Die chronisch ischämische Herzkrankheit ist die häufigste Todesursache in Deutschland. Wie können Sie das Risiko für Herzinfarkt, Schlaganfall oder kardiovaskulären Tod bei scheinbar "gesunden Personen" berechnen und welche Konsequenzen ergeben sich daraus? Antworten gibt die aktualisierte ESC-Leitlinie zur Primärprävention.

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2021 hat die Europäische Gesellschaft für Kardiologie (ESC) eine neue Version der Leitlinie zur Primär- und Sekundärprävention kardiovaskulärer Erkrankungen veröffentlicht [1, 2]. Sie umfasst 78 Textseiten und zitiert 837 wissenschaftliche Publikationen. Der folgende Beitrag beleuchtet in erster Linie Hintergründe und was die Berechnung des individuellen kardiovaskulären Risikos zur Herleitung therapeutischer Konsequenzen bedeutet. Er beschränkt sich dabei auf die relevanten ESC-Empfehlungen in Bezug auf die "reine" Primärprävention, also für scheinbar "gesunde Personen". Diese sind definiert als Menschen ohne bekannte kardiovaskuläre Erkrankung, ohne Diabetes mellitus, ohne familiäre Hyperlipidämie und ohne chronische Nierenerkrankung.

Schrittweise und personalisiert vorgehen

Trotz aller Fortschritte in der Diagnostik und Therapie kardiovaskulärer Erkrankungen war im Jahre 2020 in Deutschland die chronisch ischämische Herzkrankheit (chronisches Koronarsyndrom) sowohl bei Frauen als auch bei Männern die häufigste Todesursache [3] (Tab. 1). Rechnet man den akuten Myokardinfarkt hinzu, starben rund 3-mal so viele Frauen und Männer an koronarer Herzerkrankung als an COVID-19 (Tab. 1). Diese Zahlen zeigen, dass die Bevölkerung hinsichtlich kardiovaskulärer Risikofaktoren und der Primärprävention noch wesentlich besser aufgeklärt werden muss [4]. Die Devise der neuen ESC-Leitlinie lautet, "schrittweise und personalisiert" anhand eines neuen Stufenprinzips vorzugehen - in Abhängigkeit vom individuell bestimmten Risiko.

Tab. 1 Die 10 häufigsten Todesursachen in Deutschland 2020 (Angaben in Tausend)

Die Empfehlungsklassen werden wie üblich angegeben (Tab. 2). Den einzelnen Klassen wird dann jeweils ein Evidenzgrad entsprechend der Belastbarkeit der Datenquellen zugefügt: A = mehrere randomisierte klinische Studien oder Metaanalysen; B = eine einzige randomisierte klinische Studie oder große nichtrandomisierte Studien; C = kleine oder retrospektive Studien oder Expertenmeinung [2]. Die Kombination aus Empfehlungsklasse und Evidenzgrad ergibt den Empfehlungsgrad.

Tab. 2 Empfehlungsklassen der ESC-Leitlinie (Evidenzgrade siehe Text)

1. Allgemeine Empfehlungen für alle Personen

Für alle Personen - also unabhängig von ihrem individuellen kardiovaskulären Risiko - gelten die Empfehlungen der "Stufe 1", um das Risiko für plötzliche und unerwartete kardiovaskuläre Ereignisse zu senken (Tab. 3). Weitere Empfehlungen zum Lebensstil, aber ohne Empfehlungsgrade, sind:

Tab. 3 Modifizierbare kardiovaskuläre Risikofaktoren: Zielwerte und Empfehlungsgrade für Allgemeinmaßnahmen in der Primärprävention, unabhängig vom individuellen Ausgangsrisiko (Stufe 1)
  • als Obergrenzen für den Bauchumfang sind bei Männern 102 cm und bei Frauen 88 cm angegeben;

  • moderater Kaffeegenuss (3-4 Tassen/Tag) ist wohl nicht schädlich;

  • für Vitamine bzw. "Nahrungsergänzungsmittel" gibt es keinen Wirkungsnachweis.

2. Spezielle Empfehlungen in Abhängigkeit vom individuellen 10-Jahres-Risiko

Von einer systematischen Berechnung des kardiovaskulären Risikos bei aysmptomatischen Männern < 40 und Frauen < 50 Jahren, die keine kardiovaskulären Risikofaktoren aufweisen, wird abgeraten (III C).

a. Neue Scores zur Berechnung des individuellen Risikos bei Männern ≥ 40 und Frauen ≥ 50

Zur Berechnung des individuellen Risikos, ein kardiovaskuläres Ereignis zu erleiden, gibt es schon lange eine ganze Reihe von Risikorechnern, z. B. den FRAMINGHAM- oder den PROCAM-Score [5, 6]. Da in die einzelnen Scores unterschiedliche Risikofaktoren mit verschiedenen Wichtungen eingehen, ergeben sich für ein und dieselbe Person leider oft widersprüchliche Risikoeinstufungen [5, 6].

Entsprechend der neuen ESC-Leitlinie soll nun bei allen scheinbar gesunden Personen mit mindestens einem kardiovaskulären Risikofaktor die Gefahr, im Verlauf der nächsten 10 Jahre ein fatales oder nicht-fatales Ereignis zu erleiden, berechnet werden (I B). Der ESC-Risikokalkulator SCORE der vorhergehenden Leitlinie wurde überarbeitet, er heißt jetzt SCORE2 [7] und gilt für Personen bis zu 69 Jahren (https://u-prevent.com/calculators/score2).

Für Personen ≥ 70 Jahre wurde der SCORE2-OP [8] ("older persons") eingeführt: https://u-prevent.com/calculators/score2OP.

Folgende Parameter gehen in beide Scores ein: Alter, Geschlecht, Nikotinkonsum, systolischer Blutdruck, Gesamt-, HDL- und LDL-Cholesterin. Ein Diabetes mellitus wird zusätzlich auch im SCORE2-OP abgefragt.

Beide Scores wurden jetzt regionalen Gegebenheiten angepasst: Deutschland gilt beispielsweise als Land mit moderatem Risiko, Frankreich und Spanien gelten als Länder mit niedrigem Risiko, Polen und die Türkei als solche mit hohem Risiko.

Mit dem SCORE2-Rechner wird das 10-Jahres-Risiko für einen Herzinfarkt, Schlaganfall oder kardiovaskulären Tod ermittelt, mit SCORE2-OP das 5- und 10-Jahres-Risiko dieser Ereignisse. Mit beiden Rechnern können Therapieziele hinsichtlich systolischem Blutdruck, LDL-Cholesterin und Nikotinstopp eingegeben werden. Das Programm zeigt dann automatisch die individuelle "number needed to treat" (NNT) an.

Männer ≥ 40 und Frauen ≥ 50 Jahren sollten über mediale Aufklärungsaktionen und Informationen in allen Praxen ermuntert werden, ihren Blutdruck, ihr Gesamt-, HDL- und LDL-Cholesterin sowie ihren HbA1c, z. B. in Apotheken oder in Praxen, bestimmen zu lassen. Danach können sie ihren persönlichen Risikoscore selbst oder mit Hilfe von Familienmitgliedern/des Freundeskreises online schnell berechnen (siehe o. g. Links). Es ergeben sich dann die in Tab. 4 aufgeführten Risikokategorien.

Tab. 4 Risikokategorien in der Primärprävention

Für Personen mit niedrigem bis moderatem Risiko gelten die unter Stufe 1 genannten Modifikationen des Lebensstils (Tab. 3), eine zusätzliche spezielle medikamentöse Therapie ist meist nicht erforderlich. Bei Personen mit hohem Risiko sollte zusätzlich zu Stufe 1 eine medikamentöse Therapie der Risikofaktoren in Erwägung gezogen werden, bei sehr hohem Risiko wird eine zusätzliche medikamentöse Therapie der Risikofaktoren grundsätzlich empfohlen (I B).

Risikomodifikatoren

Für Personen < 50 Jahren mit einem Risiko < 7,5%, für Personen im Alter von 50-69 Jahren mit einem Risiko < 10% und bei Personen ≥ 70 Jahren mit einem Risiko ≥ 7,5% sollte das zunächst anhand der neuen Scores berechnete Risiko für die individuellen therapeutischen Ziele durch sog. Risikomodifikatoren "reklassifiziert" werden (= "wahres" Risiko).

Koronarer Kalkscore: Im Vordergrund der vielen möglichen Risikomodifikatoren steht die Messung des von den traditionellen Risikofaktoren unabhängigen koronaren Kalkscores (CAC). Dieser kann mit dem Herz-CT - ohne Kontrastmittelapplikation mit einer Röntgendosis von < 1 mSv - zuverlässig das zunächst berechnete kardiovaskuläre Risiko (Tab. 4) höher oder niedriger einstufen ("Reklassifizierung zum wahren Risiko"). So kann bei einem Kalkscore von 0 das gemäß Tab. 4 berechnete Risiko in Wahrheit niedriger [9] oder z. B. bei einem Kalkscore von über 1.000 in Wahrheit höher [10] liegen.

Der Kalkscore wird insbesondere empfohlen, wenn die Risikoabschätzung bei wichtigen Entscheidungen im Grenzbereich zwischen "niedrig und hoch" oder zwischen "hoch und sehr hoch" liegt (IIb B) (Tab. 4). Dies kann vor allem bei jüngeren Personen hilfreich sein, um eine Atherosklerose frühzeitig zu erkennen [11, 12]. Während der koronare Kalkscore ein guter Prädiktor für das Auftreten kardiovaskulärer Ereignisse ist, können keine Rückschlüsse auf das Vorliegen von Koronarstenosen gezogen werden. Ob die hierzu erforderliche nichtinvasive CT-Koronarangiografie (mit Kontrastmittel) eine Reklassifizierung des Risikos über den koronaren Kalkscore hinaus bewirken kann, ist nicht bekannt [2].

Leider gibt die ESC-Leitlinie keine Empfehlungen, wie man die Risikomodifikatoren in den SCORE2 und den SCORE2-OP-Score quantitativ integrieren kann. Hierzu könnten andere Scores, z. B. der MESA-Score [10], hilfreich sein (https://go.sn.pub/HRkck9). In den US-Leitlinien wird bei einem Kalkscore von > 100 ein Statin kategorisch empfohlen [13, 14].

Carotis-Sonografie: Die Sonografie der Halsschlagadern ist bei "zerebral asymptomatischen" Personen - also im Rahmen der Primärprävention - keine Leistung der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) und somit eine individuelle Gesundheitsleistung (IGeL). Die Messung der Intima-Media-Dicke gilt heute als obsolet und wird nicht mehr empfohlen [1]. In den für Deutschland gültigen S3-Leitlinien wird eine Statingabe bei "zerebral asymptomatischen" Personen erst ab einem Stenosegrad von ≥ 50% empfohlen [15]. In einer "zerebral asymptomatischen" Gruppe mittleren Alters ist aber nur in ca. 0,5% mit einem solchen Befund zu rechnen [16].

Da die prognostische Aussagekraft von Carotis-Plaques hinsichtlich des Auftretens jeglicher kardiovaskulärer Ereignisse bislang nicht so gut untersucht ist wie die des koronaren Kalkscores ("CAC scoring is the best-established imaging modality to improve CVD risk stratification" [2]), wird die Carotis-Sonografie in den Leitlinien zur Reklassifizierung nur empfohlen, wenn das Herz-CT nicht in Betracht kommt (IIb B). Allerdings ist das Herz-CT zur Bestimmung des koronaren Kalkscores ebenfalls keine GKV-, sondern eine IGeL-Leistung.

Weitere Risikomodifikatoren

Als weitere Risikomodifikatoren können ethnische und genetische Faktoren (z. B. positive Familienanamnese) mit herangezogen werden, ebenso psychosoziale und sozioökonomische Umstände. Die Bestimmung des Knöchel-Arm-Index und der arteriellen Steifigkeit hingegen hat nur eine geringe Aussagekraft. Die Echokardiografie wird in diesem Zusammenhang aufgrund fehlender Daten nicht empfohlen. Der Stellenwert von Biomarkern wie C-reaktivem Protein, Troponin, natriuretischen Peptiden und des Lp(a) muss im Kontext von Risikomodifikatoren noch weiter untersucht werden. Von der routinemäßigen Bestimmung potenzieller Risikomodifikatoren, z. B. genetischer Risikoscores, Serum- oder Urin-Biomarker, Gefäßtests oder bildgebende Verfahren (mit Ausnahme des koronaren Kalkscores oder der Carotis-Sonografie), wird abgeraten (III B).

b. Therapieziele für Blutdruck und LDL-Cholesterin je nach individuellem Risiko

Bei Personen mit niedrigem bis moderatem Risiko reicht meist die Stufe 1 (Tab. 3).

Bei hohem oder sehr hohem Risiko stehen die Zielwerte für den Blutdruck und das LDL-Cholesterin im Vordergrund: Diese müssen ggf. durch eine geeignete medikamentöse antihypertensive bzw. lipidsenkende Medikation erreicht werden. Zu beachten ist, dass sich Personen auch ohne Medikamente in eine Kategorie niedrigeren Risikos begeben können, wenn sie z. B. aufhören, zu rauchen.

Zielwerte für Personen unter 70 Jahren mit hohem Risiko:

  • systolischer Blutdruck < 130 mmHg (I A)

  • LDL-C < 70 mg/dl (< 1,8 mmol/l) (IIa C)

Zielwerte für Personen unter 70 Jahren mit sehr hohem Risiko:

  • systolischer Blutdruck < 130 mmHg (I A)

  • LDL-C < 55 mg/dl (< 1,4 mmol/L) (IIa C)

Für Personen ≥ 70 Jahren werden bezüglich des Blutdrucks (I A) und LDL-Cholesterins dieselben Therapieziele genannt, wenn auch für das LDL-Cholesterin auf einem niedrigeren Empfehlungsgrad (IIb B).

In den neuen ESC-Leitlinien werden Menschen mit Diabetes mellitus nicht zur Gruppe der scheinbar "gesunden Personen" gerechnet. Für diese Patienten wurde ein eigener Risikokalkulator entwickelt: https://u-prevent.com/calculators/advanceScore.

In der Diagnostik des Diabetes mellitus wird der Nüchternblutglukose und dem HbA1c der Vorzug gegeben, der orale Glukosetoleranztest steht im Hintergrund. Für Personen mit Diabetes mellitus Typ 2 ohne bekannte kardiovaskuläre Erkrankung wird ein HbA1c < 7% (I A) oder sogar < 6,5% (IIa B) empfohlen. Die Einstellung des Blutdrucks und des LDL-Cholesterins erfolgt in Analogie zu den scheinbar "gesunden Personen" (s. o.).

Von einer antithrombotischen Therapie (z. B. niedrig dosiertes ASS) bei niedrigem/moderatem oder hohem Risiko wird abgeraten (III A). Bei Personen mit sehr hohem Risiko kann im Einzelfall in Abhängigkeit vom ischämischen und Blutungsrisiko - in Übereinstimmung mit den US-Empfehlungen [17] - entschieden werden.

Neu in den Präventionsleitlinien sind Empfehlungen für Personen mit (sehr) hohem kardiovaskulärem Risiko, Regionen mit hoher Luftverschmutzung über längere Zeit zu vermeiden (IIb C). Neu ist darin auch die Forderung an die Politik, sich gegen das Fortschreiten des Klimawandels einzusetzen.

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Prof. Dr. med. Sigmund Silber

Kardiologie Zentrum München