Die visuelle Wahrnehmung der Lehrkräfte stellt eine bedeutsame Aktivität unterrichtlichen Handelns dar und wird in den vergangenen Jahren als zentrale Dimension professionellen Lehrer*innenhandelns diskutiert. Mit dem Attribut professionell ist aufgeworfen, dass es um eine bestimmte Art und Weise von Wahrnehmung geht, die Angehörige einer Profession teilen respektive im Rahmen ihrer beruflichen (Aus)bildung entwickeln sollen. Für Sportunterricht – aber auch für außerschulische Felder des Sports – zeigt sich die Bedeutung der visuellen Dimension in spezifischer Weise, da Lehren und Lernen hier in der Regel in räumlich weiten und dynamischen Konstellationen stattfindet und im Unterschied zum Klassenraumunterricht Körper und Bewegung als Referenzpunkt zahlreicher Inszenierungen von Bildungsgelegenheiten fungieren (hierzu z. B. Klinge, 2019).

Konzepte professioneller WahrnehmungFootnote 1 verorten sich tendenziell entlang Expertise- und Kompetenzansätzen des Lehrer*innenberufs (z. B. Stürmer, Seidel, Müller, Häusler, & Cortina, 2017; vgl. in Hinblick auf das Unterrichtsfach Sport den Überblicksbeitrag von Reuker, 2012). Sie folgen in der Regel einem Anforderungsprofil für gute Unterrichtsqualität (z. B. Barth, 2017), welche dann wiederum einen Bezugspunkt für Professionalisierung im Sinne der Ausbildung und Förderung professioneller Wahrnehmung darstellt (z. B. Gold, Förster, & Holodynski, 2013). Auch für die Sportlehrer*innenbildung sind in den vergangenen Jahren mehr oder weniger umfangreiche Projekte entstanden, die Wahrnehmung einerseits empirisch untersuchen (z. B. Reuker, 2017, 2018; Erhorn, Langer, & Möller, 2020) und anderseits professionalisierungspraktisch schulen wollen (z. B. Jürgens & Neuber, 2018; Oesterhelt, 2018). Fokussieren strukturelle Kompetenzmodelle die Dispositionen, die dem Wahrnehmen und daran anknüpfenden Handlungsentscheidungen zugrunde liegen, nehmen insbesondere jüngere Ansätze stärker die Performanz in konkreten Anforderungssituationen in den Blick (zur Gegenüberstellung siehe Treisch, 2018, S. 23 ff.). Letztere versuchen auf diese Weise der Situationsabhängigkeit von kompetentem Handeln Rechnung zu tragen (z. B. Blömeke, Gustafsson, & Shavelson, 2015a; Santagata & Yeh, 2016; im Fach Sport Reuker, 2018). In einem Kompetenzmodell von Blömeke et al. (2015a) – welches im Beitragsverlauf knapp skizziert wird – stellt die selektive und bewusste Wahrnehmung einer unterrichtlichen Anforderung die Grundlage für eine angemessene Situationsdeutung dar, die dann zu einer begründeten Anschlusshandlung im Sinne einer Problemlösung führt. In der Weiterentwicklung dieses Modells führen Santagata und Yeh (2016) entlang ihrer Forschungsarbeiten aus, dass es Wissensbestände gibt, die für ein situiertes Wahrnehmen und Handeln entscheidend werden, aber präreflexiv („without deliberate reflection“) vorliegen (Santagata & Yeh, 2016, S. 163).

Eine praxeologische Verschiebung in der Betrachtung professioneller Wahrnehmung öffnet Perspektiven auf Aspekte der visuellen Dimension unterrichtlichen Handelns, die in den gegenwärtigen Konzepten handlungstheoretisch nicht in den Blick geraten. Zunächst hebt eine praxeologische Betrachtung – durchaus ähnlich zu horizontalen (Treisch, 2018, S. 128) Kompetenzmodellen – auf die Situiertheit von Handeln ab. In Differenz konzipiert ein praxistheoretischer Ansatz Denken, Wahrnehmen und Handeln nun weder entlang einer starken Handlungsakteurin und individuellen Fähigkeiten noch vor dem Hintergrund der Frage, inwiefern bestimmte Akteur*innen „besser handeln als andere“ (Blömeke, König, Suhl, Hoth, & Döhrmann, 2015b, S. 311). Er suspendiert normative Bezugsreferenzen eines mehr oder weniger kompetenten Agierens und rückt vielmehr Wissen, Funktionsweisen und die Handlungszwänge der Praxis selbst ins Zentrum der Betrachtung. Wissen und Können wird an die Praktik und damit an den Wahrnehmungsvollzug selbst und nicht an das wahrnehmende und handelnde Subjekt gebunden – absichtsvoll und rational handelnde Individuen rücken in den Hintergrund (Reckwitz, 2003; Schulz-Schaeffer, 2010).

Eine wissenssoziologische Akzentuierung in der praxeologischen Betrachtung – die sich insofern anbietet, als dass der visuellen Wahrnehmung gegenüber anderen unterrichtlichen Praktiken die beobachtbare, körperliche Dimension abgeht – fokussiert nun auf geteiltes praktisches Wissen im Denken, Wahrnehmen und Handeln. Anknüpfend an eine eigene Studie, die implizite wahrnehmungsleitende Wissensbestände der Sportlehrkräfte in Hinblick auf Schüler*innen rekonstruiert hat (Schiller, 2020a), sollen praktische Logiken und kollektiv geteilte Muster des Sehens in den Blick genommen sowie in den thematischen Diskurs getragen werden. Dazu werden zunächst ausgewählte Stränge zur professionellen Wahrnehmung dargestellt sowie Prämissen eines praxeologisch-wissenssoziologischen Zugangs zum Sehen skizziert. Im Anschluss werden dann entlang von ausgewähltem Datenmaterial der eigenen rekonstruktiven Studie Potenziale eines praxeologischen Zugriffs illustriert und abschließend konstruktiv diskutiert.

Konzepte professioneller Wahrnehmung

Die theoretische und empirische Feststellung professioneller Wahrnehmung stellt mittlerweile einen zentralen Diskursstrang (internationaler)Footnote 2 empirischer Bildungsforschung dar (z. B. Sherin & van Es, 2005, 2009; Sherin, Russ, Sherin, & Colestock, 2008; Seidel, Blomberg, & Stürmer, 2010; Gold et al., 2013; Gold, Hellermann, & Holodynski, 2016; Barth, 2017; Stürmer et al., 2017; Reuker, 2017, 2018; Treisch, 2018). Studien zeigen u. a. auf, dass Noviz*innen und berufserfahrene Lehrkräfte unterrichtliche Ereignisse unterschiedlich registrieren und interpretieren (z. B. Stürmer et al., 2017). Liegt der Aufmerksamkeitsfokus bei Noviz*innen tendenziell auf Aspekten der Lehr-Lern-Organisation im Sinne von „classroom management“, verändert sich die Wahrnehmung des Klassengeschehens mit Erfahrungszunahme dahingehend, dass Lern- und Verstehensprozesse im Sinne von Schwierigkeiten und Fördermöglichkeiten einzelner Schüler*innen in den Vordergrund geraten (vgl. hierzu auch Gold et al., 2013, S. 143 f.). Als Unterrichtswahrnehmung wird sie methodisch in der Regel videobasiert erhoben. Was auf diese Weise vor allem in den Blick gerät, lässt sich exemplarisch an Arbeiten aus der Sportunterrichtsforschung illustrieren. Reuker (2018) untersucht die wahrnehmungsbezogene Fähigkeit von Sportlehrkräften einer pädagogisch reflektierten Entscheidungsfindung im Unterricht und arbeitet entlang von Gruppengesprächen über Unterrichtsvideos heraus, dass Personengruppen mit ausgewiesener „pädagogischer Expertise“ (ebd., S. 46) ihre Aufmerksamkeit im Vergleich zu anderen Gruppen stärker auf die Unterrichtsgestaltung als Gesamte legen und permanent Handlungsalternativen zu den betrachteten Unterrichtssequenzen entwerfen. Andere Gruppen hingegen fokussieren tendenziell einzelne Handlungsschritte und entwerfen konkrete Interventionen (ebd.). Vor dem Hintergrund beispielsweise der Frage, inwiefern athletische Vorerfahrungen im Sinne motorischer Expertise Relevanz für den unterrichtlichen Blick hat, kommt sie zu dem Schluss, dass eine rein „motorische Expertise keinen bedeutsamen Einfluss auf die Fähigkeit der Entscheidungsfindung hat“ (ebd., S. 47) und „für konkrete Vermittlungsfragen keine hinreichende Voraussetzung“ darstellt (ebd., S. 48). Wie viele andere Arbeiten zur professionellen Wahrnehmung orientiert sich Reukers Konzept des professionellen Blicks der Sportlehrkräfte zunächst an den Arbeiten von Sherin und van Es (2005, 2009), die das Basiskonzept „professional vision“ von Goodwin (1994) für Unterrichtsforschung adaptieren. Diese modellieren ihr Konstrukt als bewusste, rationale Fähigkeit von einzelnen Akteur*innen interventionsrelevante unterrichtliche Prozesse selektiv zu erkennen („notice“, „selective attention“) und auf Grundlage professioneller Wissensbestände zu deuten („knowledge based reasioning“): „teachers’ professional vision involves the ability to notice and interpret significant interactions in a classroom“ (Sherin & van Es, 2009, S. 22).

In der Rezeption der Arbeiten von Sherin und van Es lassen sich mit Blick auf den Diskurs – verkürzt gesagt – zwei Linien unterscheiden. Manche Ansätze fassen Wahrnehmung als eigenständige Kompetenz (z. B. Seidel et al., 2010). Sie unterscheiden sich dabei sowohl in der Anzahl der Kompetenzdimensionen „als auch in der Beschreibung dieser, die meist unzureichend scharf voneinander abgegrenzt sind“ (Barth, 2017, S. 33). Davon unterscheiden sich nun Konzepte, die stärker auf die Bedeutung von Wahrnehmung innerhalb von situiertem kompetentem Handeln und damit auf eine Strukturdimension von Kompetenz abheben (z. B. Blömeke et al., 2015a). Reuker (2018) beispielsweise folgt mit dem professionellen Blick einem solchen Verständnis und konzipiert ihn als „Bindeglied zwischen den Voraussetzungen und dem Handeln von Lehrkräften“ (ebd., S. 36). Ansatzübergreifend wird kompetentes Wahrnehmen handlungstheoretisch als eine rationale und bewusste Fähigkeit konzipiert. Es bezieht sich auf (äußere) Normerwartungen angemessener oder guter Situationsbeurteilung und einer „reflektierten Entscheidungsfindung“ (Reuker, 2018, S. 37), wobei die Bezugsnormen multireferentiell sind, beispielsweise stärker fachlich, fachdidaktisch und/oder stärker pädagogisch orientiert. In jedem Fall gilt, dass sich professionelles Wahrnehmen in begründeten Anschlusspraktiken immer auch aposterior als kompetentes zu erweisen hat.

An das sog. PID-ModellFootnote 3 von Blömeke et al. (2015a) knüpfen in den Sportwissenschaften mittlerweile eine Reihe von Arbeiten zu professionellen Kompetenzen im Sportunterricht im Allgemeinen (z. B. Vogler, Messmer, Wibowo, Heemsoth, & Meier, 2018) und Wahrnehmung im Besonderen (z. B. Reuker, 2018; Erhorn et al., 2020) an. Es konzipiert Kompetenz als Kontinuum zwischen Dispositionen und Performanz (Abb. 1) und rückt situationsspezifische Fähigkeiten des Wahrnehmens, Deutens und Entscheidens als zentrale Strukturelemente kompetenten Handelns in den Fokus (vgl. Blömeke et al., 2015a, S. 6 ff.). Diese greifen zum einen auf ein Gefüge von wissensbezogenen und motivational-affektiven Dispositionen zurück. Zum anderen zeigen sie sich in beobachtbarer Handlungspraxis und sind demnach situationsabhängig und anforderungsspezifisch. Das Modell ist dabei linear konzipiert: Bestimmte Dispositionen (kognitive und motivational-affektive) grundieren und beeinflussen situationsspezifische Fähigkeiten, die dann in konkreten unterrichtlichen Lehrpraktiken zur Aufführung kommen (können/sollen).

Abb. 1
figure 1

Lineares Modell von Lehrer*innenkompetenz. (Eigene Abbildung, übersetzt und in Anlehnung an Blömeke et al., 2015a, S. 7)

In einem revidierten Modell („revised model“) fragen Santagata und Yeh (2016) die Linearität nun empirisch begründet an und sprechen sich für eine Bidirektionalität („bi-directionality“) aus, welches sowohl Schnittmengen und Überlappungen von WissensbeständenFootnote 4 und Performanz als auch deren Differenzen markiert (Abb. 2). Die situationsspezifischen Fähigkeiten werden hier stärker prozessual und reziprok gedacht:

Situation-specific skills function as the processes through which knowledge and beliefs become relevant in practice. At the same time, changes in competence would not be possible if teachers did not deliberately attend to and interpret practice and make decisions that create new knowledge and new beliefs. Therefore, practice offers opportunities both to refine perception, interpretation, and decision making and to increase one’s knowledge and change one’s beliefs (ebd., S. 163).

Abb. 2
figure 2

Revidiertes Modell von Lehrer*innenkompetenz. (Eigene Abbildung, übersetzt und in Anlehnung an Santagata & Yeh, 2016, S. 163)

In Situationen kommen bestimmte Dispositionen zur Aufführung. Gleichzeitig bilden sich in wiederkehrenden praktischen Konstellationen selbst Wissensbestände und Überzeugungen aus. Santagata und Yeh (2016) machen geltend, dass es sowohl bezogen auf Wissen und Überzeugungen als auch in Hinblick auf die (professionelle) Handlungspraxis Bereiche gibt, die sich nicht überlappen. Sie verorten hier sowohl diejenigen Bestände, die für die Praxis schlichtweg keine Relevanz entfalten als auch die (Lehr‑)Praktiken, in die Lehrkräfte eingebunden sind, ohne dass sie bewusst präsent sind („without deliberate reflection“, ebd., S. 163).

Das revidierte Modell von Santagata und Yeh (2016) optiert auf diese Weise für eine stärkere Berücksichtigung der Unterrichtspraxis selbst und markiert mit den überlappungsfreien Bereichen implizit blinde Flecken von Wahrnehmungskonzeptionen auf der Basis des PID-Schemas. Überwinden sie einerseits die Dichotomie von Disposition und Performanz entlang konkreter Fähigkeiten im situierten Handeln, führen sie andererseits die Performanz auf die Handlungsakteur*innen eng: Sowohl Wissensbestände und Überzeugungen als auch die situationsspezifischen Fähigkeiten als auch das beobachtbare Verhalten werden im Wesentlichen als subjektives Wissen, motiviertes Entscheiden und rationales Handeln einer einzelnen Person konzipiert. Eine praxeologische Perspektivierung von Wahrnehmen rückt demgegenüber das Wissen, die Funktionsweise und die Handlungszwänge der Praxis selbst ins Zentrum der Betrachtung. Eine weitere Ergänzung einer solchen Betrachtung ist die Betonung der produktiven Facette des Wahrnehmungsvorgangs: Sehen von etwas stellt praxeologisch die (soziale) Bedeutung des Gesehenen als etwas erst konstruktiv mit her (Schürmann, 2008; Göbel & Prinz, 2015). Dabei greift Handeln auf habitualisierte Sinnordnungen und geteilte Wissensbestände zurück, die bei den Trägern der Praktiken im Wesentlichen implizitFootnote 5 vorliegen. Für die Diskussion zu professioneller Wahrnehmung ist also zu berücksichtigen, dass das, was wir sehen und wie wir sehen, sowohl einerseits „durch komplexe historische Prozesse bestimmt“ (Wulf, 2014, S. 10) als auch andererseits durch die „lebensgeschichtliche Einmaligkeit und Subjektivität beeinflusst“ (ebd.) wird. Eine praxeologisch-wissenssoziologische Herangehensweise kann hierzu einen Beitrag leisten und ist Gegenstand der folgenden Kapitel.

Praxeologisch-wissenssoziologische Perspektive auf die visuelle Dimension unterrichtlichen Sportlehrer*innenhandelns

Praxeologische Betrachtungen von (Sport‑)Unterricht reklamieren handlungstheoretisch ein Primat der Praktiken (Röhl, 2016; vgl. hierzu auch Reckwitz, 2003). Im Unterricht zur Aufführung kommende und sich vollziehende Praktiken des Denkens, Fühlens, Sprechens und Tuns werden als von Menschen, Dingen, Körpern, Infrastrukturen und Symbolen gemeinsam hervorgebracht und geteilt getragen betrachtet (Schäfer, 2016). In einer wissenssoziologischen Fokussierung von professioneller Wahrnehmung ist weniger ein (Begründungs‑)Wissen über Ereignisse im Sportunterricht aufgerufen, als der Wahrnehmungsvollzug – das Wissen im Sehen – selbst. Mittlerweile liegen verschiedene theoretische und empirische praxistheoretische Ansätze visueller Wahrnehmung vor (z. B. Schürmann, 2008; Schmidt, 2012; Prinz, 2014), sodass hier nur Aspekte entfaltet werden könnenFootnote 6. Übergreifend folgen sie der Annahme, dass das Sehen nicht ausschließlich und zu allererst individuellem Wissen und Können folgt, sondern immer auch von soziokulturellen Wahrnehmungsmustern aufgespannt wird. „Bereits was Gegenstand des Sehens werden darf, wen oder was ich ansehe und erst recht, wie ich mich den (imaginierten) Blicken anderer präsentiere, ist abhängig von kulturellen Bedingungen“ (Rimmerle & Stiegler, 2012, S. 10 f.). Sehgepflogenheiten entscheiden dann als eine Art „Okular“ (Schürmann, 2008, S. 15) darüber, „wie und als was etwas sehbar wird“ (ebd.). Sehen findet in zum Sprechen analoger Weise Wirklichkeit erst dadurch vor, dass es diese performativ konstituiert. Es ist ein „aktives Verhältnis zur Welt“ (Bongaerts, 2017, S. 140) und auf diese Weise wesentlich an der (Re‑)Produktion und Transformation sozialer Ordnungen beteiligt (ebd., S. 137). Im Vollzug werden objektive, physische Gegebenheiten perzipiert sowie fortlaufend und unmittelbar deren Bedeutungsgehalte produziert. Handlungstheoretisch vermittelt eine solche Wahrnehmungskonzeption damit zwischen stärker subjektivistischen und stärker objektivistischen Ansätzen. Während Erstere die Individualität und Freiheit des Sehvorgangs und damit das Subjekt als alleinigen Konstrukteur des Gesehenen betonen, heben Letztere auf eine quasi-objektive Repräsentation von Welt ab (vgl. hierzu auch Schürmann, 2008, S. 9 f.). Wahrnehmen als Praxis zu betrachten, überwindet nun eine Aufspaltung in Reizaufnahme und -verarbeitung auf der einen und die interpretierende Bedeutungszuschreibung auf der anderen Seite. Prinz theoretisiert eine solche Verknüpfung objektivistischer und subjektivistischer Wahrnehmungskonzepte (2014, 2016) entlang der Leibphänomenologie Merleau-Pontys und den strukturalistischen Arbeiten Foucaults: Identifizierendes Wahrnehmen ist auf der einen Seite auf eine an den Leib und das Bewusstsein gekoppelte Wahrnehmungssyntax verwiesen: Bevor etwas als etwas wahrgenommen werden kann, müssen bestimmte Aspekte des Wahrnehmbarkeitsraums ausgeklammert werden und damit ein Wahrnehmungsfokus in Stellung gebracht worden sein (vgl. hierzu auch Schmidt, 2012, S. 59). Auf der anderen Seite erweisen sich die „diskursiven und nicht-diskursiven Formationen der Dispositive“ (Prinz, 2016, S. 193) – also das, was auf konkrete, historische Gestalten und Objektivationen die sprachlich mehr oder weniger benannt sind, verweist – konstitutiv für die Ausbildung eines Wissens darüber, als was etwas wie gesehen werden kann. Diese Formationen stellen die Semantik des Sehgeschehens bereit (vgl. hierzu auch Schürmann, 2008, S. 71 ff.). Der Leib verdichtet dieses Wissen und wendet es situativ an – sowohl in bekannten als auch in unbekannten Terrains. So zeigt er sich in der Lage, Wahrnehmungs- und Handlungsvollzüge an neue Umstände anzupassen (Prinz, 2016). Durch eine wiederkehrende „Konfrontation“ (ebd., S. 182) mit sichtbaren Dingen und Körpern im Sinne von „Gestalten“ (ebd.) bilden Subjekte eine „spezifische ‚Wahrnehmungskompetenz‘ oder einen ‚perzeptiven Sinn‘ aus“ (ebd.). Visuelle Repräsentationen im individuellen Bewusstsein haben dann „wahrnehmungskonstitutive Wirkung“ (ebd., S. 184).

Die Überlegungen lassen sich mit wissenssoziologischen Überlegungen Karl Mannheims (1964, 1969, 1980) verknüpfen. Dessen Lehre einer „Seinsverbundenheit“ des Denkens (Mannheim, 1969) integriert bereits zu einem sehr frühen Zeitpunkt soziologischer Theoriebildung subjektivistische und objektivistische Konzepte sinnhaften Handelns, indem sie menschliches Wissen einerseits grundsätzlich perspektivisch („standortgebunden“) und andererseits in konkrete historische soziokulturelle Verhältnisse („Erfahrungsräume“) eingebunden fasst (vgl. Mannheim, 1980). Handeln folgt nicht nur einem „intendierten Ausdruckssinn“ (Mannheim, 1964, S. 113) des Individuums und objektiven Sinngehalten geklärter und bekannter Handlungsregeln im Sinne von „common sense“. Wissen ist stark an die Erfahrungen und Erlebnisse gebunden, in denen es sich handlungspraktisch erstmalig und wiederkehrend ausgebildet hat. Bestimmte interaktive Konstellationen innerhalb eines Erfahrungsraums stellen für weitere, zukünftige Interaktionsgeschehen dann einen geteilten Erlebnishintergrund dar. Ein solch gleichermaßen standortgebundenes, geteiltes und praktisch erworbenes Wissen ist in vielen Aspekten vorbegrifflich und rahmt als ein atheoretisches Wissen (ebd., S. 73) dann auch das Denken, Wahrnehmen und Handeln. Es determiniert allerdings nicht menschliches Handeln, sondern eröffnet und begrenzt vielmehr Handlungsräume und -möglichkeiten. Geteilte atheoretische Wissensbestände erfahren mehr oder weniger EnaktierungFootnote 7, je nachdem, wie sich das Wissen sowohl zu theoretischem Regelwissen als auch zu Wissensbeständen, welche von anderen Akteur*innen getragen werden, verhält (Bohnsack, 2017, S. 54 f.). Dies lässt sich am Beispiel Schule und Unterricht verdeutlichen: Unterrichtliche Interaktionen folgen allerlei theoretischen Wissensbeständen im Sinne von Normen und Regeln. Gleichzeitig kommen zahlreiche routinierte Wissensbestände zur Aufführung, die auf verschiedenste Erfahrungshintergründe verweisen. In Hinblick auf die Realisierung von Unterricht zeigen sich dann immer wieder sowohl Konsistenzen als auch Inkonsistenzen zwischen theoretischen und atheoretischen Wissensbeständen (vgl. Asbrand & Martens, 2018, S. 22).

Welche praktischen Wissensbestände die Wahrnehmung der Sportlehrkräfte in Hinblick auf unterrichtliche Interaktionen mit Schüler*innen mitstrukturieren, hat eine eigene Studie empirisch herausgearbeitet (Schiller, 2020a). Aspekte eines solchen Identifizierungswissen sollen im weiteren Verlauf skizziert werden, um dann daran anknüpfend Potenziale einer praxeologisch-wissenssoziologischen Perspektivierung für den thematischen Diskurs zur professionellen Wahrnehmung zu diskutieren.

Praktisches Wissen der Sportlehrkräfte in Hinblick auf Schüler*innen im Sportunterricht

Zur Rekonstruktion wahrnehmungsleitender Wissensbestände

Mit der Wissensdimension eines Identifizierungswissens lässt sich die semantische Bedeutungsaufladung einer Wahrnehmung von etwas als etwas methodologisch fokussieren. (Verstehens‑)Praktisch fehlt dem Gebrauch des Sehsinns gegenüber dem sichtbaren praktischen Wissen der Körper im Gebrauch der Dinge eine beobachtbare und beschreibbare Außenseite. Stattdessen lässt sich performativitätstheoretisch eine Homologie zwischen sehender Identifizierung und deren semantischer Vergegenwärtigung annehmen (Schürmann, 2008, S. 16 ff.). Visuelle Wahrnehmung wird durch das aufgespannt, wofür wir Worte haben – sich etwas vor Augen führen als (retrospektive) Wirklichkeitskonstruktion ist sprachlich verfasst. Das orientierende Wissen ist ein sozial ausgehandeltes und erworbenes und individuiert sich praktisch in einer konkreten wahrnehmenden Person – sie ist die „performative Instanz“ (Schürmann, 2008, S. 19). In einer erzählenden Vergegenwärtigung von Erlebnissen und Erfahrungen zur Sprache gebrachtes Identifizierungswissen umfasst in der eingeführten praxeologisch-wissenssoziologischen Perspektivierung eine begrifflich-kommunikative und eine atheoretische Dimension (Bohnsack, 2017, S. 63 ff.): Die kommunikative Facette beschreibt den objektiven Sinn einer semantischen Identifizierung, welcher sich propositional explizieren lässt. Die atheoretische Dimension verweist auf routinierte Sehkonventionen, die handlungspraktisch darüber mitentscheiden, was auf welche Art und Weise (nicht) in den Blick gerät (vgl. hierzu auch Schmidt, 2012, S. 59 ff.).

Um wahrnehmungs- und handlungsleitende Orientierungen der Sportlehrkräfte in Hinblick auf Schüler*innen zu rekonstruieren, wurden narrativ-episodische Interviews mit zwölf Sport-Lehrkräften sowie zwei Nicht-SportlehrkräftenFootnote 8 geführt, anschließend transkribiert und schließlich entlang Verfahrensschritten dokumentarischer Interpretation (Bohnsack, 2014; Nohl, 2017) analysiert. Die erzählgenerierenden Stimuli evozierten Schilderungen aus den zuletzt unterrichteten Sportstunden, von Erfahrungen und Erlebnissen mit Sportklassen sowie Erlebnisse mit und Beschreibungen von einzelnen Schüler*innen. Die rekonstruierten Orientierungen ließen sich zu fünf Typen verdichten (Schiller, 2020a, S. 373). Darüber hinaus zeigten sich zwei typübergreifende Muster bei den Sportlehrkräften. Zwei ausgewählte Sichtweisen werden in der Folge entlang kurzen Sequenzabschnitten aus dem eigenen Datenkorpus skizziert, um im Anschluss daran die Relevanz praktischen Wissens für den thematischen Diskurs zur professionellen Wahrnehmung zu diskutieren:

Wahrnehmung von Schüler*innen zwischen Zuerkennung und Aberkennung

Ein zentraler und kollektiv geteilter Wahrnehmungshorizont der Sportlehrkräfte in Hinblick auf die unterrichteten Schüler*innen ist die Zu- und Aberkennung von Sportlichkeit. In die episodischen Schilderungen sind permanent habitualisierte Identifizierungen entlang sportbezogener Dispositionen eingelassen. Schüler*innen werden einzeln (KÖFootnote 9: „Sven ist, ist, ist sowohl im, äh ja, in allen Sportarten ist der wirklich, ist der einfach sehr gut.“) oder kollektiv (BR: „sehr nette Klasse ist, ne, sehr nette Kinder, sportlich“) entlang ihres sportmotorischen Könnens betrachtet. Dieses wird mal an Begabungen (WE: „Naturtalent“; KA: „Die Jungs auch alles talentierte Sportler“), mal an Neigungen (AD: „die leidenschaftlich gern Leichtathletik machten“; KÖ: „die machen alle gerne Sport“) und ein anderes Mal an besonderes Engagement (SI: „da sind die eigentlich sehr bemüht, das äh klappt da wirklich prima.“) zurückgebunden. Die Zuerkennungen fallen mal deutlicher (KA: „Emel, sehr, sehr sportlich“) mal reservierter (KÖ: „Lars ist auch ein Sonnenschein, also, aber Sport ist er eher zwei als eins, ne.“) aus und werden immer wieder auch an konkrete Sportarten rückgekoppelt (ST: „Volleyballer“; BR: „Fußballer“; MO: „Leichtathletinnen“), was sich auch in Sequenzen der Selbstthematisierung zeigt (DE: „Ich selber bin Basketballer“).

Aberkennungen zeigen sich vorrangig in Kontexten von Norm- und Erwartungsabweichung (ST: „ein Junge auch, der hatte die Arme dann auch so en bisschen falsch und ständig flog der Ball irgendwo ganz falsch durch die Gegend“). Sie sind auch, aber nicht ausschließlich sportlich konnotiert (BR: „die nerven mich auch, das kommt noch dazu, weil die sich überhaupt nicht bewegen“) und stehen in Sinnzusammenhängen mit anderen zugewiesenen Dispositionen (WO: „Wo sie letztendlich natürlich keinen Bock drauf haben“).

Zu- und Aberkennung erfolgt häufig relational (KÖ: „Sport ist er eher zwei als eins“, ST: „dass die Jungs da mehr [.], schneller dabei, gut dabei waren, als die Mädchen“). Einer Schülerin wird ihre Sportlichkeit aberkannt, indem sie von der gesamten Klasse abgegrenzt und als übergewichtig identifiziert wird (BR: „dass es eigentlich ne sehr nette Klasse ist, ne, sehr nette Kinder, sportlich, äh [ausatmend] gut ein Mädchen ist äh sehr übergewichtig“). Ein Schüler wird vor dem Hintergrund der Nichtumsetzung einer klaren pädagogischen Beauftragung durch die Lehrkraft als „unsozial“ markiert, denn er hat „immer absichtlich hart gepasst. Also, anstatt halt ihm da zu helfen, hat er immer absichtlich, äh, den quasi so versucht unterzubuttern“ (BI).

Zu- und Aberkennung zeigt sich in Bezug auf die starke Ausrichtung an Sportlichkeit als geteilte Sichtweise. Mit Blick auf den Modus sowie die handlungspraktische Dimension zeigten sich innerhalb der Sportlehrer*innenschaft nun typische Ausprägungen. In den Darstellungen des trivialisierenden Typs kommt es einerseits immer wieder zu reduzierenden und stigmatisierenden Identifizierungen, welche sich in den anderen Typen in der Form nicht finden (MO: „bestand nur aus Beinen; WO: „bei diesem kleinen Dicken“). Auf der anderen Seite entscheiden bestimmte Zu- und Aberkennungen über weitere unterrichtliche Umgangsweisen (BR: „die hätte normal bei den Jungen mitspielen können, hab ich auch schon mal bei den Jungen mitspielen lassen“). Zuerkennungen im pragmatischen Typ zeigen sich nun weniger im Modus exklusiver Orientierung, als vielmehr in einer lehrerleichternden Dimension. Eine sportstarke Schülerin wird als „Vorteil für den Sportlehrer“ markiert, da sie als Zugpferd für Andere fungiert (SI: „Da kann sie ihre Mitschüler auch durchaus mitreißen. Also hat schon ne tragende Rolle da, gerade bei den Mädels“). Im konformen Typ wird Zu- und Aberkennung stärker durch ein Kontinuum entlang der Pole Expertise und Nicht-Expertise gerahmt: Als zentrale Orientierungsfigur zeigt sich die Herstellung von Schüler*innenexpertise weitgehend unabhängig von bereits mitgebrachtem Können (GR: „Die müssen ja erstmal so n Grundstock aufbauen“). Gleichwohl bleibt der/die sportpraktische Experte*in das Leitbild („und was Wahnsinn ist, die kann einfach, die kann einfach wir- die kann wirklich alles, ne. Die kann nicht nur Ballsportarten oder sowas, die springt jetzt beim Weitsprung, da muss ich der ne Matte zusätzlich vorher hinlegen, damit sie nicht über die Weichbodenmatte springt“). Anders als im trivialisierenden Typ folgt auf ein Mehr an Expertise jedoch kein Mehr an Zuwendung (ST: „der Volleyballer stach natürlich raus, aber mit dem hatte ich in dem Sinne nicht viel zu tun, weil der, ähm, natürlich (…) alles schon konnte“). Auch in Fällen des partizipativen Typs werden Schüler*innen mitunter als abweichend von Identitätsnormen und Leitbildern identifiziert. Dies geht jedoch weniger mit einer Wertung als mit der Konsequenz für den eigenen Umgang (AD: „das wird n bisschen schwierig, da ne Motivation zu schaffen“) und die Anpassung unterrichtlicher Handlungsprogramme (KA: „da würden die Schüler mir relativ schnell abspringen“) einher.

Wahrnehmungsgebundene (Vor‑)Positionierungen von Schüler*innen

Die (vergleichenden) Zu- und Aberkennungen gehen mit einer weiteren strukturellen Facette der Wahrnehmungspraxis der Sportlehrkräfte einher, welche die Schüler*innenschaft in unterrichtlichen Konstellationen – propositional und performativ – spezifisch positioniert. In den episodischen Unterrichtserzählungen aber auch in Beschreibungen einzelner Schüler*innen werden diese mal stärker als Protagonist, mal stärker als Statist, mal stärker als Synergist und teilweise auch als Antagonist figuriert. Eine protagonistische Sichtweise beschreibt begrifflich eine Positionierung der Schüler*innenschaft als zentraler Bezugspunkt unterrichtlicher Aktivitäten (AD: „die haben sich für das Spiel entschieden“). Die Figur des Synergisten konstituiert Schüler*innen als eine Art Referenzgröße, mit der dann als Bezugspunkt und im Zusammenspiel ein bestimmtes Zielarrangement hergestellt wird (SI: „Und mit solchen Klassen machtʼs wirklich dann auch Freude, äh, Sportunterricht zu machen“). Die Figur Statist verweist zwar ebenfalls auf ein Zusammenspiel der unterrichtlichen Akteur*innen, allerdings steht – anders als der Protagonist und der Synergist – der Statist nicht im Zentrum des Geschehens. Er bekleidet eine nebensächlichere Rolle, wobei aus der Perspektive der Lehrkräfte auch diese zugewiesene Position zum Gelingen von Unterricht elementar beiträgt (DE: „dann kam die äh Übung, dass wir die, genau, an den Beckenrand geholt haben, nee, aus dem Becken raus, dann haben wir die Technik besprochen“). Eine antagonistische Sichtweise figuriert Schüler*innen schließlich als eine Art Gegenspieler der handelnden Lehrkraft. Der Antagonist begrenzt das eigene Handeln und gefährdet damit mehr oder weniger geplante Praxis (BR: „Die teil ich immer extra schon in andere Gruppen ein, aber die finden sich immer wieder. Irgendwann hängen die wieder zusammen und das regt mich auch immer auf“).

Auch diese beschriebenen Figuren zeigen sich in den typischen Wahrnehmungs- und Handlungspraxen unterschiedlich. Allerdings lässt sich nicht eine Figur trennscharf einem Typ zuordnen, was an einem Beispiel deutlich wird, welches im Rahmen der sich nun anschließenden Diskussion vorgestellt wird.

Diskussion

Die ausgewählten und knapp beschriebenen Sichtweisen deuten an, dass Wahrnehmen im Sportunterricht impliziten Logiken folgt, die für Lehr-Lern-Interaktionen Relevanz entfalten. Ein bestimmtes praktisches Identifizierungswissen rahmt die Wahrnehmung von und die Umgangsweisen mit Schüler*innen. „Noch bevor der Leib die Dinge, die ihm begegnen, überhaupt als handhabbare ‚Objekte‘ identifizieren, kategorisieren und benennen kann, hat er bereits ihre praktischen Anforderungen sinnlich-wahrnehmend ‚erfasst‘“ (Prinz, 2016, S. 189): Eine hintergründige rollenförmige Identifizierung als Sportler*in – und nicht etwa in der Rolle Schüler*in oder gar als Kind oder Heranwachsende – eröffnet und begrenzt Handlungsspielräume für begründetes und begründbares Unterrichten und entfaltet didaktisch präreflexiv und kollektiv geteilt eine zur „reflektierten Entscheidungsfindung“ (Reuker, 2018) vergleichbare Relevanz. Anschlusspraktiken an Identifizierungen zeigen sich dann in typischer Weise. Beispielsweise registriert ein Fall konformer Praxis „der Volleyballer stach natürlich raus“ und führt dann weiter aus „aber mit dem hatte ich in dem Sinne nicht viel zu tun, weil der, ähm, natürlich (...) alles schon konnte“ (ST). In Typ trivialisierender Praxis ist diese wahrnehmungsbezogene rollenförmige Identifizierung als Sportler (sic!) hingegen konstitutiv für unterrichtliche Zuwendung: „Ich hab ne (2) ne neunte Hauptschulklasse gehabt //mmh// und das waren sehr gute Fußballer. Einige im Verein, aber auch viele Straßenfußballer dabei. Und äh (2) ja ich weiß nicht, das war so en super-, ich hatte zu den Jungen, hatte ich en super Verhältnis. Weil ich eben auch viel äh diese Sachen gemacht hab“ (MO). Die Sichtweise entlang einer „habitualisierten Norm des männlichen Sportlers“ (Schiller, 2020b) rahmt hintergründig das unterrichtliche Handlungsprogramm. In Anknüpfung an das zweite Beispiel zeigt sich dann auch die didaktische Relevanz von wahrnehmungsbezogener Figuration: „Fußballer“ werden zu Protagonisten des Sportunterrichts. „Mädchen“ hingegen werden im Verlauf als Antagonisten skizziert: „Gut. Die Mädchen. Ich weiß nicht. Ich hab d‑, ich habs auch daher zum Teil aufgegeben, ne. Die hatten, ich weiß nicht, äh, vier Mal im Monat hatten sie ihre Regel, ne. Und äh, ich weiß nicht, was sonst noch alles für Gebrechen und Krankheiten“ (MO).

Die Genese der praktischen Sichtweisen der Sportlehrkräfte im Unterricht lässt sich unter anderem in außerschulisch biografischen Erfahrungsräumen sowie im interaktiven Erfahrungsraum Sportunterricht selbst suchen. Volkmann (2008) rekonstruiert beispielsweise „Anschlussverhältnisse“ (Volkmann, 2008, S. 92) des Lehrer*innenhandelns an konkrete biografische Erfahrungen u. a. des eigenen Sporttreibens. Ernst (2014) rekonstruiert ein sehr stabiles Selbstverständnis der Sportlehrkräfte „als Sportler“ (ebd., S. 64). Dass und wie diese handlungspraktisch wirkmächtig werden, ist wahrnehmungstheoretisch gut beschrieben: Auf Grundlage früherer Erfahrungen mit feldspezifischen visuellen Formationen entwickelt sich eine „spezifische perzeptive Syntax“ und ein „visuell Unterbewusstes“ (Prinz, 2014, S. 340), welches u. a. in der identifizierenden Anrufung von Schüler*innen zur Aufführung kommt (vgl. hierzu auch Schiller, 2020a, S. 441 ff.). Scheinbar hintergründig – und damit zunächst jenseits einer selektiven Aufmerksamkeit – reproduzieren sich in und durch Anschlusspraktiken Sichtbarkeitsordnungen, welche mit Blick auf die fachliche und pädagogische Ausgestaltung von Unterricht praktische Antworten auf Fragen liefert, die sportdidaktisch kontrovers und offen diskutiert werden, beispielsweise zu Zielen, Aufgaben, Inhalten und Methoden des Fachs.

Eine handlungstheoretische Weitung in Hinblick auf die praktische Verfassung von Sehen im Sinne von Sichtweisen kann den thematischen Diskurs zur professionellen Wahrnehmung in (mindestens) zweifacher Hinsicht befruchten: Blicklogik und Identifizierungen im konkreten Unterricht folgen immer auch habitualisierten, kollektiv geteilten und präreflexiven Wissensbeständen. Dieser Fokusverschiebung weg von der Einzelakteurin hin zu den Routinen der Praxis respektive der Unterrichtskultur scheint eine relativierende Funktion in Hinblick auf Anspruchslagen gegenüber professionellem Lehrer*innenhandeln inhärent. Unangemessenheit im Handeln respektive Inkompetenz wird in individuumszentierten und tendenziell intentionalistischen Ansätzen der einzelnen Lehrkraft zugewiesen. Die eigenen Ergebnisse sowie weitere Befunde einer Fachkulturforschung weisen nun darauf hin, dass fachdidaktisch und pädagogisch diskutable Wahrnehmungs- und Handlungsmuster häufig implizit vorliegen und damit auch in den Unterrichts- und Fachkulturen selbst zu suchen sind, in welche die Akteur*innen eingebunden sind. Dass im Sportunterricht tendenziell Sportler*innen wahrgenommen werden, erweist sich als kulturelle Ordnung.

So sind dann zweitens auch Herausforderungen der Reflexion solcher Muster aufgeworfen und damit eine zentrale Anfrage an Konzepte professioneller Wahrnehmung gestellt, die ja gerade den reflexiven Charakter von wahrnehmungsbezogener Entscheidungsfindung als Qualitätsmerkmal markieren (vgl. Reuker, 2018). Das Verhältnis von reflexivem und präreflexivem sowie explizitem und implizitem Wissen wird in Hinblick auf pädagogische Fragestellungen zunehmend diskutiert (vgl. beispielsweise Bittner & Budde, 2018). Empirisch weitgehend offen sind Fragen danach, ob und wie präreflexive Wissensbestände im Lehramtsstudium irritiert werden können. Für die Sportpädagogik gibt es unterschiedliche Befunde. Die Arbeiten von Meister (2018, 2019) zeigen, dass kurzfristige Irritationen habitualisierter Denk‑, Wahrnehmungs- und Handlungsschemata möglich sind. Die Arbeiten von Schierz, Pallesen, und Haverich (2018) aber auch von Ernst (2014) deuten an, dass spätestens zum Ende des Sportstudiums und zur Berufseingangsphase bewährte vorprofessionelle Routinen – und damit auch Wahrnehmungsgepflogenheiten – wieder greifen. Vor diesem Hintergrund lässt sich die Auseinandersetzung mit reflexiven und präreflexiven Anteilen der Wahrnehmung an gegenwärtige Professionalisierungsdiskurse (z. B. Schierz & Miethling, 2017) zurückbinden. Auch wenn Studien zunehmend nachweisen, dass Videofallarbeit im Lehramtsstudium zu einem besseren Verständnis von Tiefenstrukturen („higher levels of deep conceptual understanding“; Stürmer et al., 2017, S. 77) des Unterrichts führt, ist zu berücksichtigen, dass auch diese distanzierende Betrachtung auf bestimmte fachkulturelle Grundierungen rekurriert sowie standortgebunden ist. Sich diesen wahrnehmungsleitenden Wissensordnungen gewahr zu werden, kann vielleicht eine reflexive Steigerung der Videofallarbeit leisten: Das von Donald Schön auch im Kontext von professioneller Unterrichtswahrnehmung rezipierte „reflection in action“ (vgl. z. B. Barth, 2017, S. 59) gilt dann nicht nur für Praktiken des Unterrichts sondern, auch für Praktiken der Videofallarbeit im Lehramtsstudium selbst.

Bezogen auf Sportlehrer*innenbildung könnte es darum gehen, diese in den eigenen Arbeiten als durchaus wirkmächtig rekonstruierten Wahrnehmungs- und Handlungsgepflogenheiten (wieder) stärker ins Zentrum der Auseinandersetzung zu führen und damit tendenziell auf individuelle und explizite Wissensbestände ausgerichtete Ansätze zur Förderung professioneller Wahrnehmung für geteilte und implizite Wissensanteile zu öffnen. Gegenstand von Professionalisierung wären dann sowohl die beschreibbaren Phänomene von beobachtbarem und beobachtetem Unterricht als auch die kollektiv geteilten Hervorbringungsweisen solcher Beobachtungen und Beschreibungen selbst. De Boer (2009) hat entlang von Studienprojekten mit Studierenden gezeigt, dass sich durch eine reflexive Auseinandersetzung mit Sichtweisen auf Schüler*innen – zumindest kurzfristig – Veränderungen in der Wahrnehmung einstellen. Eine solche „Entdeckung von Routinen, Selbstverständlichkeiten, und Mustern“ (de Boer, 2009, S. 219), die in didaktischer Wendung dann auch beispielsweise danach fragt, wie Sportler*innen im Sportunterricht auch betrachtet werden können, scheint anschlussfähig an kasuistische Formate in der Sportlehrer*innenbildung.