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Die unter Leitung des US-amerikanischen Psychiaters David Kupfer erarbeitete Neuversion des US-amerikanischen Klassifikationssystems DSM-5, die auf der Jahrestagung der American Psychiatric Association (APA) vom 18. bis 22. Mai 2013 in San Francisco vorgestellt wurde, hat einige prominente Kritiker auf den Plan gerufen. Dazu zählt Allen Frances, der seine Kritik am DSM-5 in seinem kürzlich auf Deutsch erschienenen Buch „Normal“ [1] äußerte. Kern seiner berechtigten Kritik sind im Wesentlichen zwei Aspekte, die teilweise schon im Interview mit Professor Wolfgang Maier, dem Präsidenten der DGPPN, in der Mai-Ausgabe von InFo Neurologie & Psychiatrie angesprochen wurden:

  • Das DSM-5 befördere die weitere Inflation psychiatrischer Diagnosen, in dem es einerseits die Kriterien für mehrere Diagnosen lockere, statt sie zu verschärfen, und andererseits neue Diagnosen schaffe, die noch mehr „gesunde“ Menschen für krank erkläre. Auf Seite 8 haben wir für Sie daher einige wichtige Änderungen im DSM-5 übersichtlich zusammengestellt. Hier wird deutlich, dass an mehreren Stellen die Grenze zum Kranken weiter in den Bereich des Gesunden hinein verschoben wird.

  • Die Pharmaindustrie habe zu viel Einfluss auf das DSM-5 genommen, so dass es nicht nur zu einer Überdiagnostizierung, sondern auch zu einer Überbehandlung der Bevölkerung mit potenziell schädlichen Medikamenten käme. Auf Seite 12 stellen wir dazu eine Analyse der Industriebindungen der an der Erarbeitung des DSM-5 beteiligten Kliniker vor.

Prominente Kritiker

Ein weiterer Kritiker ist Thomas R. Insel, der Leiter der National Institutes of Mental Health (NIMH), der insbesondere bemängelt, dass das DSM-5 die Chance verpasst habe, einen neuen Weg der Klassifikation psychischer Erkrankungen einzuschlagen, der es ermöglichen könne, die Ursachen psychischer Störungen besser zu erforschen. Seine Kritik äußerte er in der New York Times, die am 6. Mai 2013 titelte „Psychiatry`s new guide falls short“. Sein Hauptkritikpunkt ist, dass das DSM-5 zwar für Kliniker hilfreich sei, psychische Erkrankungen zu kategorisieren, dass es aber nicht die biologische Komplexität vieler Erkrankungen berücksichtige und nicht hilfreich, sondern sogar schädlich sei, wenn es in der Forschung verwendet werde, um den biologischen und genetischen Ursachen der Störungen auf den Grund zu gehen. Diagnosen im DSM-5 sind in der Tat nichts anderes als Übereinkünfte von Experten, die mit den zugrunde liegenden Ursachen der Störungen nichts zu tun haben („die Biologie hat das DSM nicht gelesen“). Er geht sogar so weit zu sagen, dass das DSM-5 jeden Forschungsfortschritt verhindern wird. Allerdings lässt er es nicht bei dieser Kritik, sondern schlägt in einem Projekt des NIMH „Research Domain Criteria“ vor (nachzulesen im Director’s Blog auf http://www.nimh.nih.gov), die genetische, kognitive, Bildgebungs- und andere Befunde integrieren, um die Grundlage für ein neues Klassifikationssystem zu legen.

Voraussichtlich im Jahr 2015 soll die neue Version der International Classification of Diseases der WHO erscheinen, also die ICD-11. Es bleibt zu hoffen, dass hier zumindest einige der Fehler des DSM-5 nicht gemacht werden.

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Univ.-Prof. Dr. med. Klaus Lieb, Mainz