Jeder dritte HIV-Infektion wird spät oder viel zu spät diagnostiziert. Das muss sich ändern. Die klinischen Situationen, Indikatordiagnosen und Laborbefunde, bei denen ein HIV-Test sinnvoll ist, sollte jeder Arzt kennen.

Seit einem Jahr "lernen" wir eine neue Krankheit: COVID-19. Wir lernen, welche Manifestationen sie haben kann und welcher Test in welcher Situation sinnvoll ist. Dasselbe Szenario hatten wir vor 40 Jahren, als AIDS eine neue Krankheit war. Man sollte meinen, jeder Arzt kennt diese nun, trotzdem liegt die Dunkelziffer noch nicht diagnostizierter HIV-Infektionen nach Schätzungen des Robert-Koch-Instituts in Deutschland bei etwa 10.800 [1]. Die Seltenheit der Erkrankung, die geringe Repräsentation in Studium und Fortbildung und der Gedanke "Das kommt in meiner Praxis schon nicht vor" sind die Gründe für eine verzögerte Diagnose.

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Fallbeispiel

Ein 48-jähriger Kaufmann wird wegen Atemnot, Fieber und trockenem Husten über die Notaufnahme aufgenommen. Zwei Wochen zuvor wurde durch einen Schwerpunktarzt eine HIV-Infektion diagnostiziert, da ein Gewichtsverlust von 5 kg und eine zunehmende Adynamie vorlagen. Die dort sofort begonnene antiretrovirale Therapie (ART) wurde bei einer CD4-Helferzellzahl von 38/µl (normal > 400/µl) und einer Virusmenge von 280.000 Kopien/ml gestartet. Es bestätigte sich eine Pneumocystis-Pneumonie, die innerhalb weniger Tage auf die Therapie mit Cotrimoxazol und Prednisolon ansprach. Allerdings ergaben sich in der zweiten Therapiewoche weitere Komplikationen und opportunistische Infektionen: Zusätzlich wurden eine CMV-Pneumonitis, eine atypische Mykobakteriose der Lunge und eine HIV-Enzephalopathie behandlungsbedürftig.

In der Vorgeschichte der letzten 5 Jahre wurden u. a. angegeben: Zoster Th12 rechts vor 2 Jahren, seborrhoische Dermatitis an Stirn und Wangen und eine ambulant behandelte Pneumonie vor 3 Jahren. Hätte in Zusammenschau mit der Zugehörigkeit zur Risikogruppe der Männer, die Sex mit Männern haben (MSM), eine dieser Erkrankungen zum HIV-Test und zu einem früheren Therapiebeginn geführt, dann hätten die schwerwiegenden Folgeerkrankungen und der fünfwöchige Krankenhausaufenthalt mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit verhindert werden können.

Risikogruppen und Risikokontakte

Nach wie vor bilden MSM die größte Gruppe von Menschen mit HIV-Infektion [1], gefolgt von heterosexuellen Frauen und Männern. Erst danach kommt der inzwischen sehr kleine Anteil von Menschen mit intravenösem Drogengebrauch. Doch die Zugehörigkeit zu einer Gruppe mit erhöhtem Infektionsrisiko sagt sehr wenig über das eigentliche Risiko aus und darf auf keinen Fall zu einer Stigmatisierung führen. Denn es ist wie immer: Es gibt in jeder Bevölkerungsgruppe sehr vorsichtige, vorsichtige und weniger vorsichtige Menschen.

Bei der Anamnese kommt es daher nicht nur darauf an, eine Idee von dieser Gruppenzugehörigkeit zu entwickeln. Viel wichtiger ist es, nach dem Verhalten bezüglich der Intimkontakte zu fragen. In dieser Hinsicht entsteht sehr häufig ein Missverständnis sowohl bei Medizinern wie auch bei den Patienten. Auch hier läuft es wie bei COVID-19: Gut zu verstehen ist, dass eine Begegnung ohne Mund-Nasen-Schutz die Aufnahme von infektiösem Aerosol begünstigt. Ebenso ermöglicht Intimverkehr ohne Kondom die Aufnahme HIV-haltiger infektiöser Genitalsekrete. Und bei beiden Erkrankungen gilt: Die infektiöse Kontaktperson sieht meist gesund aus. Die Annahme, man könne sich deswegen nicht anstecken, führt sehr häufig dazu, dass der Patient mit "Nein" antwortet, wenn er nur nach Risikokontakten gefragt wird, denn viele Betroffene sind sich keines Risikos bewusst.

Klug wäre folgende Definition: "Jeder kondomlose Sex mit einer Person, deren HIV-Testergebnis man nicht in Schriftform gesehen hat, kann als Risikokontakt angesehen werden". Sehr häufig wissen Menschen sehr wenig über neue, gelegentliche oder flüchtige Kontaktpersonen und manchmal nicht alles über den vermeintlich monogamen Partner.

Kluge anamnestische Fragen könnten also lauten:

  • Wissen Sie, ob sich Ihr Partner bzw. Ihre Partnerin auf HIV testen hat lassen?

  • Hatten Sie eventuell einen Intimkontakt im Urlaub, ein Urlaubsabenteuer?

  • Welche Länder haben Sie bereist?

  • Sind Sie alleine gereist?

Außerdem ist es immer gut, zu wissen, welchen Beruf die Patienten ausüben. Es gibt einige Berufsgruppen, die unter den HIV-Infizierten überrepräsentiert sind, z. B. Personal in der Gastronomie und im Mode-Einzelhandel, Flugpersonal, Gesundheitspersonal.

Symptome und Symptomkonstellationen

Eine HIV-Primärinfektion wird man dann erkennen, wenn bei Symptomen eines Drüsenfiebers (Morbus Pfeiffer) wie Schluckbeschwerden, Lymphknoten am Hals, Kopfschmerzen, Gliederschmerzen, Fieber und Abgeschlagenheit daran gedacht wird, dass das identische Krankheitsbild auch bei einer HIV-Infektion auftreten kann [2]. Wenn vorher ein Risikokontakt stattgefunden hat, dann sollte die Abklärung nicht nur ein Differenzialblutbild (Lymphozytose, Monozytose) und die EBV-Serologie, sondern auch einen HIV-Test beinhalten [3].

Das Heimtückische an der latenten HIV-Infektion ist, dass viele Patienten während dieser Zeit kein einziges Symptom haben und dennoch ansteckend sind. Erst wenn die Immunität nachlässt und die Zeit seit der Erstinfektion fortschreitet, können Allgemeinsymptome im Sinn einer B-Symptomatik mit Gewichtsverlust, Fieber unklarer Genese und Nachtschweiß auftreten. Zur Abklärung gehört natürlich auch in dieser klinischen Situation ein HIV-Test.

Warndiagnosen

Jede sexuell übertragene Erkrankung kann im "Doppelpack" mit einer HIV-Infektion erworben worden sein [4]. Die Diagnose beispielsweise einer Chlamydien-Urethritis sollte also zum Anbieten eines HIV-Tests auffordern. Dasselbe gilt für Gonorrhoe, Syphilis, neu aufgetretenen Herpes genitalis und Genitalwarzen.

Außerdem gibt es eine Reihe von Indikatordiagnosen, bei denen zu Unrecht häufig nicht an einen HIV-Test gedacht wird (Tab. 1, Abb. 1) [5]. Selbstverständlich können alle hier genannten Erkrankungen auch auftreten, ohne dass eine HIV-Infektion vorliegt. Die überzufällige Assoziation mit einer HIV-Infektion rechtfertigt jedoch den Aufruf zum HIV-Test.

Tab. 1 Indikatordiagnosen, bei denen ein HIV-Test erfolgen sollte
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Beispiel einer seborrhoischen Dermatitis: leichte Rötung und Schuppung; Prädilektionsstellen sind Stirn und Nasolabialfalten.

Laborbefunde, die stutzig machen sollten

Wir erleben es immer wieder, dass späte HIV-Infektionen bei Patienten vorkommen, die zur Abklärung einer neu aufgetretenen Thrombozytopenie, Leukopenie oder gar Trizytopenie bereits beim Internisten und/oder Hämatologen waren. Zur Abklärung einer Thrombopenie gehört ganz klar ein HIV-Test. Etwa 10-50% aller Menschen mit HIV-Infektion erleiden im Verlauf ihrer Erkrankung eine Thrombopenie unterschiedlichen Ausmaßes [7]. Die HIV-assoziierte Thrombopenie ähnelt dabei sehr der Immunthrombopenie (Morbus Werlhof): Große Milz, Zunahme der Megakaryozyten im Knochenmark und Nachweis von plättchenassoziierten Immunglobulinen.

Hämatologische Veränderungen durch die HIV-Infektion können durch die Infektion von Knochenmarkzellen einerseits und durch die Veränderung des Zytokinmilieus im Knochenmark andererseits erklärt werden [8, 9]. Zytopenien gehören zu den späteren Manifestationen im Verlauf der latenten HIV-Infektion, verschwinden aber häufig, wenn die ART rechtzeitig begonnen wird.

Ein weiterer Befund ist die polyklonale Hypergammaglobulinämie [10, 11]. Bei manchen HIV-Subtypen, insbesondere den Non-B-Subtypen A, C und E kommt es zu massiv ausgeprägten Formen der Hypergammaglobulinämie mit einer Erhöhung des Serum-Gesamteiweißes. Bei dieser Konstellation würde man zunächst an eine Monoklonaliät denken. Bleibt aber die Immunelektrophorese unergiebig, muss ein HIV-Test erfolgen.

Herkunft des Patienten

Etwa ein Fünftel der neuen HIV-Diagnosen in Deutschland wurden in anderen Ländern und Kontinenten erworben [1]. Nicht in allen Bundesländern ist die medizinische Untersuchung von Asylsuchenden und anderen Migranten bei der Einreise mit einem HIV-Test gekoppelt. Wegen der guten Behandelbarkeit der HIV-Infektion sollte ihnen jedoch ein HIV-Test großzügig angeboten werden, insbesondere bei Herkunft aus Afrika südlich der Sahara, Südostasien, Russland und den Sowjet-Nachfolgestaaten, insbesondere wenn gleichzeitig Hinweise auf Drogengebrauch vorliegen.

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Prof. Dr. med. Johannes R. Bogner

Klinikum der Universität München