Fragestellung: Ziel der vorliegenden Studie war es, die seltene Gruppe der juvenil erkrankten Huntington-Patienten (Erkrankungsbeginn vor dem 20. Lebensjahr) genauer hinsichtlich des Krankheitsverlaufs zu charakterisieren.

Hintergrund: Der Beginn der Huntington-Erkrankung korreliert invers mit der CAG-Repeat-Anzahl im Huntington-Gen. Große Beobachtungsstudien zeigten, dass auch der Verlauf der Erkrankung zu etwa zwei Drittel von der CAG-Repeat-Anzahl im Huntington-Gen abhängt [1]. Es gibt jedoch nur sehr wenige größere, systematische Untersuchungen zum Erkrankungsbeginn, der klinischen Präsentation und dem Verlauf der Erkrankung für die seltene Gruppe der juvenil erkrankten Huntington-Patienten.

Patienten und Methodik: In dieser retrospektiven Studie wurden Daten von 580 Teilnehmern aus zwei Beobachtungsstudien sowie zwei lokalen Datenbanken ausgewertet. Die Gruppe der juvenil erkrankten Huntington-Patienten wurde bezüglich ihrer Beschwerdesymptomatik bei Erkrankungsbeginn und des Erkrankungsverlaufs mit der Gruppe der adult Erkrankten verglichen und außerdem mithilfe einer hierarchischen Clusteranalyse in zwei Gruppen unterteilt: Teilnehmer mit besonders hoher CAG-Repeat-Anzahl im Huntington-Gen (high expansion, HE-Gruppe) oder geringer CAG-Repeat-Anzahl (low expansion, LE-Gruppe).

Ergebnisse: Von den 36 juvenil erkrankten Teilnehmern waren Gangstörungen ein typisches initiales Symptom in der HE-Gruppe 8 von 10), während in der LE-Gruppe eher ein Verlust der Geschicklichkeit der Hände (11 von 26) im Vordergrund stand. Weiterhin zeigten sich signifikante Unterschiede hinsichtlich Entwicklungsverzögerungen, Auftreten epileptischer Anfälle und schwerer Beeinträchtigung des Gangbildes, jeweils zu Ungunsten der HE-Gruppe. Der Erkrankungsverlauf war bei den juvenil betroffenen Teilnehmern schneller im Vergleich zu den adult Betroffenen und die mittlere Überlebenszeit signifikant kürzer.

Schlussfolgerungen: Huntington-Patienten mit besonders hoher CAG-Repeat-Expansion unterscheiden sich im klinischen Verlauf von Patienten mit niedrigerer CAG-Repeat-Expansion oder adult erkrankten Huntington-Patienten. Für diese aggressive Unterform der Huntington-Erkrankung wird eine Reklassifikation vorgeschlagen.

Kommentar von Carsten Saft, Bochum

Seltene, aber besonders aggressive Form der Huntington-Erkrankung

Nur etwa 4–10 % aller Patienten mit Morbus Huntington erkranken vor dem 21. Lebensjahr und erfüllen damit die übliche Klassifikation als juvenil erkrankt [2]. Typischerweise handelt es sich dabei um einen Phänotyp mit im Vordergrund stehender Bradykinesie, auch Westphal-Variante genannt. Die Definition „juveniler Morbus Huntington“ ist relativ willkürlich gesetzt, die Einteilung erscheint eher historisch begründet und wird häufig etwas unscharf auch gleichgesetzt mit einem eher bradykinetischen Phänotyp, der aber auch in höherem Alter auftreten kann. Darüber hinaus werden Patienten auch dann noch oft als „juvenil“ bezeichnet, wenn sie schon viel älter sind, die Symptomatik aber noch vor dem 21. Lebensjahr begonnen hat. Dies führt dazu, dass die Prävalenz der juvenilen Huntington-Erkrankung tatsächlich in vielen Arbeiten überschätzt wird.

Es wird daher zur Zeit tatsächlich, wie in der Arbeit gefordert, diskutiert, eine Reklassifikation vorzunehmen. So wird diskutiert, nur eine pädiatrische Form der Huntington-Erkrankung abzugrenzen für alle Patienten jünger als 18 Jahre und ansonsten altersunabhängig phänotypisch einen eher brady- oder hyperkinetischen Typ zu unterscheiden. Damit wäre die Anzahl der Patienten für diese Sonderform deutlich geringer. Auch der in dieser Arbeit beschriebene besonders aggressive Verlauf der Erkrankung bei besonders früh Erkrankten wäre dann besser abgegrenzt. Dies ist insbesondere hinsichtlich der Zulassung potenzieller zukünftiger Therapien relevant. Die Zulassungsbedingungen können bei einer häufigeren kindlichen Unterform zusätzliche Studien notwendig machen, die Häufigkeitsangaben könnten derzeit aber letztlich aufgrund der bisherigen „falschen“ Interpretation von Daten bestehen. Die Diskussion ist daher nicht nur rein akademischer Natur. Große Verlaufsbeobachtungsstudien werden in Zukunft hoffentlich helfen, genauere Zahlen zu liefern.

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Prof. Dr. med. Carsten Saft, Bochum