Die Corona-Maßnahmen haben eine Schattenseite: Sie können Pandemischen Stress erzeugen und bei Patienten die Schmerzschwelle senken oder gar Schmerzen verursachen. Doch Hausärzte können helfen.

Alleine sein kann sich sehr unterschiedlich auf das Befinden auswirken. Bin ich alleine, weil ich es so will und mich damit wohlfühle? Oder bin ich alleine, weil andere nicht meine Gesellschaft wünschen? Bin ich alleine, weil ich mir bewusst mal eine Auszeit von Gesellschaft nehme? Oder bin ich alleine, weil es so vorgeschrieben ist? Inwieweit sich Alleine sein auf mein Befinden auswirkt, hängt von der jeweiligen Situation und den damit verbundenen Umständen ab. Das Befinden ist aber auch sehr davon abhängig, wie ich diese Situation bewerte. Verbinde ich es mit Ablehnung oder mit Zwang im weitesten Sinn, hat es einen deutlich anderen Effekt als bei Freiwilligkeit und dem Wissen um eigene Einflussmöglichkeiten.

Kontaktminimierung kann negative emotionale Folgen haben

Ein wesentliches Schlagwort der Corona-Pandemie ist "social distancing", soziale Distanziertheit. Als Verhaltensregel soll sie die Infektionsgeschwindigkeit verlangsamen und vulnerable Gruppen wie schwer Kranke und ältere Menschen schützen. Damit ist nicht nur Abstand, sondern auch Kontaktminimierung gemeint. Bei aller rationalen Vernunft kann sich soziale Distanziertheit emotional negativ auswirken. Sie kann von mir als unfreiwillig, aufgedrückt und Zwang erlebt werden und damit meinen Bedürfnissen oder meiner Bedürftigkeit entgegenstehen. So lange ich dann nicht bewusst Regeln brechen will, habe ich keine Wahl, keinen Einfluss. Wenn ich dann nicht trotzdem über ein gut funktionierendes soziales Umfeld verfüge, in dem ich mich auch unter den Bedingungen der Kontakteinschränkungen aufgehoben und getragen fühle, droht aus sozialer Distanziertheit soziale Isolation zu werden. Das Erleben unfreiwilliger sozialer Isolation geht mit der Erfahrung einher, mich ausgegrenzt zu fühlen [1].

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© Bonsales, Adobe Stock (Symbolbild mit Fotomodellen)

Isolation kann zu Stress führen und chronischen Schmerz generieren.

Im Rahmen der Pandemie-bedingten Einschränkungen wird virtuelle Kommunikation empfohlen und vielfach genutzt. Allerdings braucht es für virtuelle Sozialkontakte entsprechende Technik und Fertigkeiten. Nicht jeder kann sich diese leisten, kann diese bedienen und sie somit nutzen, um zumindest potenziell teilzuhaben [2]. Und keine noch so ausgefeilte virtuelle Welt stillt Bedürfnisse nach physischer Präsenz, Nähe und Berührung. Soziale Isolation bedeutet also Stress und kann krank machen.

Pandemischer Stress

Isolation ist deshalb auch ein Baustein im Konzept der Pandemischen Stressbelastung ([3]; s. Tab. 1). Soziale Isolation ist Stressbelastung und kann sich - alleine oder im Zusammenspiel mit anderen Stressbelastungsfaktoren - auf vielfältige Weise ausdrücken und sich ungünstig auf die Gesundheit auswirken [4]. Schmerz ist eine von mehreren Möglichkeiten, wie sich der Stress ausdrücken kann. Das gilt nicht nur für Pandemischen Stress alleine, das Konzept kann mit entsprechenden Anpassungen für andere Situationen gelten, in denen soziale Isolation wesentlicher Belastungsfaktor ist.

Tab. 1 Pandemischer Stress (nach Behring et al., 2020)

Unter Isolation empfinden Patienten Schmerzen intensiver als sonst

Der Zusammenhang von sozialer Isolation und Schmerz ist schon vor der Pandemie Gegenstand der Forschung gewesen. Im Vergleich zu Menschen, die sich sozial gut eingebunden und unterstützt fühlen, ist bei sozial isolierten Menschen die Schmerzschwelle niedriger, wird Schmerz intensiver und stärker erlebt und ist die Empfindlichkeit gegenüber Schmerzen größer. Zudem besteht ein höheres Risiko für chronischen Schmerz [5] und für die Verstärkung vorhandener chronischer Schmerzen [6]. Die Pandemie wirkt sich in vielen Bereichen wie ein Brennglas oder Katalysator aus: Probleme oder Defizite, die vorher schon vorhanden waren, treten viel deutlicher zutage. Wenn ich nicht mehr die Wahl habe, ob ich alleine sein oder mich unter Menschen begeben will, dann spüre ich im "Lockdown", in Quarantäne oder beim konsequenten Umsetzen der AHA-Regel (Abstand, Hygiene, Alltagsmaske) sehr deutlich, ob ich einsam bin oder nicht. Vor allem dann, wenn ich mich nicht (mehr) durch Aktivitäten ablenken kann oder es keine Abwechslung gibt. Der "Lockdown" verschärft nachweislich Probleme chronischer Schmerzpatienten [7] und die Pandemie könnte dafür sorgen, dass Menschen, die bisher gesund waren, psychosozialen Distress entwickeln, der sich auch in Schmerzproblemen auswirken kann [8].

Möglichkeiten der Unterstützung

Was für Möglichkeiten gibt es unter den Bedingungen der Pandemie, diesen Menschen zu helfen? In Kliniken sollten Strukturen der psychosozialen Notfallversorgung geschaffen und genutzt werden, um dort den sich sozial isoliert fühlenden Menschen Unterstützung anzubieten [9]. Im ambulanten Bereich und in stationären Pflegeeinrichtungen gestaltet sich das schwieriger. Zentral ist eine gute Anamnese durch den Hausarzt oder Internisten. Neben somatischen Faktoren gilt es einen genauen Blick auf Stressbelastungen zu richten. Dabei ist soziale Isolation ein wichtiger Faktor, sei sie durch soziale Distanziertheit, aktuell erlebte Verluste und/oder Quarantänemaßnahmen bedingt. Auch kann Schmerz im Zusammenhang mit sozialer Isolation Ausdruck von stark ausgeprägter Trauer, Depressivität oder gar einer manifesten Depression sein, welche dann einer genaueren Diagnose mit entsprechender Behandlung bedarf.

Der Hausarzt sollte sich Zeit nehmen und Verständnis zeigen

Sprechen Sie es von sich aus direkt an, ob sich Ihr Gegenüber einsam fühlt. Wenn es Ihnen als Ärztin oder Arzt möglich ist, nehmen Sie sich etwas Zeit, geben Sie Ihrem Patienten das Gefühl, in der Not gesehen zu werden und zeigen Sie Verständnis. Hilfreich ist auch der Blick auf mögliche Ressourcen im Umfeld gegen Einsamkeit und Ausgrenzung, die aktiviert werden könnten, wie beispielsweise hilfreiche Nachbarn oder Enkelkinder. Manche Menschen nutzen vorhandene Möglichkeiten nicht, weil sie nicht andere belasten wollen. Motivieren Sie dazu, auch mal über den eigenen Schatten zu springen. Nützlich kann für Sie auch sein, Krisendienste, Corona-Sorgentelefone, vorhandene Initiativen, Nachbarschaftshilfen oder ehrenamtliche Institutionen zu kennen, die gerade auch sozial isolierten Menschen Corona-kompatible Unterstützungsmöglichkeiten anbieten und die größte Not abfangen können. Und: Worte beeinflussen Bewertung und Empfinden. Soziale Dis- tanziertheit wirkt beispielsweise als Begriff isolierend, physische Distanziertheit lässt Raum dafür, dass trotzdem soziale Bedürfnisse Berücksichtigung finden.

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Dipl.-Psych. Urs Münch

DRK Kliniken Berlin, Westend Klinik für Allgemein- und Viszeralchirurgie