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Prof. Dr. med. Guido Michels Klinik für Akut- und Notfallmedizin, St.-Antonius- Hospital gGmbH, Eschweiler, Akademisches Lehrkrankenhaus der RWTH Aachen

Die Coronakrise trifft neben jüngeren — meist Lungen-vorerkrankten — Patienten besonders auch geriatrische Patienten [1]. Ältere und multimorbide Patienten stellen eine vulnerable Patientengruppe dar und sind oftmals durch einen schweren Krankheitsverlauf der COVID-19(Corona Virus Disease 2019)-Erkrankung gekennzeichnet [2, 3, 4].

Basierend auf der altersphysiologisch verminderten Funktionsreserve ist die Schwelle der Induktion eines pathophysiologischen Prozesses oder eines Organversagens erniedrigt [2]. Insbesondere bedingt durch die physiologische Alterung des Immunsystems (Immunseneszenz) ist die Infektabwehr deutlich schwächer als die von Jüngeren.

Obwohl die Letalität in China mit insgesamt 2,3% angegeben wurde, lag diese bei den 80-Jährigen (3% aller Erkrankten) bei 14,8% [5]. In Italien liegt der Anteil der COVID-Patienten, die 70 Jahre oder älter sind, bei 37% und die Letalität bei 7,2%. Die Letalität steigt mit zunehmendem Alter deutlich an: 12,5% in der Gruppe der 70- bis 79-Jährigen, 19,7% in der Gruppe der 80- bis 89-Jährigen und 22,9% bei über 90-Jährigen [3, 6].

Die Letalität für Deutschland liegt aktuell bei 2,9%. 87% der Todesfälle und 18% aller Fälle sind 70 Jahre oder älter [7].

Höheres Lebensalter und Komorbiditäten sind Prädiktoren für schweren Verlauf

Eine jüngste retrospektive Studie aus Wuhan zeigte, dass COVID-Patienten ab dem 65. Lebensjahr im Vergleich zu jüngeren Patienten häufiger an Komorbiditäten und schwereren Symptomen sowie Organversagen litten. Zudem war diese Patientengruppe durch eine höhere Letalität charakterisiert (34,5% [≥ 65 Jahre] versus 4,7% [< 65 Jahre]) [8]. Auch das Robert-Koch-Institut (RKI) bestätigt, dass das Risiko einer schweren Erkrankung ab 50 bis 60 Jahren stetig mit dem Alter ansteigt. Menschen über 80 Jahre haben sogar eine Sterblichkeit von > 15% [9].

Neben dem Lebensalter sind die Ausprägung der Komorbiditäten und der Schweregrad der Organdysfunktion signifikante Prädiktoren für einen schweren COVID-19-Verlauf [10]. Patienten mit struktureller Herzkrankheit haben u. a. ein erhöhtes Risiko für ungünstige Verläufe der COVID-19-Krankheit [11].

Komorbidität und höheres Alter waren neben veränderten Laborparametern (Lymphopenie und erhöhte Werte für die Laktatdehydrogenase) unabhängige Hochrisikofaktoren für eine Progression der COVID-19-Erkrankung [12]. In einer Metaanalyse konnte zudem gezeigt werden, dass von den Komorbiditäten die arterielle Hypertonie, der Diabetes mellitus, die COPD, kardiovaskuläre und zerebrovaskuläre Erkrankungen wichtige Risikofaktoren für COVID-19-Patienten darstellen [13]. Die Hazards-Rate (HR) betrug in einer größeren Studie mit 1.590 Fällen 1,79 (95%-CI 1,16—2,77) bei Patienten mit mindestens einer Komorbidität und 2,59 (95%-CI 1,61—4,17) bei Patienten mit zwei oder mehr Komorbiditäten [14].

Da bei geriatrischen Patienten meist mehr als zwei Komorbiditäten vorliegen und zudem die meisten an Gebrechlichkeit leiden, sind ältere, multimorbide Patienten als Höchstrisikogruppe in Zeiten von COVID-19 anzusehen.

Der funktionale Aktivitätszustand (Gebrechlichkeit bzw. Frailty) nimmt gerade im Rahmen der Priorisierung von geriatrischen Notfallpatienten die zentrale Rolle ein [15]. Das Screening auf Gebrechlichkeit in der Notaufnahme mit einer Auswahl von Instrumenten für ein rasches Screening wie der Clinical Frailty Scale (CFS) [4], dem Identification of Seniors at Risk Tool (ISAR) und dem Program of Research on Integration of Services for the Maintenance of Autonomy 7 item questionnaire (PRISMA-7) sind zuverlässig und genau [16].

Vorausschauende Planung und Priorisierung im Rahmen der COVID-Pandemie

Da ältere Patienten mit COVID-19 mit hoher Wahrscheinlichkeit akutmedizinisch versorgt werden müssen, ist es von großer Bedeutung, in dieser Gruppe unter Berücksichtigung von medizinischer Indikation und Patientenwillen im Vorfeld eine Behandlungsplanung aktiv zu verfassen (Abb. 1).

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Multifaktorieller Entscheidungsprozess im Rahmen der Erstellung eines Notfallbogens in Krisensituationen

Idealerweise haben sich ältere und multimorbide Patienten mit ihrem betreuenden Hausarzt in Pflege- und Seniorenheimen mit dem Thema „Advance Care Planning (ACP)“ bereits vor der Coronakrise beschäftigt [17, 18]. Das internationale Konzept des ACP greift das Prinzip der partizipativen Entscheidungsfindung auf und erweitert dieses für den Fall, dass eine Person nicht mehr in der Lage ist, selbst zu entscheiden.

Diese sog. Shared Decision Making steht für eine partnerschaftliche Entscheidungsfindung im medizinischen Kontext. Sie erwächst aus einem patientenzentrierten Ansatz heraus. Die „vorausschauende Planung“ ermöglicht es dem Einzelnen, Ziele und Präferenzen für zukünftige medizinische Behandlungen in einem professionellen Gesprächsprozess zwischen Patient, seinen Angehörigen bzw. Vertretern sowie den behandelnden Ärzten basierend auf den Einstellungen zum Leben, zu schwerer Krankheit und zum Sterben individuell festzulegen.

Abb. 2
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Algorithmus der Behandlungszielfindung und Priorisierung

Eine patientenzentrierte Vorausplanung für den Notfall ist aktuell ein Konzept, das von einigen Experten empfohlen wird. Alle Behandler sollten sich mit diesem Themenkomplex beschäftigen, um gerade in Krisenzeiten eine Priorisierung von Patienten in Pflege- und Seniorenheimen im Vorfeld umzusetzen. Ohne ein gelebtes ACP-Konzept und ohne regionale Implementierung im ambulanten sowie stationären Sektor besteht die Gefahr, dass Ad-hoc-Entscheidungsfindungen in Krisenzeiten umgesetzt werden, welche zu Fehlentscheidungen führen.

Es besteht kein Zwang zur Vorausplanung

Neben der einzuhaltenden Qualität des ACP sollte nicht der Eindruck eines faktischen Zwangs zur Vorausplanung erweckt werden. Deshalb wird dieses Thema bis heute auf allen Ebenen als sensibel betrachtet.

Im Rahmen von Krisenmanagement wird häufig von Priorisierung gesprochen und dies mit der patientenzentrierten Medizin vermischt. Eine vorausschauende Planung bildet jedoch die Basis der Priorisierung in Krisensituationen, sodass beide Komponenten inhaltlich stets voneinander getrennt zu sehen sind.

Basierend auf der atypischen Symptomatik, der erhöhten Vulnerabilität und der daraus resultierenden erhöhten Anfälligkeit bezüglich COVID, sollten geriatrische Patienten in Seniorenheimen vor dem Maximum eines „Massenanfalls von infizierten Personen“ (MANI) eine Priorisierung auf der Basis des ACP-Konzepts erfahren. Da das ACP-Konzept, in Deutschland noch nicht weit verbreitet und eine Ad-hoc-Schulung nicht in Kürze umzusetzen ist, haben die Fachgesellschaften — primär die DiV-BVP (Deutschsprachige interprofessionelle Vereinigung Behandlung im Voraus Planen) — einen „Leitfaden zur ambulanten patienten-zentrierte Vorausplanung für den Notfall aus Anlass der COVID-19-Pandemie“ publiziert [19]. Es sollte bei geriatrischen Patienten ein „Notfallbogen“ mit dem Hausarzt erarbeitet werden.

Viele regionale Palliativnetzwerke bieten einen solchen Notfallbogen an, welcher als Übergangslösung — nicht jedoch als Ersatz für ACP — herangezogen werden kann. Die flächendeckende Umsetzung einer auf einem Notfallbogen basierten ambulanten Entscheidungsfindung sollte das primäre Ziel sein, um in Krisenzeiten eine individuelle und patientenzentrierte Priorisierung vornehmen zu können.