In vielen Debatten der Gegenwart - öffentlich wie privat - sind moralisierende Einwürfe nicht weit. Das gilt etwa für Diskussionen um den Klimawandel, nachhaltigen Konsum, Genderfragen, Migration oder die COVID-19-Pandemie. Wie können wir mit dieser Problematik besser umgehen und Prozesse positiv modifizieren - im gesellschaftlichen Diskurs, aber auch im medizinischen Miteinander? Vielleicht können Elemente der Ethik und des Simulationstrainings hier einen überzeugenden Beitrag leisten!

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© Sergey Nivens / stock.adobe.com (Symbolbild mit Fotomodell)

Moralisten stellen die Gegenseite gerne besonders schlecht dar, um selber zu glänzen - doch damit kommt man im Diskurs nicht weiter.

Moralen enthalten Handlungsregeln, die Menschen entwickelt haben, weil sie anders als Tiere eben nicht rein instinktiv handeln. Damit offeriert Moral eine gewisse Freiheit, sie kann sozialen Frieden herstellen, Hierarchien oder Machtverhältnisse regeln und Konflikte verhindern. Moral wurde meistens durch die Religion legitimiert - aber auch durch andere Normensysteme wie die Nationalität, Kultur oder die Tradition als Wertansicht. Das alles waren Konstruktionen, aus denen Normen übernommen wurden, weil es eben so war. Allerdings funktioniert das aus soziologischen Gründen in modernen Gesellschaften so nicht mehr [1, 2]. Was in einer Gemeinschaft als "herrschende" Moral anerkannt ist, kann sich von dem, was in kulturell, religiös oder sozial anders geprägten Gemeinschaften als richtig empfunden wird, erheblich unterscheiden [3].

Moral ist wichtig, aber man kann sie auch zu wichtig nehmen.

Kritik des Moralismus

"Erst kommt das Fressen, dann die Moral", schrieb einst Berthold Brecht. Sind die Grundbedürfnisse erst einmal befriedigt, wird das Fressen selbst - also die Art und Weise, wie wir konsumieren, uns ernähren und welche Ressourcen wir verbrauchen - zu einer moralischen Frage. Moral sei wichtig, schreiben die Herausgeber Christian Neuhäuser und Christian Seidel im Vorwort ihrer "Kritik des Moralismus", aber man könne sie auch zu wichtig nehmen [4]. Zum Beispiel wenn Moralapostel allenthalben ihre Zeigefinger erheben und von anderen die Einhaltung bestimmter Gebote fordern [5]. Indem der Moralisierende die Gegenseite ins schlechte Licht stellt, erscheint sein eigenes moralisches Blitzeblanksein umso strahlender [6].

Der Journalist Frédéric Schwilden beschreibt es folgendermaßen: "Mit der Moral kommt jeder, der kein überzeugendes Argument hat. Die Moral ist das Ende des freien Willens. Die Moral kennt keine Frage. Sie ist absolut. Sie ist ein Dogma. Moralvorstellungen sind religiöse, gesellschaftliche Gesetze, die für die Menschen, die an sie glauben, nicht verhandelbar sind. Moralisches Handeln sagt: Der Zweck heiligt die Mittel. Der Moralist wird zum narzisstischen Diktator. Seine Weltsicht sagt: Ich und nur ich habe recht. Wenn Karl Marx also in seiner Schrift 'Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie' schrieb, 'Religion ist Opium für das Volk', dann müsste es heute heißen: 'Moral ist Crystal Meth für die Gesellschaft'" [7].

Doch nicht jedwede moralische "Verfehlung" geht jeden etwas an. Ein Recht auf Einmischung besteht nur dann, wenn Hinweise auf massive Verstöße vorliegen. Es ist nicht korrekt, nach dem Rechten zu sehen und Mitmenschen zu kontrollieren, auch wenn teilweise moralisch relevante Aspekte betroffen sind. Diese Variante des Moralismus beruht darauf, dass sich Menschen unter Berufung auf moralische Gesichtspunkte in fremde Angelegenheiten unzulässig einmischen ("meddling"). Beim Bekanntmachen moralischer Verfehlungen anderer kommt es leicht zu Übertreibungen, die sich zu einem Verfolgertum im Namen der Moral auswachsen können. Dabei wendet man sich nicht an den Täter zur Belehrung, sondern an die Öffentlichkeit zur Brandmarkung desselben. Die Kampagne gegen den ehemaligen Bundespräsidenten Christian Wulff ist ein Paradebeispiel für einen Vorgang, bei dem aus wenig sehr viel wurde, nachdem die Medien sich der Sache angenommen hatten [8].

Eine besondere Form des Moralismus ist es, wenn staatlicherseits bestimmte Auffassungen vom guten oder richtigen Leben durchgesetzt werden sollen, indem ein Staat sich mit einer bestimmten Weltanschauung identifiziert. Die Einführung eines Punktesystems zur Bewertung von guten und weniger guten Bürgern, wie sie in China vorgenommen wird, ist ein Beispiel für solchen staatlichen Moralismus.

Auch im kinderärztlichen Alltag treffen wir auf moralisierende Haltungen (Box 1). Im Notdienst beschwert sich eine Kollegin: "Ich als nur hausärztlich tätige Kinderärztin ohne Zusatzqualifikation darf mich um alles Banale kümmern - etwa rote Hälse und Ohren -, während sich mein Kollege mit kinderkardiologischer Schwerpunktpraxis regelmäßig vor den KV-Notdiensten drückt. Er ist sich wohl für das Gewöhnliche zu schade und fühlt sich als was Besseres." Oder die junge Mutter beim Kaffeeklatsch mit ihren Freundinnen: "Der einzige Kinderarzt im Ort ist Araber. Eines steht fest, zu dem gehe ich mit meiner vierjährigen Tochter auf gar keinen Fall. Der soll mein Kind bloß nicht anfassen." Und nicht zu vergessen, der Dauerbrenner: "Wie sieht es denn nun aus mit der Nähe zwischen unabhängiger Forschung, angewandter Medizin und Pharmaindustrie - respektvolle Distanz zum Wohle des Patienten oder ist es ein Prozess permanenten und eng-verflochtenen Gebens und Nehmens?"

Argumentatives Hinterfragen anstatt "moralisierende" Selbstgerechtigkeit

Der habilitierte Medizinethiker, Philosoph und Neurologe Dr. Dr. Ralf J. Jox analysierte in einem Editorial prägnant: "Der Moralismus zieht seine verführerische Kraft aus einer dreifachen Befriedigung des Menschen. Er befriedigt dessen Suche nach eindeutiger Ordnung in einer unübersichtlichen Welt; er gibt ihm das Gefühl, inmitten einer Welt vereinzelter Individuen in der wohligen Gemeinschaft Gleichgesinnter geborgen zu sein; und er befreit ihn von der Wahl zwischen tausenderlei Lebensmöglichkeiten und Sinnangeboten in unserer pluralen Gesellschaft, indem er ihm ein vermeintlich absolutes, unangreifbares moralisches Gut als Sinn vorspiegelt. Die Ethik ist das genaue Gegenteil des Moralismus, gleichsam das Kontrastprogramm im Umgang mit moralischen Fragen" [9].

Beim Bekanntmachen moralischer Verfehlungen anderer kommt es leicht zu Übertreibungen, die sich zu einem Verfolgertum im Namen der Moral auswachsen können.

Ethik ist Moralphilosophie, sie analysiert und bewertet verschiedene Moralen mit wissenschaftlichen Methoden im Lichte allgemein anerkannter Werte wie Gerechtigkeit, Freiheit, Ehrfurcht vor dem Leben, aber auch Nützlichkeit. Ziel ethischer Reflexion ist es, anhand verallgemeinerungsfähiger Kriterien für lebensdienliches Handeln zu qualitativ besseren Entscheidungen zu kommen. Moralphilosophie geht davon aus, dass Menschen Vernunftwesen und somit in der Lage sind, aus einer durch Werte informierten Analyse logische Schlussfolgerungen zu ziehen. Handeln wird dann nicht nur durch Affekte oder situativen Nutzen bestimmt, sondern von Vernunft gesteuert: Betrachte ich Ehrfurcht vor dem Leben wirklich als höchsten Wert, dann strebe ich durch alle Aspekte meines Handelns danach, Leben zu erhalten, zu fördern und, wo immer möglich, der Entfaltung von Leben zu dienen. Das hat konkrete Konsequenzen für den Umgang mit anderen Menschen, mit Tieren und der Natur. Auftretende Ziel- oder Wertekonflikte werden durch eine Hierarchisierung der Werte gelöst: Derjenigen Vorgehensweise, die sozial gerechter sowie ökologisch weniger schädlich ist und auch sonst weniger Kollateralschäden hat, wird der Vorzug gegeben - relativ unabhängig von kurzfristigen materiellen oder anderen Vorteilen. Es gibt Menschen, die moralische Abscheu vor schlechten Produktionsbedingungen in Südasien zum Ausdruck bringen - aber ihre Jeans für zehn Euro kaufen. Es gibt Amtsträger, die Gegnern Defizite bei der inneren Sicherheit, der Infrastruktur oder bei den Bildungsinstitutionen vorhalten - aber selbst nichts dagegen taten, als ihre Partei an der Macht war. Wir kennen Chefs von Unternehmen, die zur Einsparung von Kosten Löhne drücken und Mitarbeiter entlassen, sich selbst aber hohe Boni genehmigen.

Ethik klärt auf, kritisiert Meinungen, achtet dabei peinlich auf Wertschätzung aller - so wird Moral vor Entwertung geschützt und ein wesentlicher Beitrag zum sozialen Frieden geleistet.

Moralisierende Menschen argumentieren undifferenziert in Gegensätzen von "gut - böse". Oft reden sie anders, als sie handeln. Komplexe Probleme sind auf diese Weise nicht lösbar, jedoch durch ehrliches Argumentieren und eigenes vorbildhaftes Handeln [10]. Somit ist Ethik die rationale Reflexion von Moral, die nach Gründen sucht, um moralische Urteile, Entscheidungen und Handlungen im Diskurs zu verantworten. Ethik differenziert sorgfältig moralische und außermoralische Kategorien und bewahrt die Moral damit vor einer inflationären Entwertung. Ethik nutzt den radikalen Zweifel und das stete Hinterfragen vermeintlicher Gewissheiten, um eine tückische Selbstgerechtigkeit zu entlarven. Ethik klärt auf, kritisiert Meinungen, achtet dabei peinlich auf Wertschätzung aller Personen - so wird Moral vor Entwertung geschützt und ein wesentlicher Beitrag zum sozialen Frieden geleistet. Sache der Ethiker ist es nicht, den Daumen zu heben oder zu senken, sondern dem ubiquitären Abstimmungsdiskurs einen Argumentationsdiskurs entgegenzusetzen [9].

Moralismus und Kommunikationsdefizite im Team

Machen wir nun einen gedanklichen Sprung und wenden uns dem Team als einem Mikrokosmos der Gesellschaft zu. Eine gute Teamperformance benötigt und profitiert von gelebten Regeln und Absprachen. Diese müssen allgemein akzeptiert, verinnerlicht und regelmäßig trainiert werden, denn "angeboren" oder einfach so von überzeugenden Vorgesetzten kopierbar sind diese eben nicht. Täglich sitze ich in Klinikbesprechungen mit über 20 Teilnehmern oder nehme an Stationsvisiten teil. Diese verlaufen zuweilen ineffektiv, weil sich mal wieder nicht an die Vorgaben vernünftiger Kommunikation gehalten wird.

Die Themen werden teilweise unstrukturiert und emotional besetzt diskutiert. Auch hier finden sich einige Elemente von Moralismus wieder, wenn subjektive Befindlichkeiten und Bewertungen über Angehörige oder jugendliche Patienten die Falldarstellung raumfüllend einleiten. Die eigentliche medizinische Analyse der Diagnose und das Abwägen sinnvoller therapeutischer Interventionsoptionen treten dagegen in den Hintergrund der Diskussion. Mehr als bedauerlich ist dabei, dass die übrigen Besprechungsteilnehmer passiv zum Zuhören verdammt sind. Kaum vorzustellen, wie viel bezahlte Arbeitszeit hier kollektiv "vergeudet" und Verhalten "gelehrt" wird.

Inhaltlich zwar andere, vom Ablauf jedoch sehr ähnliche Erfahrungen machen wir fast alle, zu unserem Leidwesen manchmal täglich - etwa im Schulelternbeirat, Sportverein oder in der eigenen Familie.

Lernen aus der Simulation

Auf den ersten Blick mag es verwundern, aber nehmen wir einmal das Notfallsimulationstraining als Modell zum Lernen für alle denkbaren Lebenssituationen. Teamreflexion ist ein wesentlicher Inhalt dieser Übung und zugleich ein Prozess, der die Informationsverarbeitung und auch die Weiterentwicklung von Teams fördert. Sie beschreibt die Fähigkeit eines Teams, die eigenen Ziele, Strategien und Prozesse kontinuierlich zu reflektieren und an aktuelle oder zukünftige Anforderungen der Umgebung anzupassen. Die Forschung hat gezeigt, dass Teams, die mehr reflektieren, besser zusammenarbeiten, ein besseres gemeinsames Verständnis der aktuellen Situation entwickeln und eine bessere Leistung zeigen [11].

Teamreflexion kann zu verschiedenen Zeitpunkten ausgeführt werden. Dabei bieten Notfall-Debriefings die Möglichkeit, Handlungen zu evaluieren und Verbesserungsmaßnahmen für die Zukunft abzuleiten. Inhalte können Auffrischung von medizinischem Fachwissen, Training von technischen Handlungen, Besprechung von Abläufen oder auch Änderungen von systemischen Problemen sein. In einem Debriefing kann auch über persönliche Sorgen, Ängste und Fehler gesprochen werden, was jedem Einzelnen hilft, herausfordernde Situationen zu verarbeiten. Teamreflexion nach einem klinischen Ereignis bedeutet etwa nicht, dass jemand direktiv sagt, was gut und was schlecht war, sondern dass ein Team gemeinsam die positiven wie auch verbesserungswürdigen Aspekte der Behandlung erarbeitet. Wichtig dabei ist, nicht nur negative Aspekte zu besprechen, sondern unbedingt auch Positives zu bestärken. Damit können suboptimale Handlungen in Zukunft unterlassen und positive Verhaltensweisen beibehalten und kopiert werden [11].

Eine einfache und rasch erlernbare Methode ist "talk" (Tab. 1). Das Akronym steht für die vier Stadien des klinischen Debriefings:

Tab. 1: Werte des klinischen Debriefings nach der Methode "talk" (www.talkdebrief.org)
  • Thema: Konkret umreißen, was besprochen werden soll.

  • Analyse: Betrachten, was gut lief oder bei Kommunikation, Entscheidungsfindung, Situationsbewusstsein und Effizienz störte.

  • Lernpunkte: Werden aus der Analyse konkret abgeleitet und benannt, und führen zu zukünftig anzuwendenden

  • Kernmaßnahmen: Im Hinblick auf Verbesserungen von Patientenversorgung, Sicherheit und Verantwortlichkeit.

In der Praxis bewährt hat sich zu Beginn eine kurze Frage nach der unmittelbaren persönlichen Befindlichkeit der Teilnehmer im Anschluss an eine Simulation. So kann etwa die Frage "Wie geht es dir jetzt" wertvolle "golden nuggets" liefern, die anschließend entscheidend für die Bearbeitung von Lernpunkten sind.

Soweit ein Modell, das für eine spezifische Aufgabenstellung gut funktioniert. Aus meiner Sicht kann es modifiziert auch in anderen Situationen und in einem größeren Rahmen genutzt werden - sogar bei alltäglichen Vorgängen mit Konfliktpotenzial, etwa die Aufgabenverteilung im Haushalt oder Absprachen in einer Partnerschaft zur nächtlichen Betreuung von nicht schlafwilligen jungen Kindern. Die Struktur, implizierte Werte und Sprache wirken verlockend. Die These in Frageform, die jeder selbst prüfen sollte, lautet also: "Steckt hierin nicht auch ein 'Gegenmittel' zum Moralismus?"

Humor als Antidot gegen Moralismus

Spannen wir abschließend den Bogen vom Simulationstraining zur Ethik. Großartig ist, wenn Sprache und Inhalt des Debriefings im Notfalltraining auf der Basis guter ethischer Praxis stehen. Kernpunkt des Debriefings ist die Erkennung und Verbesserung von kognitiven Konzepten der Teilnehmer und der praktischen Performance am Simulator mit dem Ziel, diese Erkenntnisse in der Handlungsrealität am kranken Menschen und im Behandlungsteam umzusetzen - gleich morgen am eigenen Arbeitsplatz. So hat Ethik als Wissenschaft, die sich mit dem richtigen menschlichen Handeln befasst, im Gegensatz zum Moralisieren einen aufklärenden und transparenten Charakter und achtet dabei wesentlich auf die Wertschätzung aller Personen. In der Zusammenschau bieten Ethik und als konkrete Facette "talk" ein wohltuendes lebenspraktisches Kontrastprogramm und eine Lösung gegen den schädlichen Mainstream des Moralismus, der tagtäglich und allgegenwärtig Präsenz zeigt - sowohl auf der Mikroebene zwischen einzelnen Menschen als auch auf der Makroebene in der breiten öffentlichen Diskussion.

Jeder Einzelne von uns kann etwas tun - nicht nur irgendwelche Institutionen. Jeder Einzelne kann in den Debatten im Alltag durch sein Reden oder Verhalten etwas bewirken: "Muss ich jetzt wieder so emotional reagieren?", "Hat der andere mit seinem Standpunkt vielleicht doch recht?", "Bin ich immer in der moralisch überlegenen Situation?" Wir sollten uns häufiger mal hinterfragen - dabei dürfen wir keinesfalls den Humor vergessen, denn es kann sehr wohltuend sein, sich selbst auf den Arm zu nehmen. Humor erweitert die Sichtweise und ist meines Erachtens ein gutes Antidot gegen Moralismus! Außerdem sollten wir unbedingt wieder lernen, mehr Dissens zuzulassen. Wir müssen nicht immer zu einem Konsens kommen [2]. Weltanschauungen differieren eben. Wir müssen wieder lernen, dass es einen wirklichen Pluralismus gibt und unterschiedliche Meinungen existieren.