Das Jahr 2020 wird als Jahr der Corona-Pandemie in die Geschichtsbücher eingehen. Damit überschattet COVID-19 wichtige Ereignisse, die es sonst in die Medien geschafft hätten. Auch in der Neuroimmunologie gab es Ereignisse, die im Schatten von Corona relativ unbemerkt blieben. In einem lesenswerten Editorial in der Januar-Ausgabe des Lancet Neurology bringen es die französischen Wissenschaftlerinnen Elisabeth Maillart und Cathrine Lubetzki auf den Punkt: Sie nennen das Jahr sinniger Weise "un bon cru", grob übersetzt "ein guter Jahrgang" [1]. Auch wenn die diskutierten Fortschritte durch eine französische Brille gesehen werden, beschreibt das Editorial treffend ein Phänomen: COVID-19 überschattet viele wichtige wissenschaftliche Entwicklungen.

In der Neurologie erhielten insbesondere Berichte zu COVID-19 und Multiple Sklerose (MS) eine breite Aufmerksamkeit, obwohl die Inhalte relativ unaufregend waren: Mit einer MS ist kein erhöhtes Infektionsrisiko verbunden, der Verlauf einer COVID-Erkrankung ist nicht von einer Immuntherapie abhängig, sondern - wie in der Allgemeinbevölkerung auch - durch klassische Risikofaktoren wie Alter, Adipositas, Hypertonus sowie sonstige Komorbiditäten beeinflusst, und es gibt keinen Grund, von den geltenden Therapiealgorithmen abzuweichen.

Viele bemerkenswerte Studien

Für die Neuroimmunologie viel spannender - wenn nicht sogar bahnbrechend - ist die für die mRNA-Impfstoffentwicklung gegen SARS-CoV-2 verwendete Technologie. Weit vor COVID-19 war eine systemisch verabreichbare liposomale Formulierung eines mRNA-Vakzins (mRNA-LPX) von Antigenen der Antigen-präsentierenden Zellen des lymphatischen Gewebes (CD11c+) entwickelt worden [2, 3]. Während die "genuine" mRNA zu einer starken Aktivierung von T-Helfer-Zellen 1 (TH1) über die Aktivierung von Toll-like-Rezeptoren (TLR) führt, vermittelt eine modifizierte mRNA eine Aktivierung ohne inflammatorische Komponente. Die Mainzer Arbeitsgruppe um den Biontech Chef Ugur Sahin zeigt damit [3], dass dieser mRNA-Impfstoff auch bei der MOG-EAE (einem Tiermodel der MS) zu einer starken antiinflammatorischen Antwort führt. Und das wäre sensationell: bei ersten Anzeichen einer MS-Erkrankung einfach dagegen impfen - und geschützt sein. Das Paper ist zu Recht in Science erschienen - besser publizieren geht nicht. Wir haben diese Arbeit für Sie auf Seite 10 zusammengefasst.

Eine weitere bemerkenswerte Studie ist die zehnjährige prospektive Beobachtungsstudie von 277 Menschen mit einem radiologisch isolierten Syndrom (RIS) [4]. Hier zeigte sich, dass die Wahrscheinlichkeit, innerhalb von zehn Jahren ein klinisches Ereignis zu erleben, bei 51 % liegt. Die Arbeitsgruppe konnte vier prognostische Kriterien herausarbeiten, die - sofern alle vier Kriterien parallel vorliegen - die Wahrscheinlichkeit, in zehn Jahren an einer MS zu erkranken, auf 87 % ansteigen lassen.

Ein neuer Weg zur Behandlung der MS scheint die Blockade eines Tyrosinkinase(BTK)-vermittelten Signalwegs zu sein, der die Aktivierung von B-Lymphozyten verhindert, ohne die ungewollten Effekte einer kompletten B-Zell-Depletion auszulösen. Mehrere Studien zeigen inzwischen übereinstimmend, dass es sich hier nicht nur um eine einzelne Substanz, sondern um eine neue Wirkstoffgruppe handelt, die nicht nur sehr wirksam, sondern auch noch ausgesprochen nebenwirkungsarm ist. Fast unbeobachtet befinden sich inzwischen fünf Substanzen dieser Gruppe in klinischen Studien [5].

Künstliche Intelligenz

Auch Myelin/Demyelinisierung/Remyelinisierung ist ein sehr spannendes Thema: In der Bildgebung des Myelins kommen jetzt mit Machine Learning und Deep Learning einfache Formen von Artificial Intelligence (AI) zum Einsatz. So erlaubt eine modifizierte MRT-Multisequenzechnik [6] die Darstellung qualitativer Veränderungen des Myelins über die Zeit, womit erstmals ein quantifizierbarer Progressionsmarker zur Verfügung stünde. Dies war bisher nur durch umfangreiche PET-Untersuchungen oder Biopsien möglich und damit für Studien ungeeignet. Und noch eine Entwicklung ist bemerkenswert, und dabei ist der Weg dorthin eigentlich beeindruckender als das Ergebnis: Durch die Anwendung von Deep Learning [7] gelang es, MRT-Gewichtungen so aufeinander folgen zu lassen, dass Areale, die mit hoher Wahrscheinlichkeit nach Gadolinum-Gabe signalintensiv wären, durch mathematische Algorithmen zu berechnen. Als Ergebnis kann auf die Gabe von Gadolinium verzichtet werden [8].

Und das war nur eine kleine Auswahl an innovativen Entwicklungen der letzten zwölf Monate. Auch wenn COVID-19 wesentliche Teile unseres Lebens blockiert - die medizinischen Entwicklungen sind offensichtlich unaufhaltsam, auch wenn sie im Schatten von COVID-19 stehen.,

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Prof. Dr. med. Volker Limmroth

Chefarzt der Klinik für Neurologie und Palliativmedizin Köln-Merheim

E-Mail: LimmrothV@kliniken-koeln.de

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Prof. Dr. med. Hans-Christoph Diener

Medizinische Fakultät der Universität

Duisburg-Essen

E-Mail: h.diener@uni-essen.de