Perspektive) zurückgegriffen werden kann, um die Entwicklung von Könnerschaft zu fördern; die Diskussion darüber ist – verglichen mit der Vielzahl unterrichtsdidaktischer Modelle in einer zeitlich langen Tradition (vgl. im Überblick Peterssen 2000) – (noch) deutlich verhaltener und publikationsmäßig „verstreuter“. Gut identifizierbar sind unterschiedliche Grundstrukturen im Sinne von Paradigmen, auf deren Basis Fort- und Weiterbildungsprozesse konzipiert werden können; zwei solche Paradigmen werden nachfolgend dargestellt.

1 Zwei paradigmatische Grundstrukturen für die Fort- und Weiterbildung von Lehrpersonen

Analysiert man einschlägige aktuelle Publikationen zur Thematik der Fort- und Weiterbildung unter der Perspektive, was sie zur Frage nach diesbezüglichen didaktischen Konzepten oder Konzeptelementen zur Entwicklung von Könnerschaft anbieten, kann man zumindest zwei Grundstrukturen prototypisch voneinander abgrenzen: Es lässt sich ein Ansatz beschreiben, der darauf beruht, dass der Person des Lehrerbildners bzw. der Lehrerbildnerin in Fortbildungssituationen eine Art Modellcharakter im Sinne des Paradigmas der Meisterlehre zugeschrieben wird (vgl. Abschn. 1.1); in einem zweiten Ansatz wird darauf Wert gelegt, dass die Lehrpersonen als Subjekte ihrer Entwicklung betrachtet werden und durch (aktions-)forscherische Tätigkeiten an Professionalität gewinnen sollen (vgl. Abschn. 1.2).

1.1 Das Paradigma der Meisterlehre – Lehrpersonen in einer Art Schülerrolle

Konsultiert man die aktuelle Auflage des Handbuchs der Forschung zum Lehrerberuf (Terhart et al. 2014) unter der Perspektive einer Fortbildungsdidaktik, stößt man im Beitrag von Lipowsky (2014) auf ein Bedingungsmodell auf der Basis des Angebots- und Nutzungsmodells nach Helmke (2009, S. 73), das sich zwar gut zur Systematisierung bisheriger Forschungsbefunde eignet, aber – weil als Bedingungsmodell konzipiert – für Fragen der konkreten Gestaltung von Fortbildungsmaßnahmen auf abstrakter Ebene verbleibt. Bemerkenswert ist dabei die Tatsache, dass ein ursprünglich für die Unterrichtsebene konzipiertes Modell („first order practice“; vgl. Murray 2015, S. 35) als Basis für ein Fortbildungsmodell („second order field“) verwendet wird; das bedeutet, dass hier Fortbildungsprozesse analog zu Unterrichtsprozessen gedacht werden („Lehrerbildner/in – Lehrpersonen“ analog zu „Lehrperson – Schüler/in“); man assoziiert bei der Lektüre die Schlagzeilen öffentlicher Printmedien, die, wenn sie denn über das Thema Lehrer/innen-Fortbildung berichten, Aufmacher wie „Lehrer zurück auf die Schulbank“ verwenden, obwohl der damit angedeutete Rollenwechsel nicht zwangsläufig eintreten muss und sich dieser Zugang – in einer bestimmten Weise realisiert – als sehr entwicklungsförderlich erweisen kann. Konsequenter Weise stellt Lipowsky zu Beginn seines Beitrags den so genannten „cognitive apprenticeship“-Ansatz (Collins et al. 1989) als aus theoretischer Sicht besonders relevant für das Erreichen von Verhaltensveränderungen bei Lehrpersonen in Fortbildungsprozessen vor, geht es bei diesem Ansatz doch darum, „dass der Fortbildner bzw. der Trainer das intendierte unterrichtliche Verhalten modelliert und die an der Fortbildung teilnehmenden Lehrkräfte das intendierte Verhalten schrittweise selbstständig ausführen“ (2014, S. 512); Lipowsky verweist im Abschnitt zur Frage der Effektivität selbstgesteuerten (Fortbildungs‑)Lernens außerdem auf vergleichsweise schlechtere Effekte, „dann nämlich, wenn sie (d. h. die Lehrpersonen; Anmerkung des Autors) ihr unterrichtliches Handeln nicht reflektieren, wenn sie auf eher irrelevante Merkmale ihres eigenen Handelns fokussieren, wenn es an inhaltlich substantiellen Impulsen zum Weiterlernen mangelt und wenn die Lehrergruppen ihr Hauptaugenmerk auf kurzfristig anwendbare und einsetzbare Rezepte, Techniken und Unterrichtsmaterialien richten (…)“ (2014, S. 519) und nicht auf die wichtige Frage bedacht sind, in welcher Qualität ihre Schüler/innen aufgabenbezogen agieren und wie sie als Lehrpersonen instruktionsbezogen reagieren (diagnostische Kompetenz der Lehrperson; S. 521). So gesehen passen in diesem Beitrag Modell und eingangs präferierter Theorieansatz zusammen.

Modell und Theorieansatz werden von Lipowsky im Hinblick auf ihre Tragfähigkeit in weiterer Folge aber durch den Hinweis relativiert, dass eine der Kernfragen bezüglich fortbildungsdidaktischer Konzeptentscheidungen erst theoretisch wie empirisch vollständig geklärt werden muss: nämlich die Frage, welches Wissen Lehrpersonen wie lernen sollen, damit sich ihr unterrichtliches Verhalten im Sinne einer Entwicklung ihres beruflichen Könnens an der einen oder anderen Stelle verändert. Lipowsky zufolge geht es dabei aufgrund der Komplexität der beruflichen Anforderungen um eine Art adaptive Expertise und eine solche „speist sich aus impliziten Könnensanteilen und expliziten Wissenskomponenten, über deren wechselseitige Beeinflussung und Genese noch wenig bekannt ist.“ (2014, S. 512).

So kann als Resümee aus dem Meisterlehre-Paradigma der Hinweis gewonnen werden, bei der didaktischen Strukturierung von Fortbildungsprozessen sei konstruktivistischem Lernen orientiert an einem Experten bzw. einer Expertin (vgl. die genannte „cognitive apprenticeship“-Basis) gegenüber selbstgesteuertem Lernen der Vorzug zu geben; die in diesem Beitrag interessierende Frage nach der Entwicklung von Könnerschaft wird von Lipowsky als Forschungsdesiderat bezeichnet.

1.2 Das Paradigma der Selbstentwicklung durch Aktionsforschung – Lehrpersonen in einer Art Forscherrolle

Ein etwas anderer Zugang zur konzeptuellen Modellierung von Entwicklungsprozessen in der Fort- und Weiterbildung wird im Paradigma der Aktionsforschung gewählt (Altrichter et al. 2014): Ausgehend von der Theorie des „situierten Lernens“, der zufolge „Wissen über die soziale Welt und Kompetenzen im Umgang mit ihr … situiert (sind) in dem Sinn, dass sie nicht im luftleeren Raum entwickelt werden können, sondern eine Praxis zu ihrer Ausformung und Aufrechterhaltung benötigen“ (S. 290), wird postuliert, dass im Lehrberuf nicht die Anwendung akademisch gelernten Wissens im Vordergrund steht, sondern die im praktischen Vollzug gleichsam prozessbegleitende Entwicklung, Umsetzung und Prüfung berufsrelevanten Wissens (S. 289), und zwar durch die Internalisierung eines forscherischen Habitus. Lehrpersonen mit einem solchen Habitus würden nicht nur implizit auf den Regelkreis „Planung – Durchführung – Evaluation“ fokussieren, sondern ihn auch zum Gegenstand expliziter Auseinandersetzung machen, und zwar am besten im kollegialen Austausch, etwa im Rahmen so genannter „communities of practice“, in denen auch neue Ideen, die etwa in Fortbildungssettings im Paradigma der Meisterlehre gewonnen und dann erprobt wurden, erfahrungsorientiert auf ihre Praktikabilität hin diskutiert werden können (S. 290).

Welche Antwort wird in diesem Paradigma auf die wichtige Frage des Verhältnisses von berufsrelevantem Wissen und dessen Beziehung zu berufspraktischem Können gegeben? Lehrpersonen mit dem zitierten forscherischen Habitus der „reflektierenden PraktikerInnen“ würden, so wird argumentiert, auf diese Weise ihren „persönlichen Erfahrungsschatz“ als „Reservoir für ‚erste Definitionen‘ in neuen Anforderungssituationen nutzen“ können (S. 289) und damit – im Vergleich zu berufspraktischen Novizen – „weniger (unwesentliche) Details“ in Unterrichtssituationen wahrnehmen, „sondern … über komplexere Wahrnehmungs- und Analysekategorien (verfügen), mit denen sie rascher kritische Punkte von Unterrichtssituationen identifizieren können“ (S. 289). Abschließend wird allerdings konzediert, dass eine solche Expertise aus „reflektierter praktischer Erfahrung … bereichsspezifisch“ sei und „nicht bruchlos auf neue Felder übertragen werden“ könne (S. 289). Der „Expert/inn/enblick“ auf bestimmte Phänomenkonstellationen bleibt also diesem Paradigma zufolge immer Gegenstand einer Entwicklung.

Bisherige empirische Forschungsbefunde konvergieren Altrichter et al. zufolge in (häufig aus Selbstberichten destillierten) Belegen, dass Lehrpersonen – wenn man sie denn im Hinblick auf ihre forscherischen Rollenanteile nicht durch Outsourcing an externe Expertinnen und Experten entmündigt (vgl. die dazu gegenteilige Idee der top-down verordneten „teacher-proof-curricula“; S. 303) – im Hinblick auf ihre Selbstwirksamkeitsüberzeugungen gewinnen, dass sie sich – konkreter formuliert – in ihrem Autonomie- und Kompetenzerleben gestärkt fühlen, sie wieder mehr Freude an ihrem Beruf verspüren und sie ihre Kooperationsbereitschaft als gefördert erachten (S. 292).

Es gibt in diesem Paradigma genauso wie im erstgenannten kein konkretes Konzept einer Fort- und Weiterbildungsdidaktik; zur Orientierung für die Modellierung eines Entwicklungsprozesses hin zum Habitus eines „forschenden Lehrens“ wird eine Art Stufenmodell vorgeschlagen, das nach dem Kriterium der Integration von neuen Elementen konzipiert ist (Altrichter et al. 2014, S. 293 f): Lehrpersonen werden auf einer ersten Stufe im Modus der eher oberflächlichen Anwendung von neuen (didaktischen oder methodischen) Elementen beschrieben; auf dem nächsten – eher akkomodativ konzipierten – Level integrieren sie das Neue in ihre bisherige Kompetenzstruktur, damit es in einer adaptierten Form flexibel einsetzbar wird; schließlich stehen auf Level 3 („Teaching as inquiry“) diese integrierten Elemente als „Mittel und Werkzeuge für forschendes Lernen“ zur Verfügung (S. 293).

Als Resümee kann – auch im Blick auf die Zusammenfassung zum erstgenannten Paradigma – Folgendes festgehalten werden: In der Aktionsforschung fokussiert man stark auf den Erfahrungsgewinn durch reflektiertes praktisches Tun und erwartet sich positive Effekte aus einem „Hineinwachsen“ in einen bzw. aus einer Vervollkommnung eines forschenden Habitus, dem eine hohe Entwicklungsstimulation zugeschrieben wird. Der wichtige Schritt vom Wissen zum Können wird als entscheidend thematisiert und inhaltlich argumentiert; eine dezidierte empirische Prüfung, in welchem Ausmaß mit der „reflection in action“ (vgl. Schön 1983, S. 68 f; im Unterschied zur oder in Kombination mit der „reflection on action“) das entscheidende „missing link“ zwischen Wissen und Können gefunden worden ist, steht aus. Die im ersten Paradigma (vgl. Abschn. 1.1) einem externen Experten bzw. einer externen Expertin zugeschriebene, als innovatives Element fungierende Modellwirkung wird im zweiten Paradigma im Fall der „reflection on action“ „kollegialisiert“: Jeder und jede kann für andere zum qualitätsvollen professionellen Modell werden (oder auch nicht; vgl. den Handlungstyp III: Reflexion-über-die-Handlung in Altrichter und Posch 1998, S. 327 f).

Im Hinblick auf den weiteren Argumentationsgang als Grundlage zu einer darauf aufbauenden Fort- und Weiterbildungsdidaktik soll deshalb insbesondere der Frage des Übergangs vom Wissen zum Können und der Entwicklung von Könnerschaft theoriebezogene Aufmerksamkeit geschenkt werden; aus den beiden referierten Ansätzen kann zwar deren Bedeutsamkeit erschlossen, aber wenig Konkretes zu deren Beantwortung gewonnen werden. Möglicherweise kann etwas Licht in das Dunkel dieses Zusammenhangs zwischen Wissen und Können auch eine begründete Präferenz für das eine oder gegen das andere Paradigma formulieren lassen, nach welcher Grundstruktur Fort- und Weiterbildung aufgesetzt werden soll; beide Paradigmen sind in den herangezogenen Quellen ja eher über Oberflächenmerkmale charakterisiert – eine Präferenz zum jetzigen Zeitpunkt wäre wohl noch so etwas wie eine Geschmacksfrage.

2 Könnerschaft und Könnerschaftswachstum aus zwei Perspektiven betrachtet

Die Frage des Verhältnisses von Theorie und Praxis im Kontext der Lehrer/innenbildung ist eine alte, aber noch immer aktuelle Frage; die Tatsache, dass sie erziehungswissenschaftlich Tätige in ihren Forschungsprojekten und Publikationen ebenso wie in der curricularen Gestaltung der universitären Lehrer/innenbildung anhaltend intensiv beschäftigt, zeigt, dass man „der Weisheit letzten Schluss“ in dieser Frage wohl noch nicht gefunden hat. So bekennt Neuweg, sich selbst in einem Vortrag mit der Entscheidung in puncto Ein- oder Zweiphasigkeit von Ausbildungsgängen konfrontierend: „Ich will darauf eine klare und offene Antwort geben: Ich habe keine Ahnung“ (Neuweg 2015, S. 42)Footnote 1. Er bekennt diese Aporie am Ende eines Beitrags, in dem er die „kategoriale Verschiedenheit“ (S. 37) der Konzepte „Wissen“ und „Können“ herausarbeitet und Wissen bestenfalls als notwendige, keinesfalls aber als hinreichende Voraussetzung für Könnerschaft argumentiert. Seine Schweigemetapher („Das Schweigen der Könner“) hat ja ihre Begründung in der Polanyischen These, dass das Wissen hinter dem Können zurückbleibt: „Wir wissen mehr, als wir zu sagen wissen, jedenfalls dort, wo wir wirklich etwas können“ (Neuweg 2015, S. 37). Konsequenter Weise steht er bezogen auf die Grundausbildung eher für eine klare Abgrenzung der Aneignungsphasen theoretischen Wissens von Phasen praktischen Unterrichtshandelns zum Zweck der Erfahrungsakkumulation und deren Zueinander im Modus der Konsekution: „Der ersten Phase kommen die Aufgaben der Vermittlung von Wissen und der Schulung von Denkkompetenzen zu; die zweite Phase und das Lernen im Beruf besorgen das teils didaktisierte Bereitstellen von Gelegenheiten zum Erfahrungmachen im Tun und zur Ausformung eines Erfahrungswissens, in das wesentlich auch kunsthandwerkliche Weisheit und implizites Wissen eingeschrieben sind; Lehrerfortbildung schließlich hat die unabschließbare Aufgabe der Unterstützung des fortlaufenden Wachstums an den beruflichen Aufgaben – auf der Grundlage einer in den ersten beiden Phasen grundzulegenden Wachstumskompetenz (…).“ (Neuweg, 2010, S. 41).

Neuweg hat mit seinen Ausführungen zum Verhältnis von Wissen und Können eine der zentralen Fragen für die Entwicklung eines aus-, fort- und weiterbildungsdidaktischen Konzepts aufgegriffen; seine die Diskussion dazu belebende Argumentation (vgl. etwa Neuweg 1999, 2010, 2014 und 2015) kann unter Rekurs auf die Theorie der Persönlichkeits-System-Interaktionen nach Kuhl (2001, 2010; nachfolgend PSI-Theorie genannt) ausdifferenziert werden. Vorausgeschickt sei an dieser Stelle, dass es sich bei der PSI-Theorie nach Kuhl um eine metatheoretische Struktur handelt, in die psychologische Theorien unterschiedlicher Provenienz integriert werden, um das Verhalten und Erleben des Menschen aus funktionsanalytischer Perspektive erklären zu können: PSI-theoretisch betrachtet stehen Menschen vier kognitive Makrosysteme zur Verfügung; in den Argumentationen Neuwegs lassen sich drei dieser Makrosysteme rekonstruieren, was den Diskurs über Könnerschaftsentwicklung an einer interessanten Stelle zu erweitern gestattet. In weiterer Folge soll begründet werden, warum PSI-theoretisch ein vergleichsweise höherer Auflösungsgrad zum Prozess der Könnerschaftsentwicklung möglich ist; die angesprochenen vier kognitiven Makrosysteme werden jeweils an passenden Textstellen in gebotener Kürze charakterisiert.

2.1 Zur Erklärung von Könnerschaft: Differenzierung zwischen Intuieren und ganzheitlichem Fühlen

Es ist Neuweg beizupflichten, dass für Könnerschaft akademisches Seminarraumwissen nicht ausreicht, sondern für entsprechendes Handeln auch andere Ressourcen genutzt werden müssen; Neuweg verwendet zur Beschreibung des Phänomens, mehr zu wissen als man zu sagen vermag, in Anlehnung an Polanyi den Begriff des „impliziten Wissens“ bzw. den des „impliziten Denkens“ (vgl. Neuweg 1999, S. 138) und benennt entsprechende Prozesse Volpert folgend als solche des Intuierens und Improvisierens (2015, S. 25): Er bezeichnet Könnerschaft als intuitives Agieren (2015, S. 26) und verweist dafür auf mehrere „familienähnliche Konzepte“; neben der Bezeichnung „intuitiv-improvisierend“ nennt er „intuitives“, „künstlerisches“, „subjektivierendes“ oder „situiertes“ Handeln (Neuweg 2015, S. 101): „Derartige Konzepte modellieren Formen der Handlungsregulation mit intuitivem Charakter und im Vergleich zu bloßen Automatismen gleichzeitig hoher Flexibilität, bei denen der Akteur durchaus nicht bewusstlos handelt, die Konzentration aber auf die Situation oder Aufgabe, nicht auf die eigenen Kognitionen richtet. Gesteuert wird ein solches Handeln weniger durch Pläne als vielmehr durch die sensible Einlassung auf die situativen und ständig wechselnden Umstände. Unter bestimmten Bedingungen … kann sich dieser Handlungsmodus auch mit einer spezifischen, als Flow-Zustand (…) bezeichneten Erlebnisqualität verbinden.“ (Neuweg 2015, S. 101).

Betrachtet man das in Anlehnung an Polanyi so beschriebene Phänomen der Könnerschaft unter der Perspektive der PSI-Theorie, eröffnen sich interessante Konvergenzen und eine insbesondere für das Verstehen des Prozesses der Könnerschaftsentwicklung (vgl. näher in Abschn. 2.2) bedeutsame Differenzierung:

Der Makrotheorie Kuhls zufolge können im Bereich der rechtshemisphärischen Aktivitäten, auf die Neuweg in Anlehnung an Polanyi („implizites Wissen“ bzw. „implizites Denken“) anspielt, zwei kognitive Systeme voneinander abgegrenzt werden, die rechtshemisphärische Aktivitäten unterstützen, und zwar die „intuitive Verhaltenssteuerung“ (nachfolgend IVS genannt) und das „Extensions‑/Erfahrungsgedächtnis“ (nachfolgend EG genannt; vgl. Kuhl 2001, S. 626 ff). Aus einer detaillierteren Beschreibung dieser beiden impliziten Verarbeitungssysteme wird deutlich, dass Neuweg in Anlehnung an Polanyi für sein Könnerschafts-Konstrukt PSI-theoretisch betrachtet das EG adressiert:

Die IVS als niedriginferentes kognitives System (vgl. Abb. 1) beruht „auf elementaren Strukturen, die die Verarbeitung von Sinnesreizen und die Ausführung einfacher motorischer Reaktionen ermöglichen“ (2001, S. 102) – und zwar im Modus der Assoziation: Lehrpersonen, die im intuitiven Modus professionell handeln, haben PSI-theoretisch als Handlungsrepertoire Automatismen, Gewohnheiten und elementare Verhaltensprogramme zur Verfügung. Es sei an dieser Stelle betont, dass auch dem durch das IVS unterstützten Prozess des Intuierens (hier im PSI-begrifflichen Sinne gemeint) für das tagtägliche qualitätsvolle professionelle Handeln von Lehrpersonen eine zentrale Bedeutung zukommt, und zwar z. B. in Situationen sozialer Kontaktaufnahme mit Lernenden genauso wie in der spontanen, kontextsensiblen Verhaltensanpassung (vgl. Kuhl et al. 2014, Abb. 4.2 auf S. 86).

Abb. 1
figure 1

Die zwei antagonistischen Makrosystem-Paare der PSI-Theorie samt jeweiligem Verarbeitungsmodus (vgl. Kuhl 2001)

Ein „hochflexibles“ und kontextsensibles Können, von dem Neuweg an vielen Stellen spricht (vgl. Neuweg 1999, S. 139), ist PSI-theoretisch durch eine Anbindung an das EG explizierbar (vgl. auch Abb. 1), das als hochinferentes kognitives System das biographische Gedächtnis, das Erfahrungsgedächtnis und das Selbstsystem (als „Speicher“ für individuelle Bedürfnisse, Ideale, Werte) umfasst und das den Prozess des Fühlens unterstützt (Kuhl 2001, S. 624 ff); Lehrpersonen brauchen, um im Klassenzimmer schüler/innen-bezogen genauso wie im Einklang mit den eigenen Idealen und Bedürfnissen zu handeln, also insbesondere die keineswegs selbstverständliche (vgl. Abschn. 2.2) Fähigkeit, an ihr Extensionsgedächtnis andocken zu können, weil eine solche Aktivität „ganzheitliches Fühlen“ ermöglicht; mit dem Verb „fühlen“ sind nicht „Gefühle oder Emotionen gemeint, sondern eine besondere Form der Verarbeitung, die zwar eng mit Gefühlen vernetzt ist, bei der aber kognitive Leistungen im Vordergrund stehen“ (Kuhl 2001, S. 625; Hervorhebungen i. O.); präziser formuliert ist damit gemeint, dass Lehrpersonen integrativ handeln können: Integration ist – bezogen auf das Beispiel Lehrer/innenverhalten im Unterricht – im Sinne einer kreativen „Verwebung“ zwischen den beruflichen Idealen und Plänen der Lehrperson und den situativ sich zeigenden Bedürfnissen der Lernenden zu verstehen – und das alles in einer ganz bestimmten Konstellation von Rahmenbedingungen, also kontextsensibel. Eine solche Integrationsleistung kann an folgendem Beispiel illustriert werden, das eine Lehrperson auf die Frage nach einer herausfordernden Unterrichtssituation, die sie an ihre Grenzen gebracht hat, beschrieben hat:

„Letztes Schuljahr unterrichtete ich einen 1. Aufbaulehrgang. Von Beginn an war die Klasse sehr aufgeweckt und eher respektlos mir gegenüber. Ein paar Schüler waren nicht viel jünger als ich, und ich hatte von Anfang an das Gefühl, dass sie mich austesten wollten, wie weit sie gehen könnten. Deswegen war ich auch sehr ‚empfindlich‘ und wollte mich nicht ausnutzen und austesten lassen. Manches sah ich vielleicht somit auch zu streng und es entstand, wie sich im Nachhinein herausstellte, ein Missverständnis. Ich hatte das Gefühl, die SchülerInnen nahmen mich nicht ernst und zeigten auch keinerlei Wertschätzung (die doch eigentlich auf Gegenseitigkeit beruhen sollte) mir gegenüber. Einheiten vergingen, und mir wurde immer mehr klar: So wollte ich das Schuljahr mit der Klasse nicht verbringen. Ich sprach sie auf diese Problematik an. Ich stellte ihnen meine Wahrnehmungen dar, sie versuchten mir ihre zu erklären. Wir trafen Vereinbarungen, wie der Unterricht ablaufen sollte. Der Unterricht war danach viel besser.“

Die Wissenskomponente – also das Gesamt des „akademischen Seminarraumwissens“ – ist PSI-theoretisch mit dem so genannten Absichts- oder Intentionsgedächtnis (nachfolgend IG genannt) in Verbindung zu bringen, das als System für Unerledigtes und als Speicher für Pläne angesehen werden kann; es ist aufgrund seines logisch-sequenziellen Verarbeitungsmodus kapazitätsmäßig begrenzt und kann deshalb schnell „überhitzen“ (vgl. etwa die Situation, wenn sich Lehramtsstudierende vornehmen, was alles von diesem Seminarraumwissen sie im Unterricht simultan beachten möchten, was so nicht funktionieren kann).

Zusammengefasst formuliert bezieht sich Neuweg in seinen Überlegungen zur Könnerschaft PSI-theoretisch betrachtet (vgl. Abb. 1) einerseits auf das IG, in dem das akademisch gelehrte Wissen gespeichert ist; er adressiert ferner das EG als Steuerungssystem für Könnerschaft und erwähnt am Rande Phänomene wie Verhaltensroutinen und Automatismen, die mit dem Makrosystem des IVS in Zusammenhang gebracht werden können. Seine Betonung der kategorialen Verschiedenheit von Wissen und Können kann PSI-theoretisch einerseits auf die unterschiedliche Verarbeitungsqualität der kognitiven Makrosysteme (IG: logisch-sequenziell; IVS und EG: ganzheitlich-parallel) sowie andererseits auf das für bestimmte Menschen nicht einfache Unterfangen bezogen werden, von einem logisch-sequenziellen Modus in einen ganzheitlich-parallelen Modus zu wechseln: z. B. vom IG-gestützten Denken zum IVS-gestützten Assoziieren von Handlungsroutinen (vgl. die Modulationsannahme 1 bei Kuhl 2001, S. 163 ff; Kuhl 2004). Neuweg fokussiert in seinem Ansatz also auf den Antagonismus zwischen einerseits dem IG als Wissens- bzw. Reflexionssystem und andererseits dem EG als für das Generieren von Könnerschaft verantwortlichen kognitiven System. Vor diesem argumentativen Hintergrund eines Plädoyers für „die grundsätzliche kategoriale Verschiedenheit und Eigenlogik von Wissen einerseits und Können andererseits“ (Neuweg 2010, S. 37) bevorzugt er lehrer/innenbildungsdidaktisch so genannte Differenzkonzepte gegenüber Integrationskonzepten, die „Professionalität als Kongruenz von Wissen und Können“ auffassen (Neuweg 2010, S. 37).

Welche Positionen ergeben sich unter der Perspektive eines dimensionierenden Vergleichs im Hinblick auf die Artikulierbarkeit impliziten Wissens? Neuweg hebt – das bringt er mit der bereits erwähnten Schweigemetapher („Das Schweigen der Könner“; 2015) ja auf den Punkt – die Unartikulierbarkeit des impliziten Wissens hervor: „Polanyis bewußtseinsphänomenologische Überlegungen führen dann allerdings zu der zentralen These, ‚daß wir mehr wissen, als wir zu sagen wissen‘ (…). Implizites Wissen – und das ist die zweite Bedeutung dieser Wendung – ist dann Wissen, das wir nicht aussprechen können, in unserem Verhalten aber zeigen. ‚Implizit‘ ist hier näherungsweise als das Gegenteil von ‚artikulierbar‘ aufzufassen.“ (Neuweg 1999, S. 138) Bei näherer Betrachtung zeigt sich, dass die Unartikulierbarkeit nicht so eindeutig, wie das die Schweigemetapher nahelegt, gesehen wird: Die Formulierung im vorherigen Zitat lautet ja: „näherungsweise als das Gegenteil von ‚artikulierbar‘ …“ (Hervorhebung durch den Verfasser); an anderer Stelle heißt es dazu: „Als implizites Wissen (tacit knowledge) ist analog ein Wissen zu definieren, das in der praktischen Kompetenz einer Person (Wahrnehmungs‑, Urteils- und Erwartungsdispositionen, Dispositionen zum gegenständlichen und zum Denkhandeln) zum Ausdruck kommt, das aber nicht oder nicht angemessen verbalisiert werden kann.“ (Neuweg 2015, S. 153 f.; Polanyi attestiert er einen „starken Begriff impliziten Wissens“; S. 161). In der PSI-Theorie findet sich zu dieser für die Gestaltung von Lehrer/innenbildungsprozessen nicht unerheblichen Frage einerseits der mit den Aussagen Neuwegs konvergierende Hinweis, dass die beiden intuitiven Formen der Verarbeitung nicht voll explizierbar seien und andererseits die These, dass „‚Intuieren‘ im engeren Sinne (gemeint sind hier IVS-basierte Prozesse; Hinweis des Autors) … schwerer explizierbar (d. h. noch ‚intuitiver‘)“ ist „als das Fühlen, weil Intuieren weniger stark auf explizierbaren Erfahrungen (episodisches Gedächtnis) beruht als das Fühlen.“ (Kuhl 2001, S. 626) Durch Automatismen und Verhaltensroutinen gesteuertes Handeln wird also als vergleichsweise schwerer explizierbar betrachtet als eine Handlungsstruktur, die – analog oder kontrastierend – mit einer bestimmten biographischen Erfahrung verbunden werden kann.

Bislang wurde der Frage nachgegangen, wie Könnerschaft aus zwei verschiedenen wissenschaftlichen Perspektiven erklärt wird und an welchen Stellen es kon- bzw. divergente Auffassungen dazu gibt. Bezogen auf die Frage der didaktischen Fundierung von Prozessen der Aus- und Fortbildung von Lehrpersonen ist aber auch die Frage bedeutsam, wie man sich denn den Zuwachs von Könnerschaft erklären kann, weil ja – um einerseits beim einleitend angesprochenen „Paradigma der Meisterlehre“ (vgl. Abschn. 1.1) anzuknüpfen und andererseits die positiven Konnotationen zu Meister-Lehrling-Beziehungen bei Polanyi aufzugreifen (vgl. z. B. Neuweg 2015, S. 161) – bekanntermaßen noch „kein Meister vom Himmel gefallen“ ist.

2.2 Zur Erklärung von Könnerschaftswachstum: Emotionale Dialektik zwischen Diskrepanzsensitivität und ganzheitlichem Fühlen

Neuweg fragt sich in seinem Text „Das Schweigen der Könner“, wie es denn erklärbar ist, dass im Lehrberuf „manche in der Erfahrung nichts erfahren“, d. h. auf ihrem Könnerschafts-Level stagnieren; er stellt sich also – umgekehrt formuliert – die Frage nach den Bedingungen, unter denen Könnerschaft angereichert wird. Aus seinen Antworten wird deutlich, dass er in dieser wichtigen Frage insbesondere auf die Reflexionsbereitschaft- und -fähigkeit setzt: „Professionell ist ein Lehrer weder aufgrund seines expliziten Wissens noch aufgrund seines impliziten Wissens allein, sondern erst, wenn er zudem bereit ist, seine Handlungspraxis regelmäßig zu analysieren, zu evaluieren und gegebenenfalls zu verändern, wenn er Verantwortung für das eigene Wachstum übernehmen will und kann. Auszuprägen sind also ein reflexiver Habitus und eine reflexive Kompetenz – Einstellungen und Fähigkeiten, die man an und in ‚der Praxis‘ so ohne weiteres nicht nur nicht erwirbt, sondern dort auch wirkungsvoll verlieren kann.“ (Neuweg 2015, S. 41; Hervorhebungen durch den Verfasser) Bezogen auf sein Wissenskategorien-System (akademisches Wissen einerseits; implizites Wissen für intuitiv-improvisierendes Handeln im Sinn von Können andererseits) setzt Neuweg auf die explizite Wissenskomponente (akademisches Wissen), die auf einem höheren taxonomischen Level auch für Analysezwecke genutzt werden kann (vgl. Klauer und Leutner 2007, S. 32). Kognitionspsychologisch ist mit der Wachstumsfrage die Frage nach der Akkomodation gestellt, die PSI-theoretisch bezogen auf Lehrer/innenhandeln folgendermaßen formuliert werden kann: In welchem Ausmaß gelingt es einer Lehrperson, sich in Situationen, in denen implizit genährte Handlungsabläufe nicht zum intendierten Ziel geführt haben, entsprechenden Diskrepanzerfahrungen zu stellen, d. h. sich einzugestehen, dass man mit seinem „impliziten Latein“ an’s Ende gekommen ist? Mit dem System der diskrepanzsensitiven Objekterkennung (Objekterkennungssystem; nachfolgend OES; vgl. Abb. 1) ist das vierte Makrosystem der PSI-Theorie benannt, das als in einem dialektischen Verhältnis zum EG stehend beschrieben wird; es unterstützt als logisch-sequenziell arbeitendes System (der Verarbeitungsmodus entspricht also dem des IG) Prozesse des Herauslösens eines Objekts aus einem Wahrnehmungskontext – und zwar dann, wenn dieses Objekt nicht mit den bislang gemachten Erfahrungen kompatibel ist, also als eine Art „Fremdkörper“, der (noch) nicht eingeordnet werden kann, störend in das Bewusstsein tritt und das Potenzial in sich trägt, das wahrnehmende Subjekt in seinen Bann zu ziehen und einen Tunnelblick zu provozieren – samt entsprechender Erhöhung des Erregungsgrades (Auftreten von Dystress; vgl. Kuhl 2001, S. 329). Aus der Perspektive der PSI-Theorie braucht es also für die Anreicherung von Könnerschaft die Fähigkeit, Diskrepantes an sich heranzulassen genauso wie die Fähigkeit, diese neue Erfahrung – unterstützt durch Analyse und Reflexion (gesteuert über das IG) – in das Erfahrungsnetzwerk des EG zu integrieren. Zu beachten ist (nicht nur) in Prozessen der Lehrer/innen-Bildung (hier etwa in Nachbesprechungen mit Studierenden zu abgehaltenem Fachunterricht), dass dieser dialektische Verbindungsaufbau OES-EG – analog zum „Überschreiten des Rubikon“ beim Umsetzen von Absichten – als durchaus anspruchsvoll erfahren werden kann, weil eine „Umschaltung“ von einem links- in einen rechtshemisphärischen Modus notwendig ist. Lehrpersonen gleichermaßen wie Lehramtsstudierende, die Unterrichtssituationen einseitig über das OES verarbeiten, weil sie also ihre Sache besonders perfekt und gewissenhaft machen wollen, laufen Gefahr, auf einem hohen Stresspegel zu agieren (im OES erfolgt die Informationsverarbeitung logisch-sequenziell) und auf Dauer in ein Gefühl der Überforderung zu schlittern (Gewissenhaftigkeit als diskrepanzsensitive Fähigkeit steht übrigens häufig auf Merkmals-Wunschlisten für Lehramtsstudierende; sie kann aber aus dem gerade erwähnten Grund ein Risikofaktor sein, worauf in den Merkmals-Wunschlisten nicht explizit verwiesen wird; vgl. Mayr und Neuweg 2006, S. 199; Hanfstingl und Mayr 2007, S. 55).

Damit ist auch der neuralgische Unterschied zwischen der Neuwegschen Empfehlung, für Könnerschaftswachstum einen reflexiven Habitus einzunehmen und reflexive Kompetenz zu entfalten, und einer PSI-basierten Erklärung für eine Anreicherung von Könnerschaft benannt: Reflexionsprozesse können über eine Analyse des Erwartungswidrigen – vermittelt über Prozesse im IG – zwar insgesamt zur Integration des Unerwarteten in die implizite Wissensstruktur beitragen, allerdings unter einer wichtigen Bedingung: Es braucht zuerst das Zulassen des Erwartungswidrigen, damit dem Reflexionswillen überhaupt „neues Material“ zugeliefert wird, an dem sich ein reflexiver Habitus abarbeiten kann; Voraussetzung für einen solchen Integrationsprozess ist nach dem „An sich-Heranlassen“ des Diskrepanten die Fähigkeit der betreffenden Person, den Stresslevel, der dadurch steigt, auf einen mittleren Level zu senken (vgl. Kuhl 2004), weil dadurch – im Sinne der emotionalen Dialektik – die Selbstwachstums-„Achse“ (vgl. Abb. 1) aktiviert wird; dann steht in einer Verfasstheit der gelassenen Distanz zum erwartungswidrigen Ereignis auch einer Reflexion dieses Ereignisses nichts im Weg.

Diese Hinweise auf ein situationsadäquates Nutzen aller vier (grundsätzlich) zur Verfügung stehenden kognitiven Makrosysteme im Sinne eines selbstgesteuerten Agierens sind mit Blick auf Prozesse der Aus- und Fortbildung von Lehrpersonen alles andere als banal:

  • Es gibt nicht nur Lehrpersonen, sondern auch schon Lehramtsstudierende, die sich offenkundig sehr gerne darauf beschränken, intuitiv-improvisierend zu handeln, und die gar nicht auf die Idee kommen, dass an ihrem professionellen Handeln etwas verbesserungswürdig sein könnte; sie haben, weil das OES (vgl. Abb. 1) inaktiv ist, beispielsweise „keinen Blick für das Leiden ihrer Schülerinnen und Schüler“, selbst dann nicht, wenn die Diskrepanzen zwischen der Illusion über ihren „ach wie tollen“ Unterricht und den Werturteilen der Schülerinnen und Schüler über diesen „tollen“ Unterricht von Außenstehenden (z. B. von ihren Mentor/inn/en) kaum mehr ertragen werden können. Solche Lehrpersonen zeichnet zwar die große Stärke aus, im unterrichtlichen Augenblick zu leben und das, was sich an Anreizen in der Klasse bietet, blitzschnell für sich und ihre Vorhaben zu assimilieren: Sie würden beispielsweise einen Schüler, der sich über einen Qualitätsmangel heftig und deutlich hörbar beklagt, ignorieren oder sich bei ihm für diese Rückmeldung bedanken und ihn dafür – weil er sich so mutig gezeigt hat und seinem Lehrer auch einmal seine Meinung zu sagen wagt – auf irgendeine Art und Weise belohnen (à la „du hast etwas gut bei mir“); freilich bliebe ein solcher Schüler mit dem Eindruck zurück, dass der Lehrperson die kritische Rückmeldung „rechts hinein und links wieder aus dem Ohr hinaus“ ging – eine Klage, die in der Regel umgekehrt geäußert wird, nämlich von Lehrpersonen in Richtung Schülerinnen und Schüler. Ein solches assimilativ genährtes Verhalten – und jetzt wird die Gefahr der Einseitigkeit eines „intuitiv-improvisierenden“ Handelns deutlich – hat aber eine Grenze: Wenn eine solche Lehrperson denn mit zu viel Unvorhergesehenem auf einmal konfrontiert wird, dann wird es für sie gefährlich, weil ein solches Agieren zwar eine hohe Anfangsstabilität, aber eine geringe Endstabilität aufweist (vgl. die charakteristischen Merkmale des integrativen Motivationsstils bei Kuhl et al. 2010, S. 58 f; vgl. auch den Hinweis bei Mayr 2014, S. 198, Tab. 2, dass Extraversion und Belastung im Beruf negativ korrelieren). Vor diesem Hintergrund erscheinen die Empfehlungen von Mayr et al., in der Kriteriologie für die Eignung zum Lehrberuf insbesondere eine ausgeprägte Introversion, nicht aber auch eine einseitig ausgeprägte Extraversion als Risikomerkmal zu benennen, hinterfragenswert (vgl. Mayr und Neuweg 2006, S. 199; Hanfstingl und Mayr 2007, S. 55).

  • Freilich ist in Aus- und Fortbildungsprozessen auch eine gegenteilige Konstellation beobachtbar: Lehramtsstudierende und Lehrpersonen „verbeißen“ sich in diskrepante Beobachtungen (wenn ein Schüler oder eine Schülerin etwas nicht und nicht verstehen mag oder wenn Widerstände gegen die Unterrichtsplanung in der Klasse auftreten), und können aufgrund einer fehlenden Anbindung an das EG den bisherigen Erfahrungsreichtum nicht nutzen, um auch ihnen persönlich nahegehende, stressige Unterrichtssituationen kreativ und „mit Mutterwitz“ (Neuweg 2010, S. 47, Tab. 2) zu bewältigen. Das „Umschalten“ von einem logisch-sequenziellen Verarbeitungsmodus auf einen parallel-ganzheitlichen ist für eher IG-/OES-„geneigte“ Lehramtsstudierende und Lehrpersonen nicht einfach zu bewerkstelligen, kann aber bis zu einem bestimmten Ausmaß geübt werden (vgl. Storch und Kuhl 2012). Vor diesem Hintergrund betrachtet ist der generelle Appell, Lehrpersonen sollten einen „reflexiven Habitus und eine reflexive Kompetenz“ anstreben (Neuweg 2015, S. 41), um ihren Erfahrungsschatz anzureichern, für solchermaßen disponierte Lehrpersonen potenziell gefährlich, weil er eine Art „more of the same“ darstellt: Logotrop veranlagte Lehrpersonen, die ohnehin stark linkshemisphärisch gesteuert agieren (also sehr diskrepanzsensitiv sind, eher Pläne verfassen als diese umzusetzen und zumeist intropunitiv agieren; vgl. Kuhl et al. 2010, S. 54), drohen, wenn sie auch noch von außen angeleitet werden, ihre Misserfolge über differenzierte(ste) Reflexionsprozesse zu bearbeiten, in die passive Vermeidung zu kippen, weil der fehlende Zugang zum EG auch bedeutet, dass ihre Selbstzuversicht und ihre Selbstwirksamkeitsüberzeugungen gegen Null tendieren. Es besteht die Gefahr, bei solchen Unterrichtsreflexionen in Grübel-Endlosschleifen abzugleiten.

Um Könnerschaft anzureichern, erscheint die Reflexionsempfehlung Neuwegs also als zu kurzschlüssig; es ist PSI-theoretisch betrachtet notwendig, widerständige Ereignisse an sich heranzulassen, und zwar in einer Haltung konstruktiver Misserfolgsbewältigung; auf dieser Basis kann eine reflexiv-produktive Verarbeitung zu einer Ausdifferenzierung von Könnerschaft führen. Die wiederholt beklagte hohe Veränderungsresistenz subjektiver Theorien (vgl. Reusser und Pauli 2014, S. 643 ff) bei Lehrpersonen kann als Indiz dafür betrachtet werden, dass sich Lehrpersonen schwertun, diesen Prozess „Selbstkonfrontation mit Diskrepantem – Selbstberuhigung im Sinne einer Erfahrungs-Kontextualisierung – Selbstreflexion“ in Eigenregie zu durchlaufen und Unterstützung im Bereich der Fortbildung angezeigt ist.

3 Resümee: Aktionsforschung bedingt vielfach Meister(lehre)

Was bedeuten die Überlegungen zur Beschaffenheit von Könnerschaft und zu deren Entwicklung für die Entscheidung für bzw. gegen eine bestimmte Struktur der Fort- und Weiterbildung von Lehrpersonen? Im Blick auf die eingangs geschilderten zwei Paradigmen können dazu folgende Thesen formuliert werden:

Das Paradigma der Meisterlehre (vgl. Abschn. 1.1) ist – freilich in einer bestimmten Variante (vgl. nachfolgende Explikationen) – nicht als obsolet zu betrachten, und zwar aus folgenden Gründen:

  • Das von Lipowsky genannte Argument, dass es jemanden braucht, der interveniert, wenn Lehrpersonen in Fortbildungssituationen „ihr Hauptaugenmerk auf kurzfristig anwendbare und einsetzbare Rezepte, Techniken und Unterrichtsmaterialien richten“ wollen (2014, S. 519), ist deswegen zu unterstreichen, weil ein solches Vorgehen als ein Sich-Begnügen mit einer Anreicherung des IVS anzusehen ist; IVS-gesteuert agierende Lehrpersonen können aber nicht kontextsensibel agieren, d. h. ihre gelernten Routinen situativ passend modellieren. Könnerschaft braucht IVS-gesteuertes Agieren, aber unbedingt im Verbund mit der Nutzung des EG als Erfahrungshintergrund, um pädagogische Situationen im Licht bisheriger Erfahrungen interpretieren und etwa in der Fort- und Weiterbildung neu gelernte Verhaltensroutinen zum Nutzen der Lernbedingungen von Schülerinnen und Schülern einzusetzen. Die „didaktisch-methodische Kurzatmigkeit“ von Lehrpersonen, die schnell auf didaktische Modetrends aufspringen (und bisweilen frustriert auch schnell wieder „abspringen“), hat in dieser Beschränkung auf eine Anreicherung des IVS eine wichtige Erklärung.

  • Lipowsky schlägt vor, dass sich Fortbildner/innen als Modelle für intendiertes unterrichtliches Verhalten verstehen; vor dem Hintergrund der Ausführungen im Abschn. 2 dieses Beitrags kann nun konkretisiert werden, dass eine solche Modellwirkung insbesondere im Hinblick auf die Qualität selbstgesteuerten Verhaltens zu interpretieren ist, das ggf. ein bestimmtes erwünschtes, qualitätsvolles Verhalten erst ermöglicht; d. h. dass Fortbildner/innen Lehrpersonen also dabei unterstützen sollen, wie sie – vermittelt über bestimmte Selbststeuerungsfähigkeiten – qualitätsvolles professionelles Verhalten aufbauen können. Erfahrungsgemäß haben Lehrpersonen insbesondere im Umgang mit Motivations- und zumeist daraus resultierenden Disziplinproblemen bei Schülerinnen und Schülern hier hohen Bedarf (vgl. den hohen Stellenwert des Umgangs mit Disziplinproblemen im Fortbildungsbedarf von Lehrpersonen; Kast 2010, S. 29). Das Modellverhalten, das Lehrpersonen in der Fort- und Weiterbildung angeboten werden soll, betrifft also nicht in erster Linie die IVS-routinebezogene Oberflächenstruktur („Sag das“ bzw. „Tue das“ oder manchmal auch „Ignoriere das“), sondern die tiefenstrukturelle Dimension der Selbststeuerung im Sinne einer situationsadäquaten Nutzung der vier kognitiven Makrosysteme zum Generieren einer „professionellen pädagogischen Haltung“ (vgl. Schwer und Solzbacher 2014). Fortbildner/innen, die eine solche Haltung internalisiert haben, sind auch imstande, ihre Könnerschaft in Fort- und Weiterbildungssituationen ätiologisch zu explizieren (im Sinne einer berufsbiographischen Genese einer bestimmten komplexen Fähigkeit).

Zum im ersten Abschnitt auch vorgestellten Paradigma der „Selbstentwicklung durch Aktionsforschung – Lehrpersonen in einer Art Forscherrolle“ (vgl. Abschn. 1.2) kann vor dem Hintergrund der Überlegungen zur Qualität von Könnerschaft und den Bedingungen ihrer Entwicklung Folgendes festgehalten werden:

  • Die in diesem Paradigma häufig verwendete Terminologie, Lehrpersonen sollten sich als „reflektierende Praktiker/innen mit einem forscherischen Habitus“ verstehen und zur Anreicherung ihrer Könnerschaft „reflection on action“ betreiben, erinnert an die Argumentation Neuwegs, dass Könnerschaftsentwicklung verstärkt vermittelt über reflexive Prozesse unterstützt werden kann. Besonders die große Gruppe diskrepanzsensitiv disponierter Lehrpersonen (also solche mit der berühmten „Fehlerbrille“) läuft ohne flankierende Maßnahmen in diesem Fall aber die bereits angesprochene Gefahr, in eine „more of the same“-Falle zu geraten, zumal IG-/OES-gesteuert agierende Lehrpersonen von sich aus viel reflektieren und aus puren „reflection on action“-Aktivitäten zunächst eher wenig Gewinn für die Anreicherung ihrer Expertise ziehen können, weil sie sich – wie weiter oben ausgeführt (vgl. Abschn. 2.2) – generell schwertun, sich nach selbstwertgefährdenden Erfahrungen in eine Haltung der gelassenen Distanz zu bringen, um anschließend den Lernertrag aus dieser Erfahrung zu destillieren. Solche Reflexionshinweise sind andererseits auch für chronisch intuitiv-improvisierend agierende Lehrpersonen als Einstiegsimpuls in Fortbildungsprozesse wenig attraktiv, weil es für sie aufgrund ihrer assimilativen Informationsverarbeitung keinen Anlass gibt, mit ihrer Arbeit nicht zufrieden zu sein, weil sie zu einem extrapunitiven Stil tendieren (d. h. die Schuld z. B. für mangelndes Verstehen von Fachinhalten im Unterricht verstärkt bei den Schülerinnen und Schülern oder den Rahmenbedingungen suchen; vgl. Kuhl et al. 2010, S. 95).

  • Freilich ist im Kontext der Aktionsforschung auch die Konstellation vorstellbar, dass Lehrpersonen im Hinblick auf Unterrichtssituationen, im Hinblick auf die sie rückblickend betrachtet mit ihrem professionellen Agieren unzufrieden sind, selbstgesteuert Modelle suchen, von deren Verhalten sie in ihrer Entwicklung profitieren können.

  • Das Paradigma der Aktionsforschung erweist sich solchermaßen als für Lehrpersonen geeignet, die in ihrer Selbststeuerung schon sehr souverän sind, die also – PSI-theoretisch gesprochen – sehr flexibel und adaptiv mit der Nutzung der kognitiven Makrosysteme umgehen können, und zwar zum Zweck der Selbstkonfrontation („Was habe ich mit meinem Tun wirklich bewirkt? Was sagen mir die Betroffenen?“) genauso wie zum Zweck der Selbstberuhigung nach wenig schmeichelhaftem Feedback oder nach didaktischen Fehlschlägen; andernfalls wäre ein erfolgreiches Durchlaufen der Stufen zur Expertiseanreicherung („oberflächliches Ausprobieren neuer Routinen – Vernetzung mit bisheriger Expertise – situativ passender Einsatz“; vgl. Abschn. 2.2) gefährdet. Aus diesen Überlegungen lässt sich also der Hinweis gewinnen, dass es – wenn man denn in der professionellen Praxis mit dem Ziel eines Qualitätsgewinns auf dieses Paradigma setzen will – propädeutisch bzw. begleitend angelegte Prozesse braucht, damit Lehrpersonen entsprechend selbstgesteuert agieren lernen, um auch die Expertiseentwicklungsfrüchte ernten zu können, die das Paradigma „Selbstentwicklung durch Aktionsforschung“ in Aussicht stellt; das gilt für „reflection in action“ genauso wie für „reflection on action“. Könnensentwicklung durch Aktionsforschung erweist sich also als voraussetzungsreich, und vielleicht ist das mit ein Grund dafür, warum Lehrpersonen diesem Paradigma bisweilen reserviert gegenüberstehen (vgl. Altrichter et al. 2014, S. 301 f).

So kann abschließend konstatiert werden, dass sich – aus der Perspektive der Könnensentwicklung betrachtet – die Frage nach didaktischen Strukturpräferenzen für Prozesse der Fort- und Weiterbildung, wenn sie denn als Entscheidungsfrage (entweder „Meisterlehre“ oder „Selbstentwicklung“) verstanden wird, als falsch gestellt entpuppt; es wird je nach elaborierten Selbststeuerungskompetenzen der Lehrpersonen in den Fort- und Weiterbildungsprozessen entweder mehr Meisterlehre brauchen, vermittelt über die Lehrpersonen inhaltliche Impulse für ihre professionellen Entwicklungsziele sowie Unterstützung zur Entwicklung einzelner Selbststeuerungsfähigkeiten bekommen (vgl. mit Bezug auf pädagogisches Führungsverhalten Hofmann und Salzgeber 2017)Footnote 2 oder bereits möglich sein, in Peergruppen interessante Erfahrungszuwächse zu explizieren, die aus dem vielzitierten „Habitus forschenden Lehrens“ resultieren; in beiden Fällen wird jedenfalls ein Stück implizites Erfahrungswissen kollegial zugänglich.