Die COVID-19-Pandemie hat uns bewusst gemacht, dass ältere Menschen aufgrund von Immunseneszenz und geriatrietypischer Multimorbidität besonders anfällig für Atemwegserkrankungen sind. Die aktuelle Empfehlung zur Pneumokokken-Impfung trägt dieser Erkenntnis aber nicht ausreichend Rechnung.

Der demografische Wandel und die Zunahme von chronischen Erkrankungen führen dazu, dass immer mehr Senioren in allen Versorgungsstufen behandelt werden. Nach der europäischen Definition ist der geriatrische Patient durch eine geriatrietypische Multimorbidität und das höhere Lebensalter (70 Jahre oder älter) definiert. Die "80+-Patientengruppe" ist bezüglich Chronifizierung sowie Verlust der Autonomie besonders gefährdet [1]. Die Corona-Pandemie hat gezeigt, dass dies auch für akute Infektionen zutrifft.

Immunseneszenz

Das Immunsystem verändert sich im Rahmen des physiologischen Alterungsprozesses strukturell und funktionell. Man spricht hier von der sogenannten Immunseneszenz.

Das angeborene Immunsystem wird von der adaptiven Immunität, die antigenspezifisch ist, unterschieden (Tab. 1). Diese Immunantwort wird auf eine Infektion hin getriggert und aktiviert die B- und T-Zellfunktion zur Infektabwehr. Diese Aktivierung ist wichtig für eine ausreichende adaptive Immunantwort auf ein Antigen. Je nachdem, ob es sich um ein Protein oder ein Polysaccharid handelt, ist sie unterschiedlich.

Tab. 1 Angeborenes und adaptives Immunsystem (mod. nach [2])

Die T-Zell-abhängige B-Zell-Antwort führt zur Produktion von IgG-Antikörpern von hoher Affinität und zu einem Immungedächtnis. Die T-Zell-unabhängige B-Zell-Antwort erzeugt dagegen kein starkes Immungedächtnis [3, 4].

Die Immunseneszenz führt zu einer qualitativen Veränderung des Immunsystems, was eine eingeschränkte Immunantwort zur Folge hat [5], und damit zu einer erhöhten Empfänglichkeit für Infektionen. Diese altersbezogenen Veränderungen müssen durch eine Reduzierung des Infektionsrisikos durch entsprechende Impfungen ausgeglichen werden.

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© Maya Kruchancova / stock.adobe.com (Symbolbild mit Fotomodellen)

Mit der Impfung Ältere vor Infektionen schützen.

Die ambulant erworbene Pneumonie im Alter

Meist präsentieren sich Infektionen im höheren Lebensalter atypisch, und der Verlauf ist schwerer als bei jüngeren Erwachsenen. Dies gilt insbesondere für die ambulant erworbene Pneumonie (community-acquired pneumonia, CAP).

Die Inzidenzraten liegen bei ≥ 60-Jährigen bei 2.032 (alle CAP-Fälle), 1.061 (Patienten mit CAP, die hospitalisiert werden mussten) und 1.053 (ambulante Fälle mit CAP) - jeweils auf 100.000 Personenjahre während der Beobachtungszeit bezogen, wie eine kürzlich publizierte Studie aus Deutschland zeigte. Die Inzidenzraten waren noch höher, wenn Begleiterkrankungen vorlagen. Die Mortalität war bei Älteren insgesamt sogar doppelt so hoch wie bei Jüngeren [6].

Pneumokokken: häufigste Ursache für die CAP

Streptococcus pneumoniae gehört zur Gruppe der grampositiven Diplokokken mit Polysaccharidkapsel. Über 90 verschiedene Kapsel-Polysaccharid-Serotypen von S. pneumoniae wurden bislang identifiziert. Alle sind potenzielle Krankheitsauslöser beim Menschen. Für die Mehrzahl (> 90%) der invasiven Erkrankungen sind jedoch < 30 Serotypen verantwortlich. S. pneumoniae ist bei Erwachsenen die häufigste Ursache für die CAP und für 33-50% aller Fälle verantwortlich [7], gefolgt von H. influenzae und M. pneumoniae mit deutlich niedrigeren Anteilen.

Größtes ökologisches Reservoir von S. pneumoniae ist der Nasopharynx. Von hier aus können sich diese Bakterien auf die unteren und oberen Atemwege ausbreiten und so schwere bis hin zu lebensbedrohlichen invasiven und nicht-invasiven Erkrankungen verursachen, z. B. die Pneumonie.

Aktuelle Empfehlungen zur Pneumokokkenimpfung

STIKO-Empfehlung

Die Pneumokokken-Impfung ist eine Standardimpfung für alle Menschen über 60 Jahre. Die derzeit gültige Empfehlung der Ständigen Impfkommission (STIKO) sieht eine Standardimpfung mit dem 23-valenten Polysaccharid-Impfstoff (PPSV23) für Senioren vor, die keiner Risikogruppe angehören. Bei individueller Indikationsstellung kann eine Wiederholungsimpfung mit PPSV23 frühestens im Abstand von 6 Jahren erfolgen. Bei Patienten mit angeborenen oder erworbenen Immundefekten bzw. Immunsuppression wird eine sequentielle Impfung (Konjugatimpfstoff PCV13 gefolgt von PPSV23) empfohlen, bei Patienten mit sonstigen chronischen Krankheiten ab 16 Jahren ausschließlich PPSV23.

SIKO-Empfehlung

Anders als die STIKO empfiehlt die Sächsische Impfkommission (SIKO) im Freistaat Sachsen für Personen über 60 Jahre als Standardimpfung (sequenzielle Impfung) einmalig eine Impfung mit dem Konjugatimpfstoff PCV13, gefolgt von dem 23-valenten PPSV im Abstand von mindestens einem Jahr (bei den Indikationen I, 1.-3. [anatomische und fremdkörperassoziierte Risiken für eine Pneumokokken-Meningitis, z. B. Liquorfistel]: frühestens nach 8 Wochen). Bereits mit PPSV-23 geimpfte Erwachsene erhalten eine Nachimpfung mit PCV13 im Mindestabstand von einem Jahr [8]. Darüber hinaus wird eine sequentielle Impfung für alle Risikopatienten empfohlen.

Bedeutung der Immunseneszenz für Impfempfehlungen

Bisher wird die Immunseneszenz in der Empfehlung der STIKO zur Vermeidung von Pneumokokken-Infektionen nicht ausreichend berücksichtigt, obwohl diese Veränderungen und deren Auswirkungen auf die Immunantwort nach Impfungen hinlänglich bekannt sind [9]. Die Gruppe der über 60-Jährigen wird als homogene und immunkompetente Gruppe betrachtet, für die eine einmalige Impfung mit dem Polysaccharidimpfstoff ausreichend sei.

Demgegenüber wird die Immunkompetenz von 2- bis 15-Jährigen kritischer beurteilt: "Bei Kindern und Jugendlichen im Alter von 2-15 Jahren ist die Wirksamkeit von PPSV23 unklar." Daher empfiehlt die STIKO in dieser Altersgruppe auch für Patienten aus Risikogruppe 2 (Menschen mit Immundefizit, Niereninsuffizienz) die sequenzielle Impfung mit PCV13 (Konjugatimpfstoff) und PPSV23 (Polysaccharidimpfstoff), um den bestmöglichen Schutz zu erzielen [10].

Die Kenntnisse zur Immunseneszenz sollten gerade bei Hochaltrigen und Senioren mit Frailty bzw. Multimorbidität [9, 11] in den Impfempfehlungen berücksichtigt werden. Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass die Gruppe der Hochaltrigen häufig von Multimorbidität betroffen ist [12]. Der mögliche Zusammenhang von Multimorbidität und Immunseneszenz [13], gerade auch im Hinblick auf die B-Zellfunktion [14], wird in den Empfehlungen der STIKO jedoch nicht adäquat berücksichtigt.

Eine weitere, multizentrische Studie unterstützt die o. g. Einschätzung [15]. Die prospektive Studie zeigte eine unterschiedliche Wirksamkeit der PPSV23-Impfung in der Gruppe der 65-Jährigen sowie bei Älteren und lässt einen Zusammenhang mit Komorbiditäten und der Immunseneszenz vermuten. Vor diesem Hintergrund erscheint eine Empfehlung zur sequentiellen Impfung für die Gruppe der Hochbetagten und Multimorbiden in Analogie zum Vorgehen bei der Gruppe der 2- bis 15-Jährigen mit chronischen Erkrankungen und unklarer Immunkompetenz sinnvoll.

Konjugatimpfstoffe der nächsten Generation

Die im kommenden Jahr erwarteten Pneumokokken-Konjugatimpfstoffe der nächsten Generation (Tab. 2) können aufgrund ihrer höheren Serotypen-Coverage aller Voraussicht nach alleine und einmalig, d. h. ohne nachfolgende PPSV23-Impfung und Auffrischimpfungen gegeben werden. Damit wird der Komplexität sequentieller Impfungen mit einer geringen Impfbereitschaft und Impfcompliance entgegengewirkt. Die neuen Konjugatimpfstoffe sollten daher zeitnah evaluiert werden und angepasste Impfstrategien das erhöhte Infektionsrisiko bei Senioren berücksichtigen.

Tab. 2 Wirksamkeitsunterschiede der Impfstoffe (mod. nach [16])

Aktuelle Datenlage und Interpretation aus geriatrischer Sicht

In den vergangenen Jahren wurden nach der CAPITA-Studie in den Niederlanden [17] in weiteren Studien die Wirksamkeit und Effektivität des 13-valenten Konjugatimpfstoffs hinsichtlich der Prävention von invasiven wie auch nicht-invasiven Pneumokokkeninfektionen in allen Altersklassen nachgewiesen [18, 19, 20, 21, 22]. Auch in Deutschland wurde in zwei populationsbasierten Kohortenstudien bei 60-Jährigen und Älteren untersucht, wie sich die PPSV23- bzw. PCV13-Impfungen auf alle Pneumonien auswirken [18].

Für PPSV23 konnte nur eine Impfeffektivität von 3,3% gezeigt werden [23]; in der Altersgruppe der 60- bis 79-Jährigen wurde eine Effektivität von -1,8%, bei über 80-jährigen Patienten eine Effektivität von 0% gemessen. Die Impfeffektivität für PCV13 lag hingegen unter diesen Studienbedingungen bei allen Patienten bei 11,9%, in der Altersgruppe der 60- bis 79-jährigen bei 7,7% und bei den über 80-Jährigen bei 11%.

Bei der Betrachtung von PCV13 bezüglich der Serotypen, die im Impfstoff enthalten sind, zeigte eine US-Studie bei 65-Jährigen und Älteren eine Wirksamkeit von über 70% gegen CAP [24]. In einer kürzlich publizierten, prospektiven Beobachtungsstudie über zwei Jahre in Deutschland wurde die Effektivität der Impfung mit PPSV23 bezüglich Serotyp 3, dem für die Morbidität und Mortalität bedeutendsten Serotyp, mit - (minus) 110% dokumentiert [25].

Für die Geriatrie sollte vor diesem Hintergrund die sequentielle Impfung (PCV13 gefolgt von PPSV23) für die Gruppe der Hochaltrigen und Multimorbiden in Analogie zum Vorgehen in der Gruppe der 2- bis 15-Jährigen mit chronischen Erkrankungen und unklarer Immunkompetenz [26] in Erwägung gezogen werden (s. o.). Darüber hinaus müssen die Impfraten bei geriatrischen Patienten erhöht werden, z. B. durch einen niederschwelligen Zugang zum Impfangebot.

Ausblick

PCV15 und PCV20 im europäischen Zulassungsverfahren

Die Serotypen-Epidemiologie des Erwachsenen über 60 Jahre ist bei der Impfstoffauswahl von Bedeutung. Die noch vor einigen Jahren angenommene Herdenimmunität mit einem Rückgang der Pneumokokken-Serotypen, die in Impfstoffen abgedeckt sind, ist limitiert. Das zeigen aktuelle Daten des nationalen Referenzzentrums [27, 28, 29]. Betrachtet man die Serotypen-Abdeckung ("Coverage") der sich aktuell im Zulassungsverfahren befindenden, neuen Konjugatimpfstoffe PCV15 und PCV20, ist der "Coverage-Gewinn" durchaus beträchtlich, insbesondere bei dem 20-valenten Konjugatimpfstoff. Während die Coverage von PPV23 nur etwas oberhalb von PCV20 liegt, sind die Vorteile des konjugierten 20-valenten Impfstoffs aus geriatrischer Sicht deutlich höher zu bewerten.

PCV-Impfung und SARS-CoV-2

Einen völlig neuen Aspekt - den Einfluss, den eine Impfung mit PCV13 bei älteren Erwachsenen auf das Risiko einer COVID-19-Erkrankung haben kann - zeigt die Arbeit von Lewnard und Kollegen. Bei den über 65-jährigen, mit PCV13 geimpften Patienten fanden sich eine um 35% niedrigere Inzidenz der COVID-19-Diagnose, eine um 32% niedrige Inzidenz der Hospitalisierung aufgrund von COVID-19 und eine um 32% niedrigere Inzidenz eines COVID-19-bedingten Todes [30]. Es scheint offenbar eine Interaktion zwischen Streptococcus pneumoniae und dem SARS-CoV-2-Virus im Respirationstrakt zu geben.

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Prof. Dr. med. Hans Jürgen Heppner

Klinik für Geriatrie und Geriatrische Tagesklinik am Helios Klinikum Schwelm; Lehrstuhl Geriatrie der Univ. Witten/Herdecke