Weit über 300.000 Menschen mit afghanischem Migrationshintergrund leben in Deutschland. Ihre medizinische Betreuung kann insbesondere für Hausärztinnen und Hausärzte - oft die erste Anlaufstelle - eine echte Herausforderung sein. Worauf sollte geachtet werden? Ein Überblick.

In Deutschland lebten 2020 bereits schätzungsweise 309.000 Menschen mit afghanischem Migrationshintergrund [1]. Nach der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan haben sich Ende 2021 15 EU-Mitgliedstaaten, darunter auch Deutschland, bereit erklärt, 40.000 Menschen aus der Krisenregion am Hindukusch Asyl zu gewähren. Bereits zuvor hatten Tausende Afghaninnen und Afghanen in Deutschland offiziell Zuflucht gesucht - im Jahr 2021 waren es insgesamt 31.721 Asylanträge, Tendenz steigend. Afghanistan belegt nach Syrien Platz 2 im Ranking der Herkunftsländer mit den meisten Asylanträgen in Deutschland (Abb. 1) [2].

Abb. 1
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Absolute Anzahl an Asylanträgen von afghanischen Staatsangehörigen in Deutschland im Jahr 2021, stratifiziert nach Monaten (eigene Darstellung anhand von Daten des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge [3])

Die Integration dieser Geflüchteten in das deutsche Gesundheitssystem kann eine Herausforderung für die Ärzteschaft darstellen. Eine selektierte Literaturrecherche beleuchtet im Folgenden die Thematik, die etwa durch Unterschiede der Gesundheitssysteme der beiden Länder entsteht.

In Afghanistan wurde der öffentliche Zugang zu einer Vielzahl von Gesundheitsinformationen gesperrt. Aus diesem Grund wurde in diesem Artikel mit den wenigen zugänglichen Daten und offiziellen Schätzungen gearbeitet. Es muss außerdem beachtet werden, dass die hier beschriebenen Informationen nicht auf alle Menschen mit afghanischem Migrationshintergrund zutreffen.

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In Deutschland seltene Erkrankungen wie Malaria, die hauptsächlich von Mücken der Gattung Anopheles übertragen wird, sind in Afghanistan endemisch.

Das afghanische Gesundheitssystem

Afghanistan hat circa 38.042.000 Einwohnende (Stand 2019) [4] und ist durch ein stark unterentwickeltes und durch jahrzehntelangen Krieg zerstörtes Gesundheitssystem geprägt [5]. Die Gesundheitsversorgung erfolgt vor allem über staatliche Einrichtungen wie nationale und regionale Schwerpunktkrankenhäuser in Metropolen wie Kabul. Die größeren Provinzhauptstädte wie Herat, Kandahar und Mazar-e-Sharif verfügen über Provinzkrankenhäuser. Die Peripherie ist kaum bis gar nicht mit medizinischen Einrichtungen versorgt [6].

Laut Schätzungen des United Nations Office for the Coordination of Humanitarian Affairs (OCHA) hat ein Drittel der Bevölkerung keinen Zugang zu Gesundheitseinrichtungen innerhalb von zwei Stunden Entfernung [7]. Laut Weltgesundheitsorganisation (WHO) versorgen 2,8 Ärztinnen und Ärzte im Schnitt 10.000 Menschen, in Deutschland sind es im Vergleich 43 Ärztinnen und Ärzte pro 10.000 Einwohnende [4]. Die Lage wird zusätzlich durch eine steigende Anzahl von Angriffen auf Gesundheitseinrichtungen sowie ausbleibende Hilfszahlungen verschärft [8, 9].

Morbidität und Mortalität in Afghanistan

Die Lebenserwartung bei Geburt ist in Afghanistan laut Schätzungen der WHO mit 63,2 Jahren niedrig [4]. Die Müttersterblichkeit ist mit 638 pro 100.000 Lebendgeburten (im Vergleich zu Deutschland: 7 pro 100.000, Berichtsjahr 2017) und einer Kindersterblichkeit unter fünf Jahren mit 60 pro 1.000 Lebendgeburten (im Vergleich zu Deutschland: 4 pro 1.000, Berichtsjahr 2019) hoch [4]. Selbst die häufig lückenhaften epidemiologischen Daten zeigen, dass in Afghanistan für Europa und Deutschland ungewöhnliche Krankheitsbilder verbreitet sind.

Verbreitete Krankheitsbilder

Tuberkulose ist mit schätzungsweise 72.000 Neuinfektionen pro Jahr (2019) endemisch [4], ebenso Leishmaniose mit 38.430 Erkrankungsfällen in 2018 [10]. Auch Malaria-Erkrankungen sind mit 174.894 Fällen in 2019 anzutreffen [4]. Poliomyelitis ist in Afghanistan als eines der letzten zwei Länder weltweit mit 56 Fällen in 2020 endemisch [4]. Untererfassungen sind anzunehmen.

Typische impfpräventable Krrankheiten sind laut WHO/UNICEF Joint Reporting Form on Immunization (JRF) noch immer verbreitet: Es wurden z. B. 873.022 Masernfälle in 2019 und 149.962 Fälle in 2020 gemeldet; auch Mumps ist mit 269.630 Fällen (2020) verbreitet [11]. Als Ursache können unzureichende Impfquoten angeführt werden: Laut Schätzungen von WHO und UNICEF lag die Durchimpfungsrate bei Kindern im Jahr 2020 für Masern (MCV2) bei 43%, für Diphtherie-Tetanus-Pertussis (DTP3) bei 70%, und für Polio (Pol3) bei 75% [12].

Ein ernstzunehmendes Problem ist laut United Nations Office für Drugs and Crime auch der Drogenkonsum und die zunehmende Drogenabhängigkeit, insbesondere bezüglich Opiaten wie Heroin, Opium und opioiden Schmerzmitteln [13]. Insgesamt wird die Zahl der Drogenkonsumierenden zwischen 15 und 64 Jahren auf 660.000 bis 940.000 Personen geschätzt [13].

Psychische Belastungen

Hinzu kommen häufig unbehandelte, psychische Belastungssituationen durch Krieg, Gewalt, Tod und Unterdrückung. In einer quantitativen Studie unter afghanischen Flüchtlingen in Pakistan, die psychiatrische Hilfe in Anspruch nahmen (n = 1.500), wurden 61,2% der Patientinnen und Patienten mit PTBS diagnostiziert, 10,9% mit nicht-alkoholischer Substanzabhängigkeit, 5,4% mit Angststörungen [14]. Nach Schätzungen der WHO von 2018 erleiden 46% der verpartnerten Frauen in Afghanistan physische oder sexuelle Gewalt durch den Partner [4].

Ernährungslage

Auch die Ernährungslage mit schätzungsweise 14,3 Millionen Menschen in krisenhafter oder akuter Ernährungsunsicherheit [5] und einer der weltweit höchsten Werte von durch Unterernährung unterentwickelter Kinder unter fünf Jahren (36,6%) [10] beeinflusst den Gesundheitszustand der Bevölkerung. Circa 33% der Afghaninnen und Afghanen haben keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser, 62% keinen Zugang zu Sanitäranlagen [10].

COVID-19

Die Auswirkungen der COVID-19-Pandemie in Afghanistan sind unklar, die Fallzahlen werden vermutlich aufgrund der niedrigen PCR-Test-Kapazitäten und unklaren Impfquote unterschätzt [15]. Zu beachten ist, dass neben Janssen (Johnson & Johnson) und AstraZeneca/Oxford (Vaxzevria) auch in der EU nicht zugelassene Impfstoffe wie Sinopharm/BBIBP und Covishield verwendet werden. In diesem Fall sollte bei vollständiger Grundimmunisierung eine Auffrischung mit einem mRNA-Impfstoff im Abstand von mindestens drei Monaten erfolgen. Bei unbekanntem Impfstatus ist eine erneute Impfserie nötig [16].

(Gesundheits-)Bildung, Gesellschaft und Religion

Hinzu kommen fehlende Schulabschlüsse unter 70% der Männer und 90% der Frauen in Afghanistan [17], verbunden mit einer hohe Analphabetenrate, die laut Schätzungen zwischen 46% und 69% rangiert [10, 18]. Die Bildung und medizinische Versorgung von Frauen ist zudem nicht die Regel und hängt häufig von der Entscheidung des Mannes ab [19]. Nur 2% der Ärzteschaft und 15% der Krankenschwestern sind weiblich [7]. Der Bildungsstand spiegelt sich auch im Bereich der Gesundheitsaufklärung wider: So wird zum Beispiel in einer Querschnittsstudie unter Tuberkulose-Erkrankten von Informationsdefiziten bzgl. der Erkrankung, Symptomen und Infektionswegen und sozialer Stigmatisierung gesprochen [20].

Religiöse, kulturelle und gesellschaftliche Aspekte können ebenfalls eine große Rolle in der Gesundheitsversorgung von Menschen aus Afghanistan spielen, beispielsweise in Bezug auf die Familienplanung: Trotz des im Durchschnitt vorhandenen Wissens über Verhütungsmittel ist die Verwendung gering, Angst vor Nebenwirkungen und Zweifel an der Wirksamkeit können bestehen [21].

Es gibt zahlreiche weitere Aspekte, die eine Rolle in der medizinischen Versorgung spielen könnten und untersucht werden sollten. Integration ist möglich, wenn das System durch Wissen, Wertevermittlung und Verständnis nutzbar gemacht wird - dies gilt besonders für das Gesundheitssystem.

Es ist wichtig zu betonen, dass auch Fortschritte in der Gesundheitsversorgung Afghanistans verzeichnet wurden, die sich z. B. in der seit Jahrzehnten sinkenden Mütter- und Kindersterblichkeit zeigen.

Die Herausforderungen

Hausärztinnen und Hausärzte haben eine zentrale Rolle in der medizinischen Versorgung in Deutschland, weshalb sie als eine der ersten mit den beschriebenen Unterschieden und Herausforderungen konfrontiert werden. Hinzu kommt der meist fehlende und nicht erstattete Zugang zu professionellen Dolmetschenden in der Hausarztpraxis und somit der häufige Einsatz von Angehörigen der Patientinnen und Patienten als Dolmetschende, der Probleme bereiten kann [21, 22].

Zusammenfassend sollten unter anderem die in Tab. 1 beschriebenen Aspekte bei der medizinischen Behandlung und dem Umgang mit Patientinnen und Patienten mit afghanischem Migrationshintergrund beachtet werden.

Tab. 1 Beispiele für zu berücksichtigende Faktoren in der medizinischen Behandlung von Patientinnen und Patienten mit afghanischem Migrationshintergrund in Deutschland (Angaben sind nicht verallgemeinerbar)
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Dr. Judith Tillmann

Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Allgemeinmedizin und Ambulante Gesundheitsversorgung (IAMAG) der Universität Witten/Herdecke