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Prof. Dr. med. Dr. rer. nat. Berend Feddersen Spezialisierte Ambulante Palliativversorgung (SAPV), Klinik und Poliklinik für Palliativmedizin, Klinikum der Universität München

Im Notfall läuft die Entscheidungsfindung häufig nach akutmedizinischen Standards ab, ohne dass das Therapieziel, die medizinische Indikation und die Einwilligung der betroffenen Person in einem sorgfältigen Prozess der Vorausplanung (Advance Care Planning) geklärt wurden [1]. Um diese Situation für ambulante Patienten zu verbessern, haben sechs wissenschaftliche Fachgesellschaften, darunter die Deutsche interprofessionellen Vereinigung — Behandlung im Voraus Planen (DiV-BVP) und die Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM), eine gemeinsame Handlungsempfehlung veröffentlicht [2].

Mit einem Leitfaden (https://www.div-bvp.de/wp-content/uploads/2020/04/Ambulante_patientenzentrierte_Vorausplanung_fuer_den_Notfall_LEITFADEN_20200409_final.pdf) sollen ambulant tätige Ärzte in der für diese Klärung erforderlichen Gesprächsführung und der korrespondierenden, krisentauglichen Dokumentation (https://www.div-bvp.de/wp-content/uploads/2020/04/Ambulante_patientenzentrierte_Vorausplanung_DOKU_gesamt_200409_final.pdf) Orientierung und Unterstützung erhalten. Dazu werden Hinweise zur Indikation, Einschätzung der Prognose, Therapiezielklärung sowie zur Ermittlung des Patientenwillens gegeben (Abb. 1). Die DiV-BVP bietet zudem Online-Ressourcen an, durch die sich Ärzte für die besondere Gesprächsführung qualifizieren können, die dem Konzept „Behandlung im Voraus Planen“ und den verwendeten Dokumenten zugrunde liegt (www.div-bvp.de).

Abb. 1
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Ambulante patientenzentrierte Vorausplanung.

© Deutsche interprofessionelle Vereinigung - Behandlung im Voraus Planen

Indikationsstellung in Abhängigkeit von der Prognose

Erste Voraussetzung für die Durchführung einer Behandlungsmaßnahme ist die medizinische Indikation in Abhängigkeit von der gegebenen Prognose.Diese stellt der behandelnde Arzt auf Grundlage seiner Einschätzung der aktuellen Situation unter Berücksichtigung von Vorerkrankungen. Wenn schon im Voraus zuverlässig erkennbar ist, dass das vom Patienten angestrebte Therapieziel durch eine Behandlungsmaßnahme nicht erreicht werden kann, so ist diese Maßnahme medizinisch nicht indiziert und darf dem Patienten nicht angeboten werden. Bietet eine Behandlungsmaßnahme eine (zumindest minimale) Aussicht auf Erfolg, so ist sie medizinisch indiziert (oder zumindest vertretbar). In diesem Fall ist eine gemeinsame Erörterung der Prognose erforderlich, um den Patienten über die Chancen und Risiken der möglichen Behandlungen aufzuklären und dadurch zu einer selbstbestimmten Entscheidung zu befähigen [3].

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Die Einstellungen zu Leben, schwerer Krankheit und Sterben bilden die Grundlage, um das individuelle Therapieziel zu klären.

© JPC-PROD / Fotolia (Symbolbild mit Fotomodellen)

Krankenhauseinweisung

Zur Einschätzung des Risikos der Entwicklung einer Sepsis und somit eines schweren Verlaufs wird im stationären Bereich der bewährte, auf wenigen, leicht erhebbaren klinischen Parametern aufgebaute qSOFA-Score genutzt [4]. Er kann auch im ambulanten Bereich als Entscheidungshilfe für die Frage dienen, ob eine Krankenhauseinweisung medizinisch indiziert ist.

Zudem empfiehlt die Deutsche Gesellschaft für Pneumologie und Beatmungsmedizin vor dem Hintergrund der bisherigen Erkenntnisse speziell bei COVID-19-Erkrankungen die Messung der peripheren Sauerstoffsättigung zur Erhöhung der Sensitivität des qSOFA-Index. Demnach sollte ein akuter Abfall der Sauerstoffsättigung auf < 92% (bei Lungengesunden und Raumluft) bzw. auf < 90% (bei pulmonaler Komorbidität und Raumluft) als ergänzender vierter prognostischer Parameter Berücksichtigung finden.

Intensivmedizinische Behandlung, invasive Beatmung und Reanimation

Bei schwer erkrankten Patienten ist — soweit möglich — bereits im ambulanten Bereich zu prüfen, ob eine ggf. erforderliche Intensivtherapie eine ausreichende Erfolgsaussicht aufweisen würde. Hierfür benennen Leitfaden und Dokumentation Kriterien, die eine Orientierung bieten, wann eine Intensivbehandlung nicht mehr medizinisch indiziert oder mit einer stark eingeschränkten Erfolgsaussicht verbunden ist [5].

Ermittlung des Patientenwillens

In einem sorgfältig moderierten Prozess ist zu eruieren, ob die getroffenen Entscheidungen vom Patienten auch gewollt sind. Die ggf. vorzunehmende Therapieanpassung sollte möglichst frühzeitig mit dem Patienten, dem rechtlichen Vertreter und — soweit möglich — den Angehörigen besprochen, festgelegt und aussagekräftig dokumentiert werden.

Bevor konkrete Behandlungsoptionen besprochen werden, ist das individuelle Therapieziel zu klären. Hierfür haben sich einige Fragen bewährt, anhand derer der Betroffene sich darüber klarwerden und mitteilen kann, wie sehr er im Angesicht einer schweren Erkrankung am Leben festzuhalten bzw. das Leben loszulassen wünscht (Einstellungen zu Leben, schwerer Krankheit und Sterben, Abb. 2).

Abb. 2
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Einstellungen zu Leben, schwerer Krankheit und Sterben.

Abb. 2 u. Abb. 3: Deutsche interprofessionelle Vereinigung - Behandlung im Voraus Planen

Als nächstes sollte im Gespräch geklärt werden, ob der Patient für den Fall einer lebensbedrohlichen Erkrankung, in der er selbst aktuell nicht (mehr) einwilligungsfähig ist, eine der folgenden Behandlungsoptionen ausschließen möchte: Krankenhauseinweisung, intensivmedizinische Behandlung, invasive Beatmung und kardiopulmonale Reanimation (CPR) (Ärztliche Anordnung für den Notfall [ÄNo], Abb. 3).

Abb. 3
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Ärztliche Anordnung für den Notfall (ÄNo).

Abb. 2 u. Abb. 3: Deutsche interprofessionelle Vereinigung - Behandlung im Voraus Planen

Ist der Patient aktuell nicht einwilligungsfähig und liegt keine unmittelbar auf die (Notfall-)Situation zutreffende Patientenverfügung vor, so ist zur Ermittlung des (mutmaßlichen) Behandlungswillens des Patienten das Gespräch mit dessen rechtlichem Vertreter (Betreuer, Vorsorgebevollmächtigter) zu führen. Dabei sind aus einer früheren Patientenverfügung oder aus früheren oder aktuellen Äußerungen Hinweise auf den Willen des Patienten für die aktuelle Situation zu eruieren [6]. Nach der Ermittlung von Indikation und Patientenwillen ist die Entscheidung über die Vorgehensweise im Notfall in der ÄNo zu dokumentieren.