Zusammenfassung
Als fachdidaktisches Prinzip ist ‚Orientierung an fundamentalen Ideen‘ keine neue, gleichwohl eine Forderung, die in ihren curricularen und unterrichtlichen Implikationen z.T. unklar erscheint. Ausgehend von einer Kontrastierung mit Konzeptionen lokaler Ideen wird eine Neuinterpretation einer Orientierung an fundamentalen Ideen vorgeschlagen. In dieser Neuinterpretation wird dem Finden einer geeigneten Balance in doppelter Hinsicht eine zentrale Rolle für die fachdidaktische Forschung und den Mathematikunterricht der gymnasialen Oberstufe zugewiesen; einerseits zwischen dem ‚Vollzug‘ und der Reflexion mathematischer Handlungen und Tätigkeiten, andererseits zwischen der Gewährung von Kohärenzerfahrungen und dem Zulassen offener Differenzerlebnisse.
Abstract
Using fundamental ideas as guidelines in mathematics education is a rather old didactical principle. However, up to now its implications for curriculum planning and classroom activity haven’t been specified very precisely. By contrasting fundamental ideas with local ideas a revised interpretation of ‘guidance by fundamental ideas’ will be outlined as an alternative. This alternative emphasizes the importance of finding a balance within mathematics education research and classroom practice in the upper secondary school; both between ‘executing’ mathematics and reflecting mathematics and between experiencing coherence and undergoing non-sequitorial moments and alienation.
Notes
‚Verstehen‘ ist dann gleichzeitig der nächste Begriff, der in seiner didaktischen Verwendung eine nicht unerhebliche Unschärfe mit sich bringt. Auch hier werden im Verlauf des Textes weitere Eingrenzungsschritte vorgenommen.
Von denen bislang nur der erste Punkt angesprochen wurde. Auf die Bedeutung des zweiten und dritten Punktes komme ich im Folgenden zu Sprechen.
Bei Wartha (2009) besonders gut nachvollziehbar anhand der Aufgabe „Herr Brinkmeier“, auf die hier aus Platzgründen leider nicht näher eingegangen werden kann.
Zur Kritik vgl. Vohns (2005, S. 63/64).
Historisch ist das keineswegs angelegt gewesen, was der (auf natürliche Zahlen beschränkte) Zahlbegriff der griechischen Mathematik der Antike eindrücklich zeigt (vgl. Gericke 1970, S. 31/32).
Natürlich ist für die Erfahrung von Kohärenz- oder Differenz immer das In-Beziehung-Setzen von unterschiedlichen Themen nötig, allerdings besteht wenigstens für Grundvorstellungen das Hauptanliegen darin, dadurch den jeweils aktuellen Inhalt besser verstehbar werden zu lassen. Wenn Wartha u. Güse (2009) Beziehungen zwischen der Arithmetik von Brüchen und natürlichen Zahlen herstellen, dann nicht deshalb, weil die Schüler(innen) sich über diese Beziehungen äußern können sollen, sondern weil sie es zu einer gewissen Performanz im Bereich der Bruchrechnung bringen sollen.
Eine nähere Erläuterung erfolgt in Absch. 2.3.
In gewisser Weise kann das Forschungsprogramm der klassischen Stoffdidaktik geradezu als Versuch verstanden werden, der Schulmathematik eine eigenständige, ähnlich kohärente mathematische Hintergrundtheorie bereit zu stellen (Griesel 1972), vgl. ferner die kritische Auseinandersetzung mit diesem Ansatz in Vohns (2007, S. 70–86).
Der Titel der Arbeit lautet wohl nicht zufällig „Fundamental ideas—A bridge between mathemtics and mathematical education“.
Vgl. etwa Danckwerts (1988, S. 156).
Vgl. die Ausführungen am Anfang des Kapitels sowie ausführlicher Vohns (2007, S. 46–61.)
Zum Begriff der Aushandlung und der Notwendigkeit, Aushandlung ergebnisoffen bezüglich der Wertung über die Bedeutung der mathematischen Inhalte zu führen vgl. Fischer (2001).
Ich verwende hier den Terminus ‚globale Idee‘ von Peschek (2005), da es mir zunächst um eine bereichspezifische Idee der Linearen Algebra geht. Im Folgenden werden vielfache Bezüge zur ‚Idee der Zahl‘ aufgezeigt, beides ließe sich auf noch einmal höherer Abstraktionsebene unter einer Überschrift wie ‚fundamentale Idee der Quantität‘ zusammenfassen.
Hier wird bewusst auf eine Bezeichnung der Idee verzichtet, man könnte die Idee u.U. als ‚Kapselung‘ bezeichnen. Das scheint mir allerdings weniger zentral, da es mir um das Erfassen des Gedanken hinter der Kapselung geht, nicht um das Lernen der Bezeichnung.
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Vohns, A. Fünf Thesen zur Bedeutung von Kohärenz- und Differenzerfahrungen im Umfeld einer Orientierung an mathematischen Ideen. J Math Didakt 31, 227–255 (2010). https://doi.org/10.1007/s13138-010-0012-0
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