Dank immer besserer medizinischer Möglichkeiten erreichen Kinder mit angeborenen Fehlbildungen heute ein Alter, in dem sie beim niedergelassenen Kinderarzt vorstellig werden. Ihre Bedürfnisse sind oft komplex und viele Fragen ihrer Eltern weichen von den üblichen "Standardthemen" ab. Damit diese Kinder gesunde Erwachsene werden, ist der Kinderarzt gefragt, auch auf ungewöhnliche Fragen eine Antwort zu finden.

In Europa sind angeborene Fehlbildungen die häufigste Ursache für Säuglingssterblichkeit [1]. Sie tragen zudem am stärksten zur Morbidität im Kindesalter und zu langfristigen Behinderungen bei Kindern und Jugendlichen in Europa bei, schränken die Betroffenen in ihrer Lebensqualität und in ihrer gesellschaftlichen Teilhabe ein. Der Bedarf der Betroffenen an Gesundheitsleistungen nimmt in der Folge zu, etwa 33 % aller pädiatrischer Krankenhauseinweisungen sind mit angeborenen Fehlbildungen verbunden.

Angeborene Fehlbildungen im Kontext seltener Erkrankungen

In Deutschland haben pro Jahr etwa 50.000 Neugeborene eine angeborene Fehlbildung. Trotz dieser hohen Gesamtzahl treten die einzelnen Fehlbildung meist selten auf mit einer Geburtenprävalenz von weniger als 1:2.000 Neugeborenen [2]. Aufgrund der Seltenheit und der Schwere der Fehlbildungen stellen sie eine hohe Herausforderung an die Behandlung aller darin einbezogenen Fachdisziplinen dar.

In einem entsprechenden Zentrum beginnt die Versorgung der Familien bereits vorgeburtlich durch die sonografische Diagnostik und gegebenenfalls notwendige Intervention am Fetus. Neben oft aufwendigen Korrekturoperationen ist häufig unmittelbar nach der Geburt - je nach Fehlbildung - zunächst eine Stabilisierung mittels komplexer intensivmedizinischer Maßnahmen erforderlich. Da sich die stationäre Versorgung seltener angeborener Fehlbildungen in den vergangenen Jahrzenten stetig verbessert hat, steigen die Überlebensraten und viele dieser Kinder kommen mit ihren Eltern zur Betreuung in den Bereich der niedergelassenen Kinderärzte. Neben den üblichen Leistungen wie den Vorsorgeuntersuchungen, Impfungen und der Versorgung der Erkrankungen des Kleinkindes- und Kindesalters haben diese Patienten einen großen Bedarf für zusätzliche medizinische/ärztliche Behandlungen, der die Kapazität niedergelassener Kinderärzte oft übersteigt. Hinzu kommt die Unterstützung hoch belasteter Familien, deren Belange besonders und spezifisch sind.

Fragen aus dem Alltag am Beispiel der Ösophagusatresie

"Wie lernt unser Kind schlucken?" oder "Was können wir tun, wenn bei unserem Kind Essen in der Speiseröhre stecken bleibt?" Diese Fragen stellen Eltern häufig ihrem Kinderarzt, nachdem ihr Kind nach operativer Korrektur einer Ösophagusatresie aus der Klinik entlassen wurde. Im Schnitt betreut eine kinderärztliche Praxis in Deutschland zwischen 2.000-3.000 Kinder. Die angeborene Ösophagusatresie tritt bei einer in 2.000-4.000 Geburten auf - es kann also leicht sein, dass ein Kinderarzt nur eine einzige Familie betreut, die ihm diese Fragen stellen wird.

Darauf die richtige Antworten zu finden, die zudem alle Eventualitäten des Krankheitsbildes einschließen, ist selbst für einen erfahrenen Kinderchirurgen nicht immer einfach. Denn der Verlauf und die möglichen Komplikationen bei dieser Fehlbildung werden von vielen Faktoren beeinflusst. Neben der Art der angeborenen Ösophagusatresie und möglicher Begleitfehlbildungen hängt etwa das Erlernen von Schlucken und Essen unter anderem vom operativen Ergebnis der Korrektur und den Folgen der notwendig gewesenen medizinischen Eingriffe und Behandlungen ab. Wo findet sich nun die richtige Information? Wer kann den betreuenden Ärzten und den Familien helfen?

Ein guter Anfang können passende Selbsthilfeorganisationen sein. So liest man auf der Internetseite der Selbsthilfeorganisation für Kinder und Erwachsene mit kranker Speiseröhre (KEKS e.V.), dass Komplikationen im Bereich der Speiseröhre sowie des Magen-Darm-Trakts und der Atemwege bei bis zu 75 % aller von einer Ösophagusatresie betroffenen Menschen zu Problemen beim Essen führen können. Die Folge sind Schluckbeschwerden, Husten, Würgen, Erbrechen, sehr langsames Essen, eine Abneigung dagegen, etwas in den Mund zu nehmen, oder auch Verweigerung von einzelnen Nahrungsmitteln. KEKS e.V. zählt dafür vielfältige Ursachen auf, die in der Speiseröhre, dem Mund-Rachen-Raum und den Atemwegen liegen können. "Steckenbleiber" (Bolusimpaktionen) etwa haben ihre Ursache in der Fehlbeweglichkeit (Dysmotilität) und/oder einer Engstelle (Stenose/Striktur) der Speiseröhre. Eine zusätzlich bestehende Entzündung der Speiseröhre (Ösophagitis) verschärft das Problem. Ursachen für die Entzündung der Speiseröhre wiederum können Reflux und/oder eine allergische Komponente (eosinophile Ösophagitis) sein. Welche Komplikation dann im Einzelfall vorliegt, kann häufig nur der Spezialist beurteilen.

Auf ihrer Internetseite gibt KEKS e.V. aber auch Handlungsempfehlungen für Kinder und Eltern, wenn das Kind im häuslichen Umfeld einen "Steckenbleiber" hat. Hätten Sie gewusst, dass hier ein Hüpfball (kleine Kinder), ein Trampolin (große Kinder), vom Stuhl springen, rennen oder hüpfen helfen können? Sie sollten als Kinderarzt in der Lage sein, die Eltern einzuweisen, dass sie in einer solchen Situation gegebenenfalls mit der hohlen Hand von unten nach oben bei ihrem Kind auf den Rücken klopfen sollten. Löst sich der "Steckenbleiber" nicht, rät KEKS e.V. dringend, das Kind in einer Klinik vorzustellen. Je jünger das Kind, desto früher. Bei Kindern unter einem Jahr sollte das möglichst spätestens nach 4-6 Stunden geschehen. Ab dem Schulalter ist dies auch abhängig von der Tageszeit. Allerdings müssen die Kinder bei Auftreten einer Zyanose oder starker Atemnot sofort ins Krankenhaus (dann mit Notarzt). Ein Kind sollte mit einem "Steckenbleiber" niemals schlafen gelegt werden, bevor sich der "Steckenbleiber" gelöst hat!

Diese Informationen hat KEKS e.V. nicht allein erarbeitet. Es sind Beobachtungen und Handlungsempfehlungen, die in einem konstruktiven Dialog zwischen den betroffenen Familien und Spezialisten (Kinderchirurgen, Anästhesisten, Gastroenterologen, Pulmonologen, Neonatologen etc.) im Laufe der vergangenen drei Jahrzehnte erarbeitet wurden.

Fragen aus dem Alltag am Beispiel von Anorektal-Fehlbildungen

"Meine Tochter hat seit einer Woche zunehmende Bauchschmerzen trotz regelmäßigem Stuhlgang." So könnte die Symptombeschreibung einer Mutter zu den Bauchschmerzen ihrer 13-jährigen Tochter lauten, die mit einer Anorektal-Fehlbildung geboren wurde. Obwohl der Stuhlgang kein Problem ist, besteht ein Zusammenhang zwischen den zunehmenden Bauchschmerzen und der angeborenen Fehlbildung.

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Hätten Sie gewusst, dass Trampolin springen ein effektives Mittel ist, um bei Ösophagusatresie stecken gebliebene Nahrung aus der Speiseröhre zu entfernen?

Auf ihrer Internetseite schreibt die Selbsthilfe für Menschen mit Anorektal-Fehlbildungen und Morbus Hirschsprung (SoMA e.V.), dass bei weiblichen Jugendlichen in diesem Alter an eine assoziierte Begleitfehlbildung im Bereich der Scheide oder der Gebärmutter gedacht werden muss (sog. Doppelbildungen), die den Abfluss des Menstruationsblutes stören kann. Dieses und andere Beispiele zeigen, wie zahlreich die im ambulanten Bereich auftretenden Komplikationen von Kindern mit angeborenen Fehlbildungen sein können und wie schwierig es sein kann, niedergelassenen Kinderärzten die richtige Information im richtigen Moment kompakt und direkt zur Verfügung zu stellen.

Seltene Fehlbildungen im ambulanten Bereich

In den vergangenen Jahren wurde für viele seltene und komplexe Fehlbildungen Nachsorgekonzepte entwickelt, die sich an den Komplikationen und Bedürfnissen der Betroffenen orientieren. Dazu hat zum einen der sich fortwährend entwickelnde Bereich der klinischen Medizin geführt, zum anderen der Zusammenschluss gut strukturierter Selbsthilfeorganisation für Kinder und Erwachsene. Beispiele sind die bereits oben genannten Selbsthilfeorganisation für Kinder und Erwachsene mit kranker Speiseröhre KEKS e.V., die Selbsthilfe für Menschen mit Anorektal-Fehlbildungen und Morbus Hirschsprung SOMA e.V. oder auch der Verein Zwerchfellhernie bei Neugeborenen - CDH e.V.

Diese Organisationen dokumentieren gezielt, systematisch und zentrumsunabhängig die Erfahrung von Betroffenen und deren Familien im ambulanten Bereich und führen diese in den Dialog mit den behandelnden Ärzten im klinischen Bereich. Daraus entstanden etwa die "Nachsorgehefte", die analog zum Kinderuntersuchungsheft ("Gelbes Heft") spezielle Nachsorgeuntersuchungen für die verschiedenen Altersabschnitte empfehlen. Im Bereich der Anorektal-Fehlbildungen und des Blasenekstrophie-Epispadie-Komplexes wurde dieses Nachsorgeheft durch die systematische Erhebung klinischer Daten in Zusammenarbeit von spezialisierten Ärzten mit den Patientenorganisationen durch das BMBF-geförderte Netzwerk CURE-Net generiert [3, 4]. Neben der Bereitstellung derartiger Nachsorgehefte für den niedergelassenen Kinderarzt ist die Verfügbarkeit und die Erreichbarkeit von Experteninformation von größter Wichtigkeit, um auch dem einen unter 3.000 Kindern in der Praxis die Behandlung und Betreuung zukommen zu lassen, die es verdient.

Was in Zukunft passieren muss

Derzeit gibt es in Deutschland kein übergeordnetes Organ, das gezielt die Versorgungsforschung im Bereich angeborenen Fehlbildungen fördert und unterstützt. Die in den vergangenen Jahren erzielten Fortschritte in der ambulanten Behandlung und Langzeitbetreuung der betroffenen Kinder und ihrer Familien sind dem Engagement einzelner Ärzte sowie der gut strukturierten Patientenorganisationen zu verdanken.

Durch die COVID-19-Pandemie sind die Belange von Kindern mit angeborenen Fehlbildungen noch mehr in den Hintergrund getreten als zuvor. Die aktuelle Ausschreibung des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) zur Etablierung eines übergeordneten deutschen Zentrums für Kinder- und Jugendgesundheit sieht eine Inklusion angeborener Fehlbildungen nicht vor. Eine übergeordnete Dachorganisation neben der ACHSE e.V., die sich gemeinsam mit Ärzten und Betroffenen gezielt um die Versorgungsforschung zu angeborenen Fehlbildungen kümmert, würde einer modernen medizinischen Gesellschaft gut zu Gesicht stehen. Denn wie eingangs erwähnt, tragen angeborene Fehlbildungen am stärksten zur Morbidität im Kindesalter und zu langfristigen Behinderungen bei Kindern und Jugendlichen in Europa bei. Unsere Gesellschaft sollte sich daran messen, ob sie es schafft, Kindern mit angeborenen Fehlbildungen ein Leben zu ermöglichen, das "so gesund" wie möglich ist. Wenn es uns gelingt, dass Kinder mit angeborenen Fehlbildungen "so gesund wie möglich" heranwachsen können, ermöglichen wir diesen Kindern ein "selbstbestimmtes Leben" im Erwachsenenalter.