Seit Beginn der COVID-19-Pandemie wurden mehr als 1.700 Fachartikel zu neurologischen Manifestationen von SARS-CoV2-Infektionen publiziert. Dabei noch den Überblick zu behalten, erscheint illusorisch. Ein Symposium auf der Arbeitstagung Neurointensivmedizin (ANIM) Anfang des Jahres 2021 bot eine gute Zusammenfassung des praxisrelevanten Wissens.

Bei den akuten Neuromanifestationen von COVID-19 unterscheidet man Prof. Dr. Julian Bösel, Neurologie, Klinikum Kassel, zufolge zwischen Enzephalopathien, Neuro- und Myopathien sowie der Meningoenzephalitis. Neurologische Schädigungen bei COVID-19 entstehen laut Bösel meist als indirekte Folgen einer SARS-CoV2-Infektion, durch systemische Inflammation, Gefäßschäden und Organversagen. Eine eher seltene Ausnahme bildet die Meningoenzephalitis. Die beruht auf einer direkten Invasion der Viren ins Gehirn. "SARS-CoV2 kann auf unterschiedlichen Wegen ins Nervensystem gelangen," erklärte Bösel. So könne das Virus beispielsweise über das olfaktorische Epithel und die Lamina cribrosa den Bulbus olfactorius erreichen. Auch die transsynaptische Ausbreitung entlang befallener Nervenbahnen ist möglich. Weiterhin kann der Erreger hämatogen transendothelial streuen oder sich, wie ein Trojaner in Leukozyten versteckt, durch die Blut-Hirn-Schranke schmuggeln (Abb. 1) [1].

Enzephalopathie häufig bei schwerem Verlauf

Eine systematische Metaanalyse umfasste 33 überwiegend aus China stammenden Studien mit insgesamt 7.559 COVID-19-Betroffenen im Zeitraum von Anfang Januar bis Anfang April 2020. Mehr als ein Drittel der Betroffenen hatten unspezifische neurologische Symptome wie Kopfschmerz, Schwindel, Übelkeit und Erbrechen. Spezifische neurologische Manifestationen wurden bei jeder zehnten von COVID-19 betroffenen Person berichtet. Dazu zählten unter anderem Schlaganfälle, Bewusstseinsstörungen und muskuläre Symptome [2]. In einer retrospektiven Serie mit 509 COVID-19-Fällen aus einem Klinikverbund in Chicago waren 42 % während ihres Klinikaufenthalts und 82 % im Gesamtverlauf der Erkrankung von neurologischen Manifestationen betroffen. Etwa ein Drittel der COVID-19-Erkrankten hatten eine Enzephalopathie. Diese war mit einem durchschnittlich um das Dreifache verlängerten Krankenhausaufenthalt, einer erhöhten Krankenhausmortalität und einem relativ schlechten Outcome assoziiert [3].

Die Behandlungsmöglichkeiten sind bei COVID-19-assoziierten Enzephalopathien im Wesentlichen auf symptomatische Maßnahmen beschränkt. Aus einer kleinen Fallserie kommen Hinweise auf mögliche positive Effekte intravenöser Immunglobuline (IVIG) [4].

Para- und postinfektiöse Muskel- und Nervenschädigung

Neuropathien und Myopathien sind bei COVID-19-Betroffenen, vor allem bei solchen mit schweren Verläufen, die einer intensivmedizinischen Behandlung bedürfen, häufig. Die typische Skelettmuskelaffektion ist klinisch durch Myalgien und Fatigue sowie eine erhöhte Serum-CK-gekennzeichnet. In großen Fallserien wurden bei 26-63 % aller COVID-19-Betroffenen Myalgien festgestellt [5]. Klinisch sind Myalgien Bösel zufolge kaum von der unter einer Behandlung auf Intensivstation (ICU) erworbenen Muskelschwäche "ICU-aquired weakness" zu unterscheiden. Schädigungen peripherer Nerven in Form eines Guillain-Barré- oder Miller-Fisher-Syndroms treten bei COVID-19 ebenfalls gehäuft auf, als Folge eines parainfektiösen Zytokinsturms und postinfektiös als zell- und antikörpervermittelte Neuropathie. Auch hier ist die Abgrenzung zu der auf Intensivstation häufig beobachteten Critical Illness Neuropathie oft schwierig. Unter der Behandlung mit IVIG trat in etwa drei von vier Fällen eine klinische Besserung ein [6].

Falsch verstandene Kampagne mit fatalen Folgen

Ob das Schlaganfallrisiko bei einer COVID-19-Erkrankung höher ist als bei anderen Infektionskrankheiten, lässt sich laut Prof. Dr. Götz Thomalla, Neurologie, Universitätsklinikum Eppendorf, Hamburg, noch nicht abschließend beurteilen. Ischämische Hirninfarkte treten vor allem bei Menschen mit schwerem Krankheitsverlauf auf. Morbidität und Mortalität seien bei Schlaganfallbetroffenen, die an COVID-19 erkrankt sind, höher als bei Menschen ohne Infektion. Die kardiovaskuläre Mortalität sei, so Thomalla, im Zuge der Pandemie gestiegen. Das belege unter anderem eine britische Studie [7]. Dabei stand jedoch nur ein geringer Teil der kardiovaskulären Mortalität in Zusammenhang mit COVID-19-Erkrankungen. Der größere Teil ist vermutlich auf die während der Pandemie beeinträchtigte Versorgungsqualität zurückzuführen, beispielsweise aufgrund der Neigung vieler Betroffener, nur zögerlich und oft verspätet Hilfe anzufordern und sich in Behandlung zu begeben.

In England und Wales starben während der Pandemie etwa ein Drittel mehr Menschen zu Hause oder in Pflegeheimen an einem kardiovaskulären Ereignis als vor der Pandemie [7]. Thomalla berichtete aus einer retrospektiven Analyse von Krankenkassendaten in Deutschland. Diese zeigt, dass während der Pandemie die Zahl der Krankenhausbehandlungen kardiovaskulärer Ereignisse um rund 10 % zurückging [8]. Das vor allem zu Beginn der Pandemie von staatlicher Seite propagierte "Bleib zu Hause und entlaste damit das Gesundheitssystem", wurde nach Thomallas Einschätzung oft falsch verstanden, mit fatalen Folgen.

Arbeitstagung Neurointensivmedizin (ANIM) digital, 38. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Neurointensiv- und Notfallmedizin (DGNI) und der Deutschen Schlaganfallgesellschaft (DSG), Workshop WS24 "COVID-19: Neurologische Intensiv- und Notfallmedizin", 23.1.2021