Die von meinen geschätzten Kollegen verfassten Editorials im Jahr 2022 beschäftigten sich weiterhin mit der COVID-19-Pandemie und mit dem Thema der Flut von systematischen Übersichtsarbeiten sowie dem Rückgang von klinischen Studien. Auch im nun dritten Jahr der Pandemie fällt es schwer, sich im Alltag mit anderen Quellen der Evidenz zu beschäftigen, die keinen Bezug zu SARS-CoV-2 haben. Hygienepläne werden für Klinik, Lehre und Forschung regelmäßig überarbeitet, Impf- und Boosterprogramme auch in psychiatrisch-psychotherapeutischen Kliniken für die Mitarbeitenden, Patientinnen und Patienten durchgeführt. Die Maßnahmen zum Ausbruchs-, Kontakt- und Besuchsmanagement müssen stets up to date gehalten werden. Im letzten Editorial schrieb Hans-Christoph Diener über den Wunsch nach einheitlichen Informationen - ein Thema, das mich als Herausgeber einer AWMF S3-Leitlinie natürlich immer bewegt. Ich greife beim Thema COVID-19 oft auf die gut recherchierten Artikel und Tabellen aus dem Epidemiologischen Bulletin des Robert-Koch-Instituts zurück, und heute möchte ich Ihnen zwei Gedanken dazu mit in die Lektüre der neuen InFo Neurologie + Psychiatrie geben.

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Es wird komplexer

"Perfektion ist nicht dann erreicht, wenn man nichts mehr hinzufügen, sondern wenn man nichts mehr weglassen kann"- dieses gern von Designern verwendete Zitat von Antoine de Saint-Exupéry möchte ich irgendwie auf die Evidenz und unseren klinischen Alltag anwenden. Wenn ich mir aktuelle Leitlinien meines Fachs (Achtung: Nun kritisiere ich mich selbst) anschaue, dann muss ich die Texte und Empfehlungen häufig mehrfach lesen, um zu verstehen, was gemeint ist. Das Gleiche denke ich zum Beispiel im Moment, wenn ich versuche zu verstehen, wann und wer im Kontext von SARS-CoV-2 geboostert ist - mittlerweile gibt es bei Verfügbarkeit von fünf Impfstoffen (eine beeindruckende internationale wissenschaftliche Leistung) und bald 18 Millionen Menschen in Deutschland, die zu irgendeinem Zeitpunkt Kontakt mit einem der Virustypen hatten, doch sehr viele Kombinationen, die hier berücksichtigt werden müssen. Dies verunsichert die Menschen, aber auch unsere Medizinerinnen und Mediziner, da wir ja korrekt und nach bester Evidenz handeln möchten. Eine kürzlich in Nature Medicine publizierte und beeindruckende Studie unter Federführung von Münchner Virologinnen und Virologen zeigte in diesem Zusammenhang vereinfacht, dass drei Kontakte mit dem Spike-Antigen (3-mal Impfung, 2-mal Impfung plus 1-mal Infektion) eine sehr gute Immunität begründen [1]. In dem Kontext dachte ich an zwei Dinge: Erstens, das wäre doch eine schöne und klare Leitlinienempfehlung sowie zweitens, eine großartige Studie aus dem starken Wissenschaftsstandort Deutschland.

Studien der anderen

Was ich genau meine? Bei der Lektüre des Epidemiologischen Bulletin fällt auf, dass nahezu alle Arbeiten zu SARS-CoV-2 nicht aus Deutschland stammen - dies gilt vor allem für die großen epidemiologischen und Verlaufsarbeiten. Die oben zitierte Studie fand hier noch keine Berücksichtigung, aber ich hoffe und bin mir sicher, dass sich das ändern wird. Der Aufbau von Registern, auch in der Psychiatrie und Psychotherapie, ist ein immer wieder kritisch diskutiertes Thema bei uns, aber ohne die Registerarbeit aus den skandinavischen Ländern oder Großbritannien wäre unser Wissensstand deutlich schlechter und die Versorgung von uns allen nicht sicher gewährleistet. Das Gleiche gilt für die Erstellung großer Kohorten. Nur die Kompromisse im auch wertvollen Datenschutz unserer europäischen Freundinnen und Freunde erlauben uns, hier strenger als die anderen zu sein, aber ist dies der richtige Weg für unsere Zukunft? Vielleicht schaffen wir es, vor dem Hintergrund unserer Pandemieerfahrung aus dem Bedenken-Denken über die Folgen von Gesundheitsregistern in das Chancen-Denken für die Zukunft zu treten. Uğur Şahin sagte in verschiedenen Interviews: "Pragmatismus ist nicht das Gegenteil von Perfektionismus, sondern der Weg dorthin." Vielleicht müssen wir uns dies im Gesundheitssystem auch bei vielen anderen Themen (Personalausstattung Psychiatrie und Psychosomatik-Richtlinie, Register, Förderung von innovativen Studien …) einfach mehr vor Augen führen.

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Prof. Dr. med. Alkomiet Hasan

Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik, Universität Augsburg Medizinische Fakultät, BKH Augsburg

Alkomiet.Hasan@med.uni-augsburg.de