Fragestellung: Hat das Antihistaminikum Clemastin eine remyelinisierende Wirkung bei der Multiplen Sklerose (MS)?

Hintergrund: In Deutschland sind 17 Präparate zur MS-Immuntherapie zugelassen, die über unterschiedlichste Wirkmechanismen Entzündungsprozesse beeinflussen, aber allesamt keine direkten regenerativen Effekte haben. Dabei existieren in MS-typischen demyelinisierten Marklagerläsionen Oligodendrozyten-Vorläuferzellen (OPC), die (teils extensiv) remyelinisieren, jedoch diese Fähigkeit im entzündeten ZNS-Milieu vorzeitig einbüßen. Experimentellen Studien zufolge fördert der ZNS-gängige H1-Antagonist Clemastin die Remyelinisierung durch OPC und stimuliert die Regeneration in MS-Tiermodellen, ohne immunmodulatorisch zu wirken.

Patienten und Methodik: In die monozentrische, doppelblinde, randomisierte, placebokontrollierte Cross-over-Phase-2-Studie ReBUILD (Assessment of Clemastine Fumarate as a Remyelinating Agent in Multiple Sclerosis, NCT02040298) wurden Patienten mit einer schubförmigen MS mit leichten Einschränkungen und chronischer Optikusneuropathie rekrutiert. Einschlusskriterien waren eine uni- (oder bi-)lateral auf ≥ 118 ms verzögerte P100-Latenz (visuell evozierte Potenziale/VEP), Erkrankungsdauer < 15 Jahre, und eine retinale Nervenfaserdicke (RNFL) von ⁥ 70 μm. Eine symptomatische 4-Aminopyridin-Therapie war nicht erlaubt; eine gegebenenfalls bestehende Immuntherapie wurde unverändert weitergeführt. Die Patienten erhielten entweder für drei Monate Clemastin (10,72 mg/Tag) und anschließend zwei Monate Placebo oder umgekehrt. Die Effekte wurden durch VEP, Niedrigkontrastvisus, optische Kohärenztomografie (OCT), MRT/Spektroskopie, Kognitions- und Fatigue-Evaluation erfasst. Der primäre Endpunkt war die Veränderung der P100-Latenz.

Ergebnisse: Insgesamt wurden 50 Patienten rekrutiert darunter 46 mit bestehender Immuntherapie. Für die Clemastin- beziehungsweise Placebogruppe betrug bei Einschluss die VEP-Latenz im Schnitt 128,6 ms beziehungsweise 126,8 ms, der EDSS 2,2 beziehungsweise 2,1 Punkte, und die Krankheitsdauer 5,7 beziehungsweise 4,4 Jahre. Clemastin führte zu einer statistisch signifikanten P100-Latenzverbesserung um 1,7 ms/Auge (p = 0,0048), zu einer statistisch als Trend ausgewiesenen Verbesserung des Niedrigkontrastvisus um 0,9 Buchstaben/Auge (p = 0,085), und zu einer verstärkten Fatigue (p = 0,017; Mittelwerte). Die MRT/Spektroskopie-, OCT- und Kognitionsparameter zeigten keine Effekte. Im Studienverlauf gab es weder Schübe noch Abbrüche.

Schlussfolgerungen: Eine Clemastin-Therapie geht mit einer verbesserten Erregungsleitung entlang der Sehbahn einher, wahrscheinlich durch eine Remyelinisierung.

Kommentar von Orhan Aktas, Düsseldorf

Kein Meilenstein, aber Wegbereiter

Die Ergebnisse der ReBUILD-Studie sind für kommende — regenerative — Therapiestrategien von Bedeutung, für den Behandlungsalltag allerdings von geringerer Relevanz. Zu würdigen ist der klassische und hier musterhaft deklinierte Bench-to-Bedside-Ansatz, das innovative Cross-over-Studiendesign, der Einsatz von Clemastin zusätzlich zu einer Immuntherapie und der möglicherweise günstige Effekt auf den Niedrigkontrastvisus als wichtigen klinischer Parameter. Kritisch anzumerken sind die recht moderaten Effekte im primären Endpunkt (1,7 ms/Auge) und die verstärkte Fatigue als unerwünschte (und erwartete) Wirkung der Hochdosis-Clemastin-Therapie. Beide Aspekte stehen einem breiteren klinischen Einsatz im Wege, zumal es sich um eine Pilotstudie handelte und eine Bestätigung aussteht. Klinisch-wissenschaftlich sind die funktionellen und strukturellen Befunde der ReBUILD-Studie sehr aufschlussreich, im Kontext aktueller reparativer Ansätze mit unter anderem Opicinumab (anti-LINGO-1-Antikörper), Phenytoin und Erythropoietin [1]. Zudem stützen diese Resultate die Etablierung der Optikusneuritis als Phase-2-Paradigma für remyelinisierende Therapiestrategien bei der MS [2].

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Univ.-Prof. Dr. med. Orhan Aktas