Fragestellung: Nehmen psychische Erkrankungen bei Erwachsenen zu?

Hintergrund: Die Frage, ob die Prävalenzraten für psychische Erkrankungen in den letzten Jahrzehnten gestiegen sind, wird kontrovers diskutiert. Die Behauptung, dass es einen deutlichen Anstieg gibt, wird dabei oft durch Daten über die Nutzung psychischer Versorgung gestützt. Bisherige Arbeiten, die sich mit der Frage der zeitlichen Entwicklung psychischer Erkrankungen befasst haben, hatten oft methodische Schwächen — speziell im Hinblick auf die Generalisierbarkeit der Ergebnisse.

Patienten und Methodik: Der systematische Review mit Metaanalyse beruht auf bevölkerungsbasierten Querschnittsstudien mit mindestens zwei Messzeitpunkten. Eingeschlossen wurden Studien, die als Endpunkt psychische Erkrankungen auf der Grundlage von ICD- oder DSM-basierten Diagnosen, Symptom- oder Distress-Skalen erfassten. Es erfolgte eine systematische Literatursuche ohne zeitliche oder geografische Einschränkungen.

Ergebnisse: Aus 42 eingeschlossenen Studien wurden 44 Stichproben in die Metaanalyse aufgenommen, mit 1.035.697 Beobachtungen für den ersten und 783.897 Beobachtungen für den zweiten und letzten Messzeitpunkt. Unter Beachtung der hierarchischen Datenstruktur zeigte die Metaanalyse eine Erhöhung der Prävalenz für psychische Erkrankungen mit einer Odds Ratio (OR) von 1,18 (95%-Konfidenzintervall [KI]: 1,07–1,31). In Subgruppenanalysen für einzelne psychische Störungen zeigte sich ein Anstieg der Prävalenz von bipolaren Störungen (OR: 2,84; 95 %-KI: 1,60–5,03), Drogenabhängigkeit (OR: 2,00; 95 %-KI: 1,16–3,46), Medikamentenabhängigkeit (OR: 1,68; 95 %-KI: 1,19–2,37), Angststörungen (OR: 1,45; 95 %-KI: 1,06–1,99) und Depressionen (OR: 1,30; 95 %-KI: 1,06–1,59). Die Prävalenzen für Essstörungen, allgemeine psychische Erkrankungen, Belastungsstörungen und Alkoholabhängigkeit veränderten sich nicht oder nur geringfügig. Die weiterführende Metaregression wies darauf hin, dass neben der Art der psychischen Störung auch weitere Studienmerkmale, zum Beispiel geografische Region, Studienzeitraum und -qualität mit den Ergebnissen assoziiert sind.

Schlussfolgerungen: Die Daten zeigten einen geringen, jedoch statistisch signifikanten Anstieg psychischer Erkrankungen bei Erwachsenen. Die geringe Zunahme der Prävalenz kann am ehesten mit demografischen Veränderungen erklärt werden.

Kommentar von Oliver Bayer, Mainz

Die Frage lässt sich nicht mit einem klaren Ja oder Nein beantworten

Ein massiver Anstieg an psychischen Störungen, wie er in der Bevölkerung und mitunter auch von der Fachöffentlichkeit angenommen wird, kann auf der Grundlage dieser großen und methodisch sorgfältig durchgeführten Metaanalyse nicht bestätigt werden. Neben dem Blick auf den gepoolten Effektschätzer über alle psychischen Erkrankungen lohnt sich ein differenzierter Blick auf die Ergebnisse zu den einzelnen Störungen. Einen Hinweis darauf, dass die Primärstudien, die in der Metaanalyse zusammengefasst wurden, sehr heterogen sind, liefert der I-Quadrat-Wert. Mit 96 % liegt er deutlich über dem Schwellenwert für hohe Heterogenität von 75 %. Die gepoolten Schätzer der homogeneren Subgruppen liefern wichtige, weil gezielte Hinweise, welche psychischen Störungen in den letzten Dekaden zu- oder abgenommen haben. Allerdings erhöht die geringere Zahl der in den Subgruppenanalysen berücksichtigten Studien die statistische Unsicherheit.

Positiv anzumerken ist, dass die Autoren ihr Studienprotokoll vor der Durchführung der Metaanalyse in der Datenbank für prospektive systematische Reviews (PROSPERO) veröffentlicht haben [1]. Diese internationale Datenbank fördert wissenschaftliche Transparenz, indem sie ermöglicht, die geplanten Methoden mit den später publizierten Ergebnissen abzugleichen. So können Inkonsistenzen oder selektive Berichterstattung entdeckt werden. Bei dem vorliegenden systematischen Review hielten sich die Autoren an das registrierte Protokoll. Einzig die Studienbevölkerung wurde während der Durchführung leicht modifiziert und auf die Gruppe der Erwachsenen eingeschränkt, was in einem Protokollupdate transparent gemacht wurde.

Das vorliegende systematische Review mit Metaanalyse stellt eine qualitativ hochwertige Evidenzgrundlage dar. Die detaillierte Betrachtung der Metaanalyse macht deutlich, dass die eingangs formulierte Frage nach der Zunahme psychischer Störungen bei Erwachsenen trotz eines gepoolten Effektschätzers nicht mit einem klaren Ja oder Nein beantwortet werden kann.

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Oliver Bayer, MSc Epidemiologie, Mainz