Frage: Proteingehalt und Aminosäurezusammensetzung der Muttermilch unterliegen dynamischen Veränderungen. Wie beeinflussen die neuesten Forschungsergebnisse dazu das Stufensystem in der Säuglingsmilch?

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Expertenantwort: Muttermilch liefert fast alle Nährstoffe in optimaler Menge und Qualität für ein normales Wachstum und eine gesunde Entwicklung des Babys in den ersten sechs Lebensmonaten. Sie ist eine dynamische Flüssigkeit, deren Zusammensetzung sich vor allem in den ersten 4-6 Monaten der Laktation erheblich ändert [1] - insbesondere bei der Proteinkonzentration.

Der Molkenproteinanteil ist im Kolostrum mit etwa 90 % sehr hoch [2]. In reifer Muttermilch beträgt das Verhältnis Molkenprotein zu Kasein 60:40 und fällt im Laufe der Laktation auf 50:50 ab. Eine Metaanalyse von Studien zu Muttermilch ergab, dass der Proteingehalt im Laufe der Laktation stetig abnimmt, angepasst an die abnehmende Wachstumsgeschwindigkeit des Babys und dem damit abnehmenden Proteinbedarf bezogen auf das Körpergewicht [2].

In herkömmlicher Säuglingsmilch (SMN) ist der Proteingehalt viel höher als in Muttermilch und in der Folgemilch (Stufe 2) sogar noch höher als in Anfangsnahrung (Stufe Pre/1) - also genau umgekehrt zu Muttermilch. Mit der Beobachtung, dass gestillte Babys im Schulalter seltener übergewichtig sind als nicht gestillte [3], geriet die hohe Proteinaufnahme mit SMN in Verdacht, zu einer metabolischen Fehlprogrammierung zu führen, die langfristig das Adipositasrisiko erhöht. Eine Studie im Rahmen des European Childhood Obesity Projects bestätigte den Verdacht: Babys, die mit SMN mit einem hohen Proteingehalt ernährt wurden, hatten noch mit einem Alter von zwei Jahren ein höheres Gewicht und mit sechs Jahren ein fast dreimal höheres Adipositasrisiko als gestillte Babys oder Babys, die eine weniger proteinreiche SMN erhalten haben [4, 5].

In einer anderen Studie nahmen hingegen mit Niedrigprotein-SMN ernährte Babys mehr zu als gestillte Babys - Babys der Kontrollgruppe, die SMN mit höherem Proteingehalt erhalten hatten, dagegen nicht [6]. Qualität zählt also mehr als Quantität. Die Proteinqualität der SMN ist umso höher, je mehr das Aminosäureprofil der SMN dem der Muttermilch und die Plasma-Aminosäurespiegel des Babys denen gestillter Babys ähneln.

Paradigmenwechsel umgesetzt

In zwei Studien, in denen Babys zwischen dem dritten und zwölften Lebensmonat eine SMN mit ≤ 1,65 g/100 kcal hochwertiges Protein bekamen, wuchsen diese Kinder ebenso wie Gestillte [7, 8]. Babys adipöser Mütter hatten im Gegensatz zu Babys, die SMN mit einem höheren Proteingehalt bekamen, keine beschleunigte Gewichtszunahme [7]. Sogar im Alter von zwei Jahren waren Gewicht und BMI der Niedrigproteingruppe noch geringer als bei der Gruppe mit proteinreicher SMN und ähnlich wie bei gestillten Babys.

Die Erkenntnisse aus Muttermilchforschung und klinischen Studien haben zu Änderungen der pädiatrischen Empfehlungen geführt. Seit 2014 gilt ein niedriger Gehalt von 1,8 g Protein pro 100 kcal quasi als Optimum für Anfangsnahrung [9]. In Folgemilch ist seit 2017 für Babys in Europa ein Proteingehalt von 1,6 g/100 kcal erlaubt [10]. Das ermöglicht die Umsetzung des Paradigmenwechsel des Stufensystems in SMN: Der Proteingehalt kann dem dynamischen Proteingehalt in Muttermilch angepasst werden und in Folgemilch geringer als in Anfangsnahrung sein. Wenn also keine Muttermilch verfügbar ist, sollte SMN mit niedriger, altersangepasster Proteinmenge und hoher Proteinqualität bevorzugt werden.