Profitieren ältere Menschen mit Schlaganfall in ähnlicher Weise von Lyse und mechanischer Thrombektomie wie Jüngere? Aktuelle Studien deuten darauf hin, dass das chronologische Alter alleine dabei nicht ausschlaggebend ist.
Mehr als die Hälfte aller Schlaganfälle betreffen über 75-Jährige. Prof. Dr. Jan Liman, Neurologie, Universitätsmedizin Göttingen, zufolge ist diese Altergruppe in den einschlägigen Studien zur Schlaganfalltherapie jedoch unterrepräsentiert. Dieses Dilemma zeigt sich auch in den entsprechenden Leitlinien, beispielsweise in denen der Europäischen Schlaganfallorganisation (ESO) [1]. Die aktuelle Fassung spricht einerseits weiterhin eine starke Empfehlung für die intravenöse Lyse im 4,5-Stunden-Zeitfenster auch bei über 80-Jährigen aus, basierend auf einem hohen Evidenz-Level. Andererseits erhält der Ansatz, dies auch bei Betroffenen mit Multimorbidität, Gebrechlichkeit (Frailty) oder bereits vor dem Schlaganfall bestehenden Behinderungen so zu halten, lediglich eine schwache Empfehlung und kann sich nur auf ein sehr niedriges Evidenz-Level stützen [1].
Länger anhaltende Einbußen an Lebensqualität
Dass ältere Menschen vulnerabler für schlaganfallbedingte Lebensqualitätseinschränkungen und psychische Langzeitfolgen sind, zeigte laut Liman eine gemeinsame Studie der psychosomatischen, kardiologischen und neurologischen Abteilungen der Universität Göttingen [2]. Die Forschenden evaluierten dabei die Langzeitverläufe von 398 Schlaganfallbetroffenen, die an der Studie Find-AFRANDOMISED teilgenommen hatten. Der Beobachtungszeitraum erstreckte sich auf maximal zwöf Monate. Der Fokus der Subgruppenanalyse lag auf lebensqualitätsbezogenen und psychischen Parametern. Die über 75-Jährigen hatten im Vergleich zu Jüngeren niedrigere Scorewerte auf lebensqualitätsbezogenen Skalen, litten häufiger an einer nach dem Schlaganfall aufgetretenen Depression und benötigten in der Rehabilitationsphase länger, um Ängste zu bewältigen [2].
Die Ermittlung des Frailty-Grads mithilfe geeigneter Fragebögen könnte Liman zufolge in Zukunft möglicherweise bei der Einschätzung helfen, ob die betroffene Person von einem bestimmten Eingriff profitieren würde. Für einige kardiologische Interventionen - beispielsweise Herzklappenimplantationen - sei das bereits demonstriert worden. In einer systematischen Metaanalyse fanden nun niederländische Forschende, dass die Dreijahresmortalität nach Karotis-Endarteriektomie bei Gebrechlichen um das 1,5-Fache erhöht war, bei sehr Gebrechlichen um das 2,5-Fache [3].
Liman berichtete von einer weiteren Göttinger Studie [4], die auf einer retrospektiven monozentrischen Kohorte von 318 Schlaganfallbetroffenen basiert, bei denen der Verschluss einer großen Hirnarterie endovaskulär behandelt worden war. Die Multivarianzanalyse zeigte, dass der mittels Hospital Frailty Risk Score (HFRS) erhobene Gebrechlichkeitsgrad vor dem Schlaganfallereignis mit der 90-Tage-Mortalität und dem Behinderungsgrad laut modifizierter Rankin-Skala (mRS) assoziiert war [4].
In einer noch unpublizierten Studie habe sich nun in Göttingen bei 527 lysebehandelten Schlaganfallbetroffenen herausgestellt, dass sich zwar der neurologische Funktionsstatus nach National Institutes of Health Stroke Scale (NIHSS) bis zum Zeitpunkt der Entlassung bei denjenigen mit mittlerem HFRS zwar in vergleichbarem Maß wie bei den Patienten mit niedrigem HFRS gebessert hatte, die Einjahresmortalität aber in der Gruppe mit mittlerem mehr als doppelt so hoch war wie in der mit niedrigem HFRS.
Die neuen Daten bilden Liman zufolge zwar noch keine ausreichende Basis für Änderungen der empfohlenen Vorgehensweise bei älteren Schlaganfallbetroffenen. Sie seien aber ein guter Ausgangspunkt für kommende Studien, in denen der Einfluss von Gebrechlichkeit auf das Outcome nach verschiedenen Eingriffen weiter evaluiert werden soll. Und so viel steht laut Liman jetzt schon fest: "Das Alter sollte kein Einzelkriterium für Therapieentscheidungen sein."
Liman J. Schlaganfalltherapie beim geriatrischen Patienten: Grenzen und Perspektiven. Vortrag im Rahmen der Sitzung "Schlaganfall", 4.11.2021, 94. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Neurologie, virtuell auf www.dgnvirtualmeeting.org