Fragestellung: Ist Erythropoetin bei der Optikusneuritis sicher und wirksam?

Hintergrund: Das humane Zytokin Erythropoetin hat in Tiermodellen neuroprotektive Eigenschaften gezeigt, in klinischen Phase-II-Studien bei Patienten mit Optikusneuritis widersprüchliche Ergebnisse. Ziel der Studie war es daher, die Sicherheit und Wirksamkeit von Erythropoetin bei Patienten mit Optikusneuritis als klinisch isoliertem Syndrom in einer multizentrischen, prospektiven, randomisierten klinischen Studie zu untersuchen.

Patienten und Methodik: Die doppelblinde Phase-III-Studie wurde an zwölf tertiären Referenzzentren in Deutschland durchgeführt. Sie schloss Teilnehmer im Alter von 18 bis 50 Jahren ein, die innerhalb von zehn Tagen nach Beginn einer einseitigen Sehnervenentzündung eine Sehschärfe von 0,5 oder weniger hatten und bei denen bisher keine Diagnose einer Multiplen Sklerose gestellt worden war. Die Studienteilnehmer wurden nach dem Zufallsprinzip (1:1) entweder zu 33.000 IE Erythropoetin oder Placebo intravenös über drei Tage als Ergänzung zu einer hochdosierten intravenösen Therapie mit Methylprednisolon (1.000 mg pro Tag) randomisiert. Der primäre Endpunkt der Studie war die Atrophie der peripapillären retinalen Nervenfaserschicht (pRNFL), gemessen mittels optischer Kohärenztomographie (OCT) als Differenz der pRNFL-Dicke zwischen dem betroffenen Auge in Woche 26 und dem nicht betroffenen Auge zu Beginn der Studie. Der zweite primäre Endpunkt war die Erkennung der Buchstabenschärfe bei niedrigem Kontrast in Woche 26, gemessen als 2,5 % Sloan-Chart-Score des betroffenen Auges. Die Analyse wurde im vollständigen Analyseset aller randomisierten Teilnehmer durchgeführt, bei denen die Behandlung begonnen wurde und für die mindestens eine OCT-Nachuntersuchung verfügbar war.

Ergebnisse: Insgesamt wurden 108 Teilnehmer zwischen November 2014 und Oktober 2017 in die Studie aufgenommen. Davon erhielten 55 eine Zusatztherapie mit Erythropoetin und 53 mit Placebo. Fünf Patienten wurden aus der primären Analyse ausgeschlossen, weil sie das zugewiesene Medikament nicht erhielten, die Zustimmung zurückgezogen wurde, die Diagnose revidiert wurde oder keine Nachbeobachtung vorlag. Dies führte zu einer vollständigen Analyse von 52 Patienten in der Erythropoetin- und 51 in der Placebogruppe. Die Studienteilnehmer waren im Mittel 30 Jahre alt und 70 % waren Frauen. Die Randomisierung erfolgte im Schnitt 6,5 Tage nach Beginn der Symptomatik.

Alle Patienten hatten pathologische Latenzen der visuell evozierten Potenziale. Die mittlere pRNFL-Atrophie betrug 15,93 μm (SD 14,91) in der Erythropoetin- und 14,65 μm (SD 15,60) in der Placebogruppe (mittlerer Behandlungsunterschied 1,02 μm; 95 %-Konfidenzintervall [KI] -5,51 bis 7,55; p = 0,76). Die mittleren Werte für die Buchstabenschärfe bei niedrigem Kontrast betrugen 49,60 (SD 21-31) in der Erythropoetin- und 49,06 (SD 21,93) in der Placebogruppe (mittlere Behandlungsdifferenz -4,03; 95 %-KI -13,06 bis 5,01). Die Studie zeigte auch für alle sekundären Endpunkte keinen Unterschied zwischen der Erythropoetin- und der Placebogruppe.

Unerwünschte Ereignisse traten bei 43 Teilnehmern (81 %) in der Erythropoetin- und bei 42 (81 %) in der Placebogruppe auf. Das häufigste unerwünschte Ereignis waren Kopfschmerzen, die 15 Patienten (28 %) in der Erythropoetin- und 13 (25 %) in der Placebogruppe angaben. Schwerwiegende unerwünschte Ereignisse traten bei acht Teilnehmern (15 %) in der Erythropoetin- und bei vier (8 %) in der Placebogruppe auf. Ein Patient (2 %) in der Erythropoetingruppe entwickelte eine venöse Sinusthrombose, die mit Antikoagulanzien behandelt wurde und ohne Folgen abklang.

Schlussfolgerungen: Erythropoetin als Ergänzung zu Kortikosteroiden bewirkte weder eine funktionelle noch eine strukturelle Neuroprotektion im Nervus opticus und der Sehbahn nach einer Optikusneuritis.

Lagrèze WA, Küchlin S, Ihorst G et al. Safety and efficacy of erythropoietin for the treatment of patients with optic neuritis (TONE): a randomised, double-blind, multi-centre, placebo-controlled study. Lancet Neurology 2021; 20: 991-1000