Als Kind von seiner Mutter mit Liebe überschüttet, muss Manuel erleben, wie sich seine Mutter zur unberechenbaren Nymphomanin entwickelt und schließlich die Familie verlässt. Nicht zuletzt aufgrund der gemeinsamen Hautfarbe fühlt er sich ihr trotz allem schicksalhaft verbunden.

Im Jahr 1977 macht sich Manuel von Mailand auf den Weg nach Andalusien, der Heimat seiner Mutter. Während seiner Kindheit war über deren Herkunft stets geheimnisvoll geschwiegen worden. Der erwachsene Mann hofft nun, im kleinen Dorf El Almendral Spuren seiner großen und einzigen Liebe zu finden: seiner viel zu früh verstorbenen Mutter Aracoeli. Tatsächlich ist der Ort mittlerweile verlassen - umso lebendiger erstehen während der Reise Manuels Erinnerungen an die Zeit mit seiner Mutter und die Folgen ihres Todes wieder auf.

Der geheimnisvolle Bund der Haut

Aracoeli hatte sich als blutjunges Mädchen in einen italienischen Unterleutnant zur See verliebt und war ihm nach Rom gefolgt, wo sie sich in die gehobene Gesellschaft einlebte. Ihren Sohn Manuel überschüttet sie mit Zuneigung - und er vergöttert sie. Nicht zuletzt aufgrund ihrer äußerlichen Ähnlichkeit ist er überzeugt, dass beide auf besondere Art verbunden sind, hat er doch ihre dunkle Haut statt der hellen seines Vaters geerbt: "Ihre Geschichte war schon auf mich übertragen worden, als ich in ihrem Uterus heranwuchs, und zwar mithilfe der gleichen chiffrierten Botschaft, mit der meiner Haut die dunkle Färbung der ihren übertragen worden war."

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Elsa Morante wurde 1912 in Rom geboren, wo sie 1985 auch verstarb. Sie zählt zu den wichtigsten Vertreterinnen der italienischen Nachkriegsliteratur. Die Originalausgabe von "Aracoeli" erschien 1982, die deutsche Erstausgabe 1984.

Für wenige Jahre hat Manuel seine geliebte Mutter nahezu für sich allein, da sein Vater, mittlerweile zum Commandante aufgestiegen, häufig abwesend ist. Dann erfolgt die Geburt einer Schwester - die kurz darauf an einer Nierenfehlfunktion verstirbt. Diesen Schicksalsschlag wird die Mutter nie verwinden. Ihre Liebe zum Sohn schwindet - zunehmend empfindet sie ihn als lästig, nicht zuletzt aufgrund seines Äußeren: Hatten einst Passanten auf der Straße die Schönheit des Kindes gepriesen, wird Manuel nun immer unansehnlicher.

Doch wer sich am meisten verändert, ist Aracoeli selbst. Eine "geheimnisvolle Krankheit" ergreift von ihr Besitz, die das Kind Manuel verstört, seine Zuneigung aber nicht schmälern kann. Sie ignoriert zunehmend die eben erst erworbenen Umgangsformen der feinen Gesellschaft. Während der täglichen Spaziergänge stellt sie sich für männliche Passanten, die sie zuvor schüchtern-arrogant ignoriert hatte, aufreizend zur Schau. Anfangs erschrickt sie noch über ihr eigenes Verhalten. Doch mit der Zeit übt sie immer weniger Zurückhaltung: Wahllos verführt sie Männer, denen sie zufällig begegnet. Das Kind Manuel bemerkt die Anzeichen der Erregung in Blick, Stimme und Gesicht der Mutter - es "ist etwas verschwitzt, von blutroten Flecken übersät". Die plötzliche Veränderung stößt ihn ab, doch er kann sie nicht deuten.

Mit der Zeit zeichnet die "verborgene Lepra", wie der junge Manuel die "Krankheit" seiner Mutter für sich benennt, noch andere Spuren in Aracoelis Aussehen: "(…) dieses Gesicht wirkte heute, trotz seiner unreifen Züge, ausgemergelt, gelblich, wie vom Fieber ausgezehrt: nicht zuletzt, weil Aracoeli seit ein paar Tagen voll Unlust aß und an jeder Speise etwas auszusetzen fand."

Das ist kurz bevor seine Mutter eines Morgens verschwunden ist: Sie hat die Familie verlassen, um künftig in einem Bordell zu arbeiten. Noch ein einziges Mal wird Manuel seine Mutter sehen, einige Monate nach ihrem fluchtartigen Weggang: im Krankenhaus, kurz bevor sie an einem Gehirntumor verstirbt.

Schmerzhafte Obsession

Die Liebe, die der kleine Manuel von seiner Mutter empfangen hat, wird er nie wieder fühlen. Der erwachsene Mann empfindet sich als gescheiterte Existenz: Ungeliebt, hässlich und von gestörter Sexualität. Die einzige Möglichkeit, überhaupt noch irgendeine Art von Frieden mit sich und Aracoeli zu schließen, sieht er in der Reise an ihren Geburtsort.

Doch unterwegs überkommt ihn die Erinnerung an ein altes Märchen: Im Wald lebt ein unsterblicher Schneider, der nachts ausgewählten Menschen im Schlaf ein unsichtbares Schicksalshemd, wie eine zweite Haut auf den Leib näht, der niemand jemals entkommen kann. Und Manuel weiß genau, was ihm selbst auf den Leib genäht ist: "Niemals wirst du ein Gegenstand der Liebe sein für niemanden und niemals wirst du ein Gegenstand der Liebe sein!"