Menschen, bei denen eine HIV-Infektion erst spät erkannt wird, haben auch heute noch ein deutlich erhöhtes Sterberisiko. Erfahungen aus Hausarztpraxen zeigen aber: Viele "Late Presenter" waren zuvor in Behandlung, ohne dass auf HIV getestet wurde.

Als "Late Presenter" in Zusammenhang mit HIV gelten Patientinnen und Patienten, die bei der Erstdiagnose ihrer Infektion bereits eine CD4+-Zellzahl von weniger als 350 pro Mikroliter und/oder eine AIDS-definierende Erkrankung aufweisen. Solche Fälle sind auch bei uns keineswegs selten. Bundesweit geht man davon aus, dass ein Drittel bis zur Hälfte aller HIV-Erstdiagnosen - die jährliche Gesamtrate liegt bei fast 90.000 - erst in einem solchen späten Stadium gestellt werden.

Warum verzögert sich die Diagnostik?

Der Berliner Infektiologin Dr. Anja Masuhr zufolge sind die Gründe für die Verzögerung vielfältig. Bei den Patienten liege es oft am fehlenden Risikobewusstsein, z. B. wenn sie mit wechselnden Partnern geschlafen haben, ohne sich zu schützen. Andere sind sich des Risikos bewusst, gehen aber mit verdächtigen Symptomen nicht zum Arzt, aus Angst vor der HIV-Diagnose und der damit verbundenen Stigmatisierung. Statistiken zeigen jedoch, dass viele der Late Presenter in den Jahren vor der Diagnose sehr wohl in ärztlicher Behandlung waren.

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© mapo, Stock Adobe

Wichtig, aber in der Praxis häufig nicht erhoben: Die Sexualanamnese.

Die Chance eines frühzeitigen HIV-Tests hätte also bestanden, dieser wurde aber nicht angeboten. Wo die Gründe in den Arztpraxen liegen, weiß man ebenfalls aus Studien: So scheuen sich viele Kolleginnen und Kollegen immer noch davor, eine Sexual-anamnese zu erheben. Oder sie denken nicht an HIV, weil sie glauben, den Patienten oder die Patientin gut zu kennen. Erschreckend häufig werden eigentlich hinweisende Symptome fehlgedeutet. Dazu gehören z. B. ein Herpes Zoster über mehrere Segmente oder eine orale Candidiasis, unerklärliche Lymphknotenschwellungen oder ein starker Gewichtsverlust innerhalb kurzer Zeit (Tab. 1 zeigt eine Liste mit Indikatorerkrankungen).

Tab. 1 Bei diesen Warnzeichen sollten Sie an einen HIV-Test denken*

"Immer noch sterben Menschen an AIDS!"

Ausdrücklich wies Masuhr darauf hin, dass bei verspäteter Diagnose einer HIV-Infektion auch im Jahr 2022 durchaus noch das Risiko bestehe, an AIDS zu sterben. In der Auguste-Viktoria-Klinik in Berlin-Schöneberg, wo sie als Infektiologin tätig ist, waren von 309 Patienten mit der frisch gestellten Erstdia-gnose HIV sage und schreibe 270 Late Presenter. 91% von diesen hatten bereits eine oder mehrere opportunistische Infektionen entwickelt, knapp 10% zeigten einen extrem schlechten Immunstatus. Auch die eigentlich hochwirksame antiretrovirale Therapie (ART) kann unter diesen Umständen an ihre Grenzen stoßen. "Eine vollständige Immunrekonstitu- tion ist in diesem Stadium viel schwieriger zu erreichen", mahnte die Fachärztin. Die Patienten müssten vergleichsweise häufig stationär behandelt werden - auch aufgrund von nicht AIDS-definierenden Erkrankungen -, hätten ein hohes Risiko für neurologische Defizite und eine deutlich eingeschränkte Lebensqualität. Dringend rät Masuhr zudem, bei Patienten mit positivem HIV-Test und einer bereits erkannten opportunistischen Erkrankung aktiv nach weiteren Infektionen zu suchen: "Wenn ich eine schon gefunden habe, finde ich häufig noch eine zweite!"

Nicht an AIDS gedacht: 3 Fälle aus der Praxis

Die folgenden Fälle sind aktuell, sie stammen aus der Berliner Schwerpunktpraxis von Dr. Anja Masuhr bzw. aus dem HIV-Center in Frankfurt. Ihnen ist gemeinsam, dass erst ein schwerer Krankheitsverlauf den HIV-Test getriggert hatte.

Fall 1: Falscher Corona-Verdacht. Bei einem Patienten, der sich im Sommer 2021 als Late Presenter in der Berliner Klinik vorgestellt hatte, war es nicht zuletzt der Corona-Pandemie geschuldet, dass der Verdacht auf HIV zunächst nicht aufgekommen war. Der 40-Jährige war zuvor schon zweimal beim Hausarzt gewesen, er litt an Fieber, Reizhusten und Luftnot. Zwei PCR-Tests auf SARS-CoV-2 fielen jedoch negativ aus. Wegen seines reduzierten Allgemeinzustands wurde der Patient in die Klinik eingewiesen.

Wie Masuhr berichtete, war die Lunge auskultatorisch unauffällig. Eine Blutgasanalyse ergab eine ausgeprägte Hypoxämie, das Röntgenbild der Lunge zeigte bihilär eine symmetrische interstitielle Zeichnungsvermehrung. Auf Nachfrage gab der Patient an, in letzter Zeit stark an Gewicht verloren zu haben, außerdem berichtete er über einen deutlichen Leistungsknick. Was er seinem Hausarzt verschwiegen hatte, waren wiederholte Episoden ungeschützten Geschlechtsverkehrs mit wechselnden Partnern.

Das Labor zeigte eine Panzytopenie, der CRP-Wert war kaum erhöht, umso mehr die LDH. In der Berliner Klinik kommt in solchen Fällen routinemäßig ein serologisches Panel zum Einsatz: Neben dem HIV-Test umfasst dieses Untersuchungen auf

  • Lues,

  • Hepatitis,

  • Toxoplasmose-IgG,

  • Kryptokokken-Antigen.

Mit Abstrichen von Anus, Urethra und Pharynx wurde zusätzlich auf Gonokokken und Chlamydien gescreent. Angesichts der Hypoxämie wurde zudem ein CT der Lunge angefertigt. Dieses ergab flächige, milchglasartige Infiltrate mit Aussparungen in der Lungenperipherie, den Radiologen zufolge vereinbar mit einer Pneumocystis-jirovecii-Pneumonie (PjP).

Der HIV-Test war wie erwartet positiv. Mit einer Viruslast von 350.000 Kopien/ml und einer CD4+-Zellzahl von nur noch 160/µl war die Erkrankung bereits weit fortgeschritten. Zur Behandlung der PjP erhielt der Patient Cotrimoxazol i. v. über 3 Wochen. Nach einer Resistenztestung konnte man zeitnah mit der ART loslegen, in diesem Fall mit einem Proteaseinhibitor-basierten Regime.

Fall 2: Überraschung beim Ausziehen. Ein 36-jähriger Mann wollte wissen, woher die livide Papel auf der Zunge kam, die er vor 4 Wochen bemerkt hatte, und die seitdem deutlich gewachsen war. Auf Nachfrage berichtete er, schon seit Längerem unter Durchfällen zu leiden, außerdem habe er im letzten Jahr deutlich an Gewicht verloren. Die Überraschung kam, als die Ärzte den Patienten baten, sich freizumachen: Der stark abgemagerte Körper war übersät mit rot-violetten Knötchen. Kein Zweifel, ein Kaposi-Sarkom. Der umgehend veranlasste HIV-Test war positiv, die Helferzellen waren unter die 200/µl-Marke gesunken, die Viruslast lag bei 130.000 Kopien/ml. Was noch auffiel, war ein positiver Toxoplasmose-Antikörpertiter.

Beim Kaposi-Sarkom gebe es durchaus ungewöhnliche Manifestationen, berichtete Masuhr. In diesem Fall hatte es sich auf der Zunge eingenistet. Aber auch Gastrointestinaltrakt und Lunge können befallen sein, so die Infektiologin. Ein Lungen-CT blieb glücklicherweise negativ, ebenso die Ösophagogastroduodenoskopie (ÖGD). Bei der Koloskopie stießen die Ärzte jedoch auf weitere Knötchen im Bereich des Rektums. Zeitnah wurde mit der ART begonnen, was den Tumor an der Zunge innerhalb von 2 Monaten deutlich kleiner werden ließ. Da die Hautläsionen jedoch kaum angesprochen hatten, wurde zusätzlich eine zytostatische Therapie initiiert. Da der Patient weiter Toxoplasmose-IgG positiv war, bekam er eine Prophylaxe mit Cotrimoxazol in Tablettenform.

Fall 3: Junge Frau mit "depressivem Stupor". Eine 36-jährige kachektische Patientin mit deutlich reduziertem Allgemeinzustand wurde in eine psychiatrische Klinik eingewiesen. Die Rettungskräfte hatten bei der Ghanaerin die Verdachtsdiagnose "depressiver Stupor" gestellt, auch weil die begleitende Tochter erzählt hatte, ihre Mutter sei in den letzten Monaten "nur noch gelegen". Vorausgegangen war eine Chemotherapie wegen eines Zervixkarzinoms. Die Pa-tientin fieberte und hatte starke Kopfschmerzen. Was noch auffiel, war eine ausgeprägte Anisokorie.

Der psychiatrische Kollege hatte sofort eine ZNS-Infektion im Verdacht. Vorsichtshalber führte er einen HIV-Test durch, der positiv ausfiel. Die hinzugezogenen Infektiologen veranlassten zusätzlich zur serologischen Routinediagnostik (s. o.) PCR-Untersuchungen des Liquors auf CMV, Varizellen und HSV. Mit einer Hirn-CT wurde angesichts der ausgeprägten ZNS-Symptomatik nicht lange gewartet. An den Stammganglien sowie am Mark-Rinden-Übergang des Großhirns entdeckten die Untersucher zwei ringförmige Abszesse mit Umgebungsödem, nach Masuhr ein "typisches Bild für eine zerebrale Toxoplasmose".

Tatsächlich war die PCR-Untersuchung auf Toxoplasmose schwach positiv, das Kryptokokken-Antigen negativ. Eine Toxoplasmose wäre jedoch auch bei negativer Liquor-PCR infrage gekommen, betonte Masuhr. Angesichts der geringen Sensitivität des Tests empfehle es sich, bei den typischen Befunden in der zerebralen Bildgebung in jedem Fall mit der Behandlung zu starten. Mit Sulfadiazin gebe es momentan Versorgungsprobleme, "deshalb geben wir Clindamycin in Kombi mit Pyrimethamin und Kalziumfolinat". Sehr gute Erfahrungen hat die Schwerpunktärztin außerdem mit Cotrimoxazol als Hochdosistherapie gemacht. Dieses werde in gleicher Dosierung wie bei der Pneumocystis-Pneumonie verabreicht, nämlich mit 4 × 2 g täglich.

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Die Expertin

Dr. med. Anja Masuhr

Leitende Oberärztin am Auguste- Viktoria-Klinikum, Klinik für Innere Medizin - Infektiologie, Berlin

Quelle: 18. Münchner AIDS- und COVID-Tage, 25.-27. März 2022