Viel wurde in den letzten Wochen über COVID-19 gesagt, geschrieben und diskutiert, sodass die Frage aufkommt, warum dieses Editorial der InFo Neurologie + Psychiatrie das Thema erneut in den Fokus der Aufmerksamkeit stellt. Zugegebenermaßen fällt es schwer, ein Editorial in der Mitte des Jahres 2020 zu schreiben, ohne erneut das Thema aufzugreifen. Den Einfluss der Pandemie und die daraus resultierenden Herausforderungen für das Gesundheitssystem und die Psychiatrie und Psychotherapie abzuschätzen oder vorauszusehen, ist aktuell noch nicht möglich. Diskussionen, ob durch die erforderlichen Maßnahmen (z. B. Isolationen, Schließungen von Ambulanzen und Praxen) und die anzunehmende Wirtschaftskrise psychische Erkrankungen zunehmen, sind aus heutiger Sicht spekulativ. Frühere globale Ereignisse, die eine Finanzkrise nach sich gezogen haben (z. B. 1929er-Krise mit dem schwarzen Freitag oder die 2008er-Lehmann-Krise), haben solche Entwicklungen begünstigt, aber in die Zukunft schauen kann niemand.

figure 1

© naka / stock.adobe.com

Aus diesem Grund gilt weiterhin, dass wir uns auf die optimale Diagnostik und Therapie konzentrieren und hier vor allem die evidenzbasierte Psychiatrie und Psychotherapie stets im Vordergrund der medizinischen Überlegungen stehen soll. Auch in dieser Ausgabe der InFo Neurologie + Psychiatrie findet sich wieder eine Vielzahl von diskutierten Studien in dem Spannungsfeld zwischen Evidenz, fehlender Evidenz und klinischer Praxis. Hier zeigt sich erneut, dass viele Studien leider die von uns gesetzten Erwartungen nicht erfüllen. Wir benötigen daher mehr öffentlich geförderte Studien. In einer Zeit, in der die Industrie unser Fach immer weniger auf der Agenda hat, bedarf es gemeinsamer öffentlicher Anstrengungen, um in Deutschland patientenorientierte Forschung in der Psychiatrie und Psychotherapie international konkurrenzfähig zu machen. Aufgrund der immensen Bedeutung der psychischen Erkrankung für die ökonomische Leistungsfähigkeit unseres Landes ist diese Forderung auch von allgemeinem Interesse.

Unter der Annahme, dass evidenzbasierte Medizin als Ergebnis von randomisierten, kontrollierten Studien die Basis einer optimalen Beratung, Diagnostik und Behandlung unserer Patienten darstellt, möchte ich nun doch einmal den Blick auf die COVID-19-Pandemie richten. Als evidenzbasiert arbeitender Mediziner und Wissenschaftler habe ich mit Interesse die Diskussion der Arzneimittelkommission der Deutschen Ärzteschaft zu Remdesivir von Ende Mai verfolgt [1]. Die großen Remdesivir-Studien wecken Hoffnung in der Bevölkerung, der Wissenschaft und der Politik, aber aus Sicht der evidenzbasierten Medizin werden Fragen aufgeworfen, wie zum Beispiel: Wenn der primäre Endpunkt negativ ist, dürfen weitere Endpunkte untersucht werden? Was ist ein klinisch relevanter Effekt? Welche Daten werden für eine Sicherheitsbewertung benötigt? Aufgrund der Akuität der Pandemie und der Todeszahlen in den USA hat die FDA eine Notfallzulassung erteilt. Die europäische EMA prüft im Moment ein vergleichbares Vorgehen. In der Vor-Corona-Zeit wäre die Studie wahrscheinlich als Negativstudie in einer Schublade verschwunden. In den letzten Jahren haben wir in diesem Zusammenhang, vor allem in Deutschland - nicht nur in der Psychiatrie und Psychotherapie, sonderen auch in der Neurologie - diskutiert, wann eine Studie positiv ist und wann ein Mehrwert für die betroffenen Personen vorliegt. Bestimmte Substanzen sind bei uns als Folge dieser komplexen Nutzenbewertung nicht verfügbar. Vielleicht ist die aktuelle Pandemie auch eine Chance für uns, in Zukunft neue Studien etwas wohlwollender und offener, frei von gesundheitsökonomischen Überlegungen, zu interpretieren und zuzulassen, sodass sich bei vorhandener Sicherheit (immer der entscheidende Punkt) kleinere Vorteile in Studien möglicherweise erst in der klinischen Praxis zeigen - natürlich mit dem Risiko, dass es dann doch keinen Mehrwert gibt und die postulierte Behandlung nicht mehr verfügbar ist. Aber, wenn immer a priori der Mehrwert einer neuen Therapie infrage gestellt wird, kann es keine Entwicklung geben.

figure 2

© Universität Augsburg

Prof. Dr. med. Alkomiet Hasan

Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik Universität Augsburg Medizinische Fakultät, BKH Augsburg Dr.-Mack-Str. 1, 86156 Augsburg E-Mail: alkomiet.hasan@med.uni-augsburg.de