Analog zur UN-Convention on the Rights of Persons with Disabilities (CRPD; United Nations, 2006) betont u. a. die Organisation der Vereinten Nationen für Bildung, Wissenschaft und Kultur (UNESCO, 2004), dass keine Schülerin und kein Schüler auf Grund einer Behinderung von der allgemeinen Schule ausgeschlossen werden darf. Auch wenn im deutschsprachigen Inklusionsdiskurs bisher noch keine „konsensfähige Definition dessen vorliegt, was denn nun unter Inklusion zu verstehen sei“ (Ahrbeck, 2014, S. 7; Cramer & Harant, 2014, S. 639; Musenberg & Riegert, 2015, S. 13), dürfte zumindest die bildungspolitische Intention des von den Vereinten Nationen adressierten Inklusionsbegriffs unstrittig sein: Um exegetische Spielräume einzudämmen, hat das UN Committee on the Rights of Persons with Disabilities (2016) eigens den General comment No. 4 herausgegeben, um insbesondere die Unvereinbarkeit der parallelen Existenz von Förderschule sowie allgemeiner Schule klarzustellen.

Unter der Überschrift Obligations of State Parties heißt es in Artikel 39 (CRPD/C/GC/4):

States parties undertake measures to the maximum of their available resources […] to achieving progressively the full realization of those rights. Progressive realization means that States parties have a specific and continuing obligation “to move as expeditiously and effectively as possible” towards the full realization of article 24. This is not compatible with sustaining two systems of education: mainstream and special/segregated education systems.

In diesem Sinne wird der Inklusionsbegriff in den internationalen APE-Debatten verwendet, um eine Lernumgebung bzw. eine inklusive Philosophie zu beschreiben (Block, 2016; Block, Giese, & Ruin, 2017, S. 233), in der alle Lernenden unabhängig von persönlichen Lernstilen („learning style“) oder spezifischen Bedarfen („unique educational needs“) im allgemeinem Sportunterricht („general physical education“ [GPE]) gemeinsam unterrichtet werden (Block et al., 2017; Haegele, 2019).Footnote 1 Wo segregative Lernumgebungen („self-contained education“) weiterhin bestehen, sollen diese zeitnah auslaufen (Wilson, Haegele, & Kelly, 2019). Im Gegensatz zum deutschsprachigen Inklusionsdiskurs, der nach Herz (2014, S. 4) in erster Linie als Schulstrukturdiskurs geführt wird, kann die normative Ausrichtung an diesem bildungspolitischen Paradigma im angloamerikanischen APE-Diskurs als weitestgehend unhinterfragt bezeichnet werden (Yell, 1995). In bildungspolitischen Gesetzgebungsverfahren werden diese Vorgaben beispielsweise im Special Educational Needs and Disability Act in Großbritannien, im Individuals with Disabilities Education Act in den USA oder im brasilianische Law on the Inclusion of Persons with Disabilities berücksichtigt (Block et al., 2017).Footnote 2

Werden infolge dieser Entwicklungen im internationalen Vergleich immer mehr Schülerinnen und Schüler mit Behinderung (SmB) inklusiv beschult, sind ähnliche Entwicklungen für die Bundesrepublik nur in Ansätzen zu erkennen. So ist der Inklusionsanteil von 2011 bis 2016 zwar von 25 % auf 39,3 % gestiegen (Kultusministerkonferenz, 2018),Footnote 3 da im selben Zeitraum allerdings auch die Anzahl an Lernenden, bei denen ein sonderpädagogischer Förderbedarf diagnostiziert wurde, gestiegen ist, hatte die Steigerung des Inklusionsanteils kaum Auswirkungen auf die absolute Zahl an Kindern auf einer Förderschule (Klemm, 2015, S. 6). Im internationalen Vergleich ist somit zu konstatieren, dass „Deutschland mit seinem hoch differenzierten Förderschulsystem einen Sonderweg“ (Klemm, 2009, S. 5) beschreitet, der sowohl im Rahmen der UN-Sonderberichterstattung zum Menschenrecht auf Bildung (Muñoz, 2007), im Rahmen der Staatenberichtsprüfung durch das UN Committee on the Rights of Persons with Disabilities (2015) als auch von der Monitoring-Stelle UN-Behindertenrechtskonvention überaus kritisch kommentiert wird (Deutsches Institut für Menschenrechte, 2019, S. 33).

Einleitend lässt sich festhalten, dass der internationale APE-Diskurs im Einklang mit den globalen UN-Guidelines die Differenzkategorie Behinderung fokussiert und die gemeinsame Beschulung von Lernenden mit und ohne Behinderung als ein nicht zu hinterfragendes bildungspolitisches und forschungsprogrammatisches Paradigma akzeptiert. Dem stehen im deutschsprachigen Inklusionsdiskurs eine segregierende Tradition sowie eine grundsatzkritische Inklusionsthematisierung entgegen. In einer konstruktiven Wendung ist zu fragen, wie der differenzierte deutschsprachige Wissens- und Erfahrungsschatz nicht als eine Verletzung völkerrechtlicher Verpflichtungen zu interpretieren ist, sondern als eine Bereicherung für eine international sichtbare sportpädagogische Inklusionsforschung.

Inklusionskritische Forschungsdesiderata

Kritische Anmerkungen zur Annahme einer uneingeschränkten Gültigkeit einer inklusiven Philosophie finden sich in den internationalen APE-Diskursen lediglich am Rande der Debatten. Für den weiteren Argumentationsgang sind dabei insbesondere die kritischen Anmerkungen von Atkins (2016) zentral, wonach bildungspolitische Rahmenvorgaben („educational policies“), die Teilhabe fördern sollen, auf einer individuellen Ebene gleichwohl Exklusionserfahrungen provozieren können, wenn SmB ihre individuellen Erfahrungen im GPE anders subjektiv rekonstruieren und bewerten, als es von den bildungspolitischen Rahmenvorgaben intendiert wird. In Anlehnung an Waldenfels (2002) und um die didaktische Unverfügbarkeit inklusiver Erfahrungen zu betonen, sprechen wir in diesem Kontext von den Bruchlinien der Inklusion.

Da weltweit immer mehr MmB in inklusiven Kontexten unterrichtet werden, ist es nach unserer Ansicht von zentraler Bedeutung, diese individuellen Bruchlinien der Inklusion unter empirischen Gesichtspunkten und explizit aus der Perspektive von MmB möglichst präzise zu bestimmen. Dieser Zugang folgt der allgemein- (Jakobs, 2009, S. 297) sowie sportpädagogischen (Giese, 2019a, S. 3) Annahme, dass es nicht (mehr) möglich erscheint, sich auf die Suche nach immanenten Inklusionshemmnissen zu begeben, ohne Wissensbestände der Disability Studies in den Blick zu nehmen (Giese, 2019b).Footnote 4 Forschungsprogrammatisch plädieren wir dafür, den temporal-fluiden und subjektiv rekonstruierenden Charakter subjektiver Teilhabeerfahrungen in den Blick zu nehmen (Buchner, 2018, S. 38). Es gilt zu erschließen, wie und wodurch sich diese subjektiven Rekonstruktionen in Zeit und Raum unterscheiden. Inklusion wird in diesem Zugriff nicht auf eine Reihe von äußerlich beobachtbaren Organisations- und Verlaufsmerkmalen reduziert, die – häufig in der wirkungsmächtigen Tradition des Index für Inklusion (Booth & Ainscow, 2011) – oberflächlich mithilfe von Checklisten (Deutsche Sportjugend, 2016; Deutscher Behindertensportverband, 2014; Hessisches Kultusministerium, 2016) oder in Form von Ratingskalen (Lieberman, Brian, & Grenier, 2019) erfasst werden, sondern bezieht sich auf subjektive Erfahrungen, die mit qualitativen Forschungsmethoden von innen heraus freigelegt werden müssen (Atkins, 2016; Ruin & Meier, 2018).

Der Beitrag ist dazu in drei weitere Hauptkapitel („Zum Forschungsstand: Rekonstruktionen inklusiven Sportunterrichts aus der Perspektive von SmB“, „Forschungsfeld Sportunterricht mit blinden und sehbehinderten Kindern und Jugendlichen“ und „Ein Forschungsaufruf: Bruchlinien der Inklusion rekonstruieren“) eingeteilt. Im nachfolgenden Kapitel geben wir einen Überblick zum (inter‑)nationalen Forschungsstand zur subjektiven (Re‑)Konstruktion inklusiven Sportunterrichts. Darauf folgt (Abschn. Forschungsfeld Sportunterricht mit blinden und sehbehinderten Kindern und Jugendlichen) die exemplarische Darstellung eines Forschungsbereichs, der sich im (inter‑)nationalen APE-Diskurs als wissenschaftlich besonders virulent erwiesen hat und von uns als exemplarisch für die angedachten Forschungsaktivitäten betrachtet wird: die inklusionspädagogische Forschung mit blinden und sehbehinderten Kindern und Jugendlichen im GPE. Anschließend stellen wir in Abschn. „Ein Forschungsaufruf: Bruchlinien der Inklusion rekonstruieren“ einen Forschungsaufruf zur Diskussion, der vier zentrale Forschungsbereiche benennt. Unser Inklusionsverständnis ist dabei an die im internationalen APE-Diskurs wirkungsmächtige Interpretation von Stainback und Stainback (1996) angelehnt, die Inklusion als Zugehörigkeit, Akzeptanz und Wertschätzung aus der Perspektive der marginalisierten Person modelliert. Dieses Verständnis von Inklusion soll eine empirische Operationalisierung inklusiver Erfahrungen ermöglichen, um dadurch die „subjektive Inklusivität“ inklusiver Praktiken aus der Perspektive der sog. Betroffenen zu rekonstruieren (Haegele, 2019).

Zum Forschungsstand: Rekonstruktionen inklusiven Sportunterrichts aus der Perspektive von SmB

Laut Alquraini und Gut (2012) gehört der Sportunterricht neben dem Musik- und Kunstunterricht zu den ersten schulischen Unterrichtsfächern, in denen SmB mit ihren nichtbehinderten Peers im allgemeinen Unterricht gemeinsam unterrichtet wurden. Die inhaltliche Befürwortung und die empirische Basis, die für eine gemeinsame Beschulung im inklusiven Sportunterricht spricht, ist breit (Coates, 2011; Fitzgerald & Stride, 2012; Hodge, Lieberman, & Murata, 2012). Traditionell beschränken sich diese Forschungsaktivitäten allerdings auf die Perspektiven der Eltern (An & Goodwin, 2007; Columna, Cook, Foley, & Bailey, 2014), von Peers ohne Behinderung (McKay, Block, & Park, 2015; Obrusníková, Válková, & Block, 2003) oder von Lehrkräften (Tant & Watelain, 2016; Wilhelmsen & Sørensen, 2017). Die Ergebnisse zeichnen ein weitestgehend positives Bild des inklusiven Sportunterrichts (Qi & Ha, 2012) und zeigen, dass diese Gruppen eine tendenziell positive Einstellung zum inklusiven Sportunterricht haben (Tant & Watelain, 2016). Empirische Evidenz liegt auch zu der Frage vor, dass sich die Teilnahme von SmB am Sportunterricht nicht negativ auf Lernende ohne Behinderung auswirkt (Obrusníková et al., 2003).

Explizit zu beachten ist dabei allerdings, dass die Perspektive der SmB in der bisherigen Forschung kaum Beachtung erfährt. Analog zu den Grundannahmen der Disability Studies (Giese, 2019b) betont Ashby (2011), dass hier über MmB geforscht wird, wobei die Stimmen von professionellen Fachleuten betont und die Stimmen von MmB verborgen bleiben (Giese, 2019b; Ruin & Meier, 2018, S. 68).Footnote 5 Wie oben bereits diskutiert, dürfte allerdings unstrittig sein, dass gerade die Forschung aus der Sicht von SmB ihre eigene Relevanz und Dignität besitzt, um zu verstehen, ob inklusive Praktiken auch tatsächlich als vorteilhaft erachtet werden (Goodwin & Watkinson, 2000). Die vorliegenden Studien zur subjektiven Rekonstruktion inklusiven Sportunterrichts aus der Perspektive von SmB zeichnen demgegenüber ein differenzierteres Bild, das sich deutlich von dem der anderen befragten Gruppen unterscheidet (Haegele & Zhu, 2017). Coates und Vickerman (2008) und in jüngerer Zeit Haegele und Sutherland (2015) konnten in ihren Forschungsreviews zeigen, dass SmB den inklusiven Sportunterricht vor allem dann als vorteilhaft erachten, wenn sie positive soziale Erfahrungen machen konnten und wenn ihnen Auswahlmöglichkeiten zur individuellen Ausgestaltung motorischer Aufgaben angeboten wurden.

Ein großer Teil der SmB beschreibt jedoch negative Erfahrungen (Coates & Vickerman, 2008; Haegele & Sutherland, 2015), die primär dann entstehen, wenn sie den Eindruck gewinnen, dass sie von Menschen ohne Behinderung als Menschen mit differenten, unerwünschten oder fehlerhaften Körpern wahrgenommen werden (Fitzgerald, 2005; Giese & Ruin, 2018). Dies kann Mobbing, soziale Isolation und andere Formen der Diskriminierung, die sowohl von Lehrkräften als auch von den Peers begangen werden, auslösen oder verstärken (Coates & Vickerman, 2008; Haegele & Kirk, 2018). Die negativen Erfahrungen haben einen starken Einfluss auf die Einstellung von MmB zu ihren eigenen körperlich-motorischen Fähigkeiten, zum Sportunterricht im Allgemeinen sowie zu lebenslanger körperlicher Aktivität und können zu einem Rückzug aus Sportangeboten führen (Yessick & Haegele, 2019). Weil die beschriebenen De‑/Privilegierungsprozesse primär über implizite Körpernormen verhandelt werden (Ruin & Giese, 2018), dürften diese Prozesse im Sportunterricht sogar stärker ausgeprägt sein als in anderen schulischen Unterrichtsfächern (Haegele & Zhu, 2017). Da in den internationalen APE-Diskursen allerdings weitestgehend unhinterfragt davon ausgegangen wird, dass angemessen implementierte inklusive Praktiken zu positiven Erfahrungen bei MmB im GPE führen (Coates, 2011), erscheint es notwendig, das exkludierende Potenzial des Sportunterrichts stärker als bisher in den Blick zu nehmen, worauf beispielsweise Haegele (2019, S. 390) hinweist: „It appears that presupposing integrated placements are inherently inclusive may be a risky assertion“. Im deutschsprachigen Diskurs werden solche grundsatzkritischen Positionen von Giese (2016, S. 108) aus einer anthropologiekritischen Perspektive formuliert und auch Ruin und Giese (2018, S. 189) betonen, „dass dem Inklusionsprojekt im Handlungsfeld Schulsport vielfältige Hemmnisse entgegenzustehen scheinen und Exklusion quasi im Verborgenen fortgeschrieben wird“.

Gleichwohl ist zu betonen, dass die Forschungstiefe in diesem Bereich begrenzt ist. In dem Review von Haegele und Sutherland (2015) konnten lediglich 13 qualitative Studien ausgewertet werden, die zudem eine Vielzahl unterschiedlicher Behinderungen in den Blick nehmen. Verallgemeinerungen der Ergebnisse sind nur begrenzt möglich, und es sind weitere Untersuchungen erforderlich, um besser zu verstehen, wie Menschen mit unterschiedlichen Behinderungen und in unterschiedlichen Ländern die subjektive Inklusivität inklusiver Sportangebote rekonstruieren.

Forschungsfeld Sportunterricht mit blinden und sehbehinderten Kindern und Jugendlichen

Ein Forschungsbereich, den wir als forschungsprogrammatisch beispielhaft erachten und der in den letzten Jahren international an Bedeutung gewonnen hat, ist die Erforschung von Inklusionserfahrungen blinder und sehbehinderter Kinder und Jugendlicher (bsKJ) im GPE. Die Auswahl dieses Forschungsbereichs ist dadurch begründet, dass sowohl eine Vielzahl als auch eine große Breite an (inter‑)nationalen empirischen Befunden vorliegt, wofür es in anderen sonderpädagogischen Förderschwerpunkten bisher keine Entsprechung gibt. Untersucht wurden beispielsweise die Perspektiven bsKJ in unterschiedlichen Ländern darunter Alaskaner (Haegele & Buckley, 2019), Brasilianer (Alves, Haegele, & Duarte, 2018) und Südkoreaner (Haegele, Lee, Chang, & Lee, 2019b). Zudem wurden aber auch vielfältige thematische Perspektiven in den Blick genommen: unter anderem zum inklusiven Sportunterricht (Haegele & Zhu, 2017; Herold & Dandolo, 2009; Kurkova, Nemcek, & Labudova, 2015), zu subjektiven Teilhabeerfahrungen während des Sportunterrichts (Haegele, Hodge, Zhu, Holland, & Wilson, 2019a), zum Spitzensport (Haegele, Zhu, & Davis, 2017), zur Konstruktion des Körperbilds während des Sportunterrichts (Haegele & Zhu, 2019), zu Genderfragen (Haegele & Kirk, 2018; Haegele, Yessick, & Zhu, 2018b), zu selbstkonstruierten Identitäten bei Übergewicht (Haegele, Zhu, & Holland, 2019c), zur Unterstützung durch Hilfslehrkräfte (Haegele, Sato, Zhu, & Kirk, 2018a), zur körperlichen Aktivität im GPE (Giese, Teigland, & Gießing, 2017, 2019; Giese, Greiner, & Wagner, 2020; Haegele, Zhu, & Holland, 2019c) sowie zum Einfluss des Sportunterrichts auf die körperliche Aktivität im Erwachsenenalter (Yessick & Haegele, 2019).

Die thematische Breite sowie der Umfang der Forschungsaktivitäten ist einzigartig im Bereich der APE-Forschung, weshalb sich ein differenziertes Bild von den subjektiven Rekonstruktionen inklusiver Erfahrungen bsKJ zeichnen lässt. Dabei wird zunächst deutlich, dass im Gegensatz zu den positiven Erfahrungen häufiger und differenzierter negative Gefühle beschrieben werden. Zum Beispiel berichten bsKJ, dass es nicht ungewöhnlich ist, dass sie von Gleichaltrigen gemobbt oder ausgegrenzt werden (Haegele & Zhu, 2017; Haegele & Kirk, 2018; Lieberman, Robinson, & Rollheiser, 2006) oder dass sie von Sportlehrkräften explizit aus dem Unterricht ausgeschlossen werden, weil ihnen mangelnde motorische Fähigkeiten unterstellt werden (Haegele et al., 2019c; Haegele et al., 2019a). Darüber hinaus berichten bsKJ von Frustrationen und Enttäuschungen, weil sie sich von ihren Sportlehrkräften diskriminiert und herabgesetzt fühlen, wenn diese die soziale Dynamik beeinflussen, indem sie bestimmte Fähigkeitsideale – häufig implizit – kommunizieren, die im Hinblick auf bsKJ ein exkludierendes Potenzial entfalten können (Haegele et al., 2019c).

Insgesamt zeigt sich, dass Unterschiede zwischen Menschen mit und ohne Sehbehinderung im Sportunterricht tendenziell stärker wahrgenommen werden als in anderen Unterrichtsfächern (Haegele & Kirk, 2018; Haegele et al., 2019c). Gerade diese Art von negativen Erfahrungen in Bezug auf den eigenen Körper sowie im Hinblick auf die eigenen Fähigkeiten scheint von Relevanz zu sein, um dauerhaft ein negatives Körperbild sowie eine negative Grundhaltung zu Sport und Bewegung zu internalisieren. So bezeichnen blinde und sehbehinderte Erwachsene in einer Studie von Yessick und Haegele (2019) den Sportunterricht als eine verpasste Gelegenheit, um die Wertschätzung für körperliche Aktivität zu steigern und betonten, dass sie aufgrund dieser früheren negativen Erfahrungen als Erwachsene weniger aktiv sind.

Ein Forschungsaufruf: Bruchlinien der Inklusion rekonstruieren

Auch wenn die Übertragbarkeit der Ergebnisse auf andere sonderpädagogische Förderschwerpunkte als eine offene Frage bezeichnet werden muss, können die Untersuchungsergebnisse zu den Erfahrungen bsKJ im GPE eine inhaltliche und methodologische Orientierungshilfe für Forschungsvorhaben bieten, die sich mit Menschen mit anderen Behinderungen bzw. mit thematisch verwandten Forschungsthemen beschäftigen möchten. Dabei geht es darum, die Angemessenheit und den Nutzen des inklusiven Sportunterrichts für SmB zu verbessern. Zu den übergreifenden Forschungsfragen, die dabei helfen können, gehören: Was kann getan werden, um besser zu verstehen, was Sportunterricht für SmB sinnvoll, nützlich und angemessen macht? Welche Änderungen können am inklusiven Sportunterricht vorgenommen werden, um sicherzustellen, dass positive Erfahrungen wahrscheinlicher und negative Erfahrungen reduziert werden?

Um die Generalisierbarkeit der Forschungsergebnisse zu verbessern und für die Wirkmechanismen potenziell exkludierender Praktiken im GPE im Sinne der Bewusstseinsbildung nach Artikel 8 der CRPD („awareness-raising“) zu sensibilisieren, plädieren wir dafür, die Perspektiven von Menschen mit unterschiedlichen Behinderungen und aus unterschiedlichen Ländern (zur Beachtung der unterschiedlichen nationalen Ausprägungen von Schulsport) stärker als bisher zu berücksichtigen. Ziel ist, möglichst vielfältige Bruchlinien der Inklusion zu beleuchten, die von verschiedenen Menschen an verschiedenen Orten erlebt werden. Es geht in diesem Sinne darum, „to access the grammar of exclusionary processes“ (Giese & Ruin, 2018, S. 155). Im Folgenden stellen wir dazu vier Forschungsschwerpunkte zur Diskussion, die dem gemeinsamen inhaltlichen Anspruch folgen, subjektive (Re‑)Konstruktionen inklusiven Sportunterrichts explizit aus der Perspektive von SmB auf unterschiedlichen Ebenen zu erforschen.

Individuelle Bildungsentscheidungen verstehen

Wie zuvor erwähnt, wurden in den letzten 30 Jahren an den Rändern der APE-Diskurse Bedenken hinsichtlich der generellen Angemessenheit des inklusiven Sportunterrichts geäußert (Block, 1999; Lavay & Depaepe, 1987). Inklusiver Sportunterricht wurde beispielsweise problematisiert, wenn SmB in inklusiven Settings unterrichtet werden, ohne dass Unterrichtsinhalte angepasst oder Unterstützungsleistungen angeboten werden (Haegele, 2019; Lavay & Depaepe, 1987). Dies kann dazu führen, dass SmB nicht erfolgreich lernen und nur wenige positive soziale Kontakte mit Peers haben (Goodwin & Watkinson, 2000; Haegele & Sutherland, 2015). Solche Vorbehalte werden auch im deutschsprachigen Inklusionsdiskurs diskutiert und führen zu der Frage nach der subjektiven Wahrnehmung des angemessenen Beschulungsorts, damit Bildungs- und Lebensziele optimal erreicht werden können. Im Kontext US-amerikanischer APE-Diskurse argumentieren Wilson et al. (2019, S. 2), dass „concerns about the status of placement decisions in physical education for students with disabilities warrant conversation among scholars“.

Forschungsprogrammatisch plädieren wir vor diesem Hintergrund dafür, Bildungsentscheidungen („educational placement decisions“) explizit aus der Perspektive von SmB zu erforschen, um besser zu verstehen, welche individuellen Barrieren im GPE wahrgenommen werden.Footnote 6 Erkenntnisse im US-amerikanischen Diskurs deuten darauf hin, dass Bildungsentscheidungen nicht durchgehend an den Bedürfnissen der Lernenden ausgerichtet werden, sondern auch von der Ressourcenkonstellation und den üblicherweise exklusiven Vorerfahrungen der Sportlehrkräfte abzuhängen scheinen (Haegele, i. Dr.). Mehr Erkenntnisse darüber zu gewinnen, warum sich MmB an Bildungsübergängen, wo sich subjektive Konstruktionen zu konkreten Entscheidungen verdichten, für oder gegen eine inklusive Beschulung entscheiden, kann dazu beitragen, die subjektive Inklusivität inklusiver Praktiken besser zu verstehen. Auch wenn Bildungsentscheidungen „seit Längerem ein zentrales Thema der Bildungsforschung“ (Rabenstein & Gerlach, 2016, S. 206) sind, wurden MmB dabei bisher kaum berücksichtigt (Felbermayr, 2019, S. 179). Im deutschen Sprachraum liegt bisher nur eine einzige Studie zu inklusionsbezogenen Bildungsentscheidungen von MmB im Kontext des Sportunterrichts vor (Bödicker, 2020).

Inklusive Praktiken analysieren und subjektiv rekonstruieren

Um Missverständnisse zu vermeiden, sei betont, dass es nicht darum geht, inklusive Schulsettings abzulehnen (Giese, 2019a; Haegele, 2019). Im Gegenteil: Insbesondere dort wurden – wenn auch selten – positive Erfahrungen in der Literatur identifiziert. So scheint es sehr wohl möglich, dass ein gut geplanter und gut durchgeführter inklusiver Sportunterricht bedeutungsvolle und gewinnbringende Erfahrungen generieren kann. Dies stützt die Annahme, dass adäquat umgesetzte inklusive Praktiken positive Auswirkungen haben können, während schlecht umgesetzte inklusive Praktiken wahrscheinlich nachteilige Auswirkungen haben (Lieberman & Houston-Wilson, 2018). Wir wissen bisher allerdings zu wenig darüber, wie adäquat umgesetzte inklusive Praktiken – bei unterschiedlichen Behinderungen und in unterschiedlichen geographischen Regionen – im Detail aussehen müssen, damit sie möglichst positiv wirken.

In diesem Sinne geht es im zweiten Forschungsschwerpunkt darum, in der Praxis etablierte Inklusionsprogramme in Schule und Verein zu analysieren und deren subjektive Wirksamkeit mit qualitativen Forschungszugängen aus der Perspektive der SmB empirisch zu überprüfen, um relevante Kernelemente zu identifizieren und die Ergebnisse anschließend wieder zurück in die Praxis zu spiegeln. Bei der Auswahl und der Bewertung der inklusiven Praktiken, die analysiert werden, ist darauf zu achten, dass explizit die Perspektive von MmB Beachtung findet und keine oder doch zumindest keine ausschließliche Orientierung an Inklusionschecklisten erfolgt, die das Verhalten von Lehrkräften zwar häufig beeinflussen, die Innensicht der SmB aber weitestgehend unbeachtet lassen.

Multiperspektivisch rekonstruieren

Ein großer Teil der Forschung zu den subjektiven Konstruktionen inklusiven Sportunterrichts durch SmB verweist auf eine herausragende Bedeutung der sozialen Beziehung zu den Sportlehrkräften sowie zu den Peers (Coates & Vickerman, 2008; Fitzgerald, 2005). Dabei wird übereinstimmend davon berichtet, dass Sportlehrkräfte und Peers in der Regel dazu neigen, der Beschulung von SmB positiv gegenüber zu stehen (Block & Obrusníková, 2007; Tant & Watelain, 2016). Wie von Haegele und Sutherland (2015) herausgestellt, werden insbesondere die Perspektiven von SmB dabei allerdings kaum berücksichtigt. Vor diesem Hintergrund plädieren wir dafür, verstärkt zu erforschen, wie MmB in Relation zu Peers und/oder Lehrkräften das gleiche pädagogische Setting individuell rekonstruieren. Eine solche Forschungsausrichtung kann wichtige Erkenntnisse darüber liefern, (a) ob positive Dispositionen gegenüber dem Unterrichten von SmB die inklusiven Praktiken tatsächlich in der Form beeinflussen, dass sie von SmB als angemessen und sinnvoll erachtet werden, (b) ob eine Übereinstimmung zwischen allen Beteiligten besteht, wann der Sportunterricht als qualitativ hochwertig, angemessen und vorteilhaft angesehen wird und (c) wie Lehrkräfte, Peers sowie SmB spezifische Merkmale des inklusiven Sportunterrichts einschätzen (z. B. Unterrichts- und Unterstützungsstrategien, soziale Interaktionen zwischen den Beteiligten, die Anwesenheit von persönlichen Assistenzen etc.).

Intersektionale Perspektiven beachten

Untersuchungen zu Inklusionserfahrungen von SmB im GPE wurden bisher üblicherweise monosektional durchgeführt. Im Sinne der CRPD liegt der Fokus dabei exklusiv auf einer Identitätslinie, der eines Menschen mit einer Behinderung, während die Komplexität der Wechselbeziehungen mit anderen sozialen Identitäten (Geschlecht, Rasse, Sexualität, Religion etc.) nicht berücksichtigt wird. Die Forschung stützt sich dabei unausgesprochen auf die sicherlich kaum haltbare Vorstellung, dass Behinderung alle Nuancen inklusiver Erfahrung im GPE erklären kann (Coates, 2011; Haegele & Zhu, 2017). Als konzeptioneller Rahmen kann Intersektionalität helfen, zu verstehen, wie sich die Identifikation eines Individuums mit mehreren sozialen Identitäten auf die Rekonstruktion von Inklusionserfahrungen im GPE auswirkt (Crenshaw, 1991; Dagkas, 2016; Flintoff, Fitzgerald, & Scraton, 2008; Moodley & Graham, 2015). Dabei geht es auch darum, der fokussierenden Pointierung einer isolierten Vielfaltsdimension zu entgehen (Rulofs, 2014).

Die Erforschung intersektionaler Beziehungen hat in der internationalen Forschung zum allgemeinen Sportunterricht zwar eine gewisse Tradition (Azzarito & Solomon, 2005; Dagkas & Benn, 2006), erscheint in der internationalen APE-Forschung bislang aber unterrepräsentiert (Haegele & Kirk, 2018; Haegele et al., 2018b; Haegele et al., 2019c). Die vorhandenen intersektionalen Arbeiten in der APE-Forschung konzentrieren sich auf bsKJ und deren konstruierte Identität in Bezug auf Geschlecht (Haegele & Kirk, 2018; Haegele et al., 2018b) sowie Gewicht (Haegele et al., 2019c). Die Arbeiten zeigen, dass die Identifikation eines Individuums mit mehreren sozialen Identitäten die Erfahrungen im GPE maßgeblich beeinflusst. Im deutschen Sprachraum liegen keine Studien vor, die sich intersektional mit subjektiven Rekonstruktionen im inklusiven Sportunterricht mit MmB beschäftigen. Die Annahme, dass eine Rekonstruktion inklusiver Erfahrungen im GPE ausschließlich auf der Identitätslinie Behinderung beruhen könne, ignoriert die Aussagekraft anderer sozialer Identitäten, einschließlich derer, die aus der Perspektive sozialer Gerechtigkeit als Forschungsschwerpunkte identifiziert wurden (Walton-Fisette, Richards, Centeio, Pennington, & Hopper, 2019). Dies stellt eine wichtige Herausforderung für die zukünftige APE-Forschung dar. Außerdem sollte dieses Untersuchungsfeld über MmB hinausgehen und weitere soziale Gruppen im GPE einschließen (z. B. Transgender).

Fazit

Forschung zum inklusiven Sportunterricht mit SmB muss über normativ-ideologische und nichtempirische Perspektiven von inkludierenden oder exkludierenden Praktiken hinausgehen. Normativ-ideologisch legitimierte inklusive Praktiken haben, ermutigt durch die globalen UN-Vorgaben und die unhinterfragte Annahme, dass wir per se das Richtige tun (Yell, 1995), den Blick dafür verstellt, dass SmB im GPE häufig negative Inklusionserfahrungen machen, die den Standards Zugehörigkeit, Akzeptanz und Wertschätzung von Stainback und Stainback (1996) nicht genügen. Vor diesem Hintergrund plädieren wir dafür, Inklusion nicht nur oberflächlich anhand äußerlich sichtbarer Beobachtungsmerkmale zu erforschen, sondern mit qualitativen Forschungsmethoden aktiv nach empirischer Evidenz dafür zu suchen, dass die subjektiven Erfahrungen von MmB im inklusiven Sportunterricht auch tatsächlich inklusiv sind. Es geht um die Beachtung der Bruchlinien der Inklusion bzw. der subjektiven Inklusivität inklusiver Praktiken. Insgesamt soll dieser forschungsprogrammatische Aufruf dabei nicht als eine Aufforderung dazu missverstanden werden, Inklusion als Bildungsphilosophie abzulehnen (Giese, 2019a; Haegele, 2019). Stattdessen wollen wir vielmehr sicherstellen, dass Inklusion im (Sport‑)Unterricht tatsächlich inklusiv erlebt wird und dass momentane Mängel als Probleme aktueller inklusiver Praktiken identifiziert werden und nicht als Misserfolg der Idee.