1 Einleitung

Wenn man von der Position ausgeht, dass „eine Theoriebildung Sozialer Arbeit zu kurz greift, wenn sie nur ihre im historischen Prozess entwickelten Arbeitsfelder betrachtet“ (Scheu und Autrata 2011, S. 259) und stattdessen die Theoriearbeit zumindest auch anthropologisch orientiert und „in Relation zu Grundfragen des menschlichen Daseins zu konzipieren“ (ebd.) ist, dann ruft dies angesichts der technischen Entwicklungen der vergangenen zwei Jahrzehnte unterschiedliche Fragestellungen zum Verhältnis von Mensch und Technik auf. Für die (normative Theoriebildung) sind diese Fragestellungen relevant, weil es zu den normativen Zielvorstellungen der Sozialen Arbeit gehört, Menschen darin zu unterstützen, eine befriedigende und damit auch sinnvolle Teilhabe am Leben zu ermöglichen (vgl. auch Omlor 2023, S. 2).

Vor diesem Hintergrund nimmt dieser Beitrag die Habilitationsschrift von Peter Euler „Technologie und Urteilskraft. Zur Neufassung des Bildungsbegriffs“ (1999), ein Vierteljahrhundert nach ihrem Erscheinen in den Blick. Zentral aufklären will er mit seiner Schrift das „theoretisch unbewältigten neueren Verhältnisses von Bildung und Technik, das zum zivilisatorischen Grunddilemma avanciert“ (Euler 1999, S. 34) sei. Diese Schrift lässt sich angesichts der soeben aufgerufenen Grundfragen der Sozialen Arbeit gerade auch als ein Beitrag zur Grundlagentheorie bei weitem nicht nur, aber eben auch der Sozialen Arbeit lesen. Seine Ausgangsthese gibt Euler in der Einleitung transparent an. Seine Arbeit folgt der Vermutung, dass „die Beurteilung der Technologisierung auf prinzipielle Probleme in der Beurteilungsvoraussetzungen selbst stößt, d. h. mit Hinfälligkeiten der in Anspruch genommenen Kriterien des Urteilens konfrontiert ist, und damit erkennen muß, daß wir im aktuellen Prozeß Zeugen einer historischen Zäsur sind, die theoretisch begriffen zu werden fordert. Das verlangt wiederum, daß dieser geschichtliche Umbruch gerade von der Kritik, allemal kritischer Bildungstheorie einzuholen ist“ (Euler 1999, S. 7 f. – Herv. Im Original).

Das Jahr der Veröffentlichung der Habilitationsschrift (1999) lässt sich selbst als ein Jahr des technischen Umbruchs interpretieren. Denn in diesem Jahr wird der erste persönliche digitale Assistent auf den Markt gebracht, der über ein eingebautes Mobilfunkmodem verfügt. Damit wird das Zeitalter der mobilen Endgeräte (insbesondere Tablet-Computer und Smartphones) eingeläutet. Angesichts der vielfältigen Entwicklungen der vergangenen 25 Jahre lässt sich fragen, ob Eulers Veröffentlichung nur noch für die historische Forschung von Interesse ist. Dies könnte etwa deshalb der Fall sein, weil die technologische EntwicklungFootnote 1 und insbesondere auch die Veränderungen des Mensch-Umwelt-Verhältnisses qualitativ in einer Art und Weise vorangeschritten ist, dass die Veränderungen die Theoriearbeit Eulers bereits ein- und überholt haben. Oder verhält es sich gerade umgekehrt? Dann böte der Beitrag Eulers gerade die Möglichkeit, die Debatten bezüglich eines zeitgemäßen Bildungsbegriffs systematisch zu bereichern, weil er am Übergang in einen qualitativ neuen Abschnitt der Technikentwicklung über die Aktualisierung des Bildungsbegriffs reflektierte, die es ihm ermöglichte, Strukturen zu erkennen, die heute möglicherweise unter den vielfältigen Phänomenen verschüttet sind.

Für Letzteres spricht zunächst auch, dass Eulers Äußerungen hinsichtlich der technologischen Entwicklungen und der konkreten Phänomene, an die hier zu denken ist, äußerst aktuell klingen. So heißt es bei ihm in der Einleitung: „Vor allem die informationstechnischen Umstrukturierungen im Produktions- und Reproduktionsbereich machen vor nichts und niemandem halt. Sie verändern die Kinderinteressen und -wünsche, lösen massenhaft Angst vor Arbeitsplatzverlust und Umlernzwang aus und schaffen qua Internet und Multimediaangeboten explosionsartig neue Fakten, denen gegenüber kulturell und politisch Unzuständigkeiten und Unklarheiten entstehen. Gerade die Technologisierung im Bereich von Information und Kommunikation – keineswegs der einzige und wichtigste Bereich der Technologisierung – spielt in der Öffentlichkeit nicht nur wegen der Hoffnungen auf neue Produktionsformen und neue Märkte eine so überragende Rolle […]. Die ihr zuteil werdende Aufmerksamkeit ist bedingt durch die sichtbare und alltägliche Gegenwart (Information und Kommunikation tendenziell eines jeden zeigen sich in ständig neuen Apparaten im Alltag) und, darüber hinaus durch das, was hier technologisiert wird, nämlich ‚Intelligenz‘, also die Eigenschaft, die den Menschen vor allen anderen Kreaturen, aber auch gegenüber seinen Produkten, bislang einzig auszuzeichnen schien. Dazu kommt die Schaffung virtueller Welten, die mit gewaltig aufgeladenen Erwartungen nach Einlösung von ‚science fiction‘ belegt sind. Bei aller Dominanz des KI-Bereiches erschöpft sich darin keineswegs die umfassende Technologisierung“ (Euler 1999, S. 7).

Bevor ich im dritten Kapitel die Frage nach der Aktualität des Werks Eulers und im Hinblick auf ihren möglichen Beitrag zu einer aktuellen Bildungstheorie und damit auch Grundlagentheorie der Sozialen Arbeit abwägend diskutiere, möchte ich zunächst einen Einblick in den Argumentationsgang geben (Kap. 2). Angesichts der inhaltlichen Dichte, Fülle und des Umfangs der Habilitationsschrift Eulers kann dieser Einblick lediglich exemplarisch und kursorisch sein.

2 Zum Argumentationsgang in Eulers „Technologie und Urteilskraft“

Die folgenden sechs Unterkapitel stehen analog zu den Kapiteln Eulers „Technologie und Urteilskraft“ und damit auch analog zu den sechs großen Teilschritten seines Argumentationsgangs, die sich an die Einleitung anschließen.

In der Einleitung gibt Euler das Hauptanliegen seines Werkes transparent an. Es besteht darin, „die Konsequenzen der Verdrängung von Technik und Technologie in der kritischen Theorie der Kultur und der Bildung zu analysieren“ (Euler 1999, S. 13). Dieses Anliegen für die Theoriebildung ist verwoben mit dem praktischen Erkenntnisinteresse zum Widerspruch „des wachsenden Leidens der Menschen“ auf der einen Seite „bei gleichzeitiger Vermehrung der technologischen Möglichkeit, dieses Leiden längst zu minimieren, wenn nicht überflüssig zu machen“ (Euler 1999, S. 13) auf der anderen Seite.

Charakteristisch für Eulers Argumentationsgang ist, dass seine „Untersuchung immer eine Doppelbewegung zum Gegenstand hat: Selbstkritik der Bildung aus der Perspektive der aufgehobenen Verdrängung der Technik und Revision des Selbstbewußtseins von Technik aus der Perspektive, daß Technik faktisch bereits Weltbildung ist“ (Euler 1999, S. 14). Diese Doppelbewegung zieht sich durch die gesamte Schrift und wird unter wechselnden Fragestellungen und wechselnden Theoriebezügen wiederholt.

2.1 Zur Rekonstruktion von Bildung bei C. P. Snow

Euler baut seinen Argumentationsgang auf den Vortrag „The Two Cultures and the Scientific Revolution“ von C. P. Snow (1961) und die Skizzierung des sich in den Folgejahren anschließenden Diskurses zu diesem Vortrag auf. Bei aller nach Euler berechtigten Kritik am Vortrag Snows teilt er dessen These der „two cultures“. Demnach existieren „zwei einander unvermittelt gegenüberstehende Kulturen […]: eine geisteswissenschaftlich-literarische einerseits und eine naturwissenschaftlich-technische andererseits“ (Euler 1999, S. 14 f.).

Aus Sicht Eulers bestimme die dichotome Separierung der zwei Kulturen auch heute (1999) die konzeptionelle Vorstellung von Bildung im wissenschaftlichen wie auch öffentlichen Diskurs. Diese Vorstellung sei jedoch objektiv inadäquat, da „Naturwissenschaft und Technik scheinbar unaufhaltsam dabei sind, die Gesellschaft zu dominieren“ (Euler 1999, S. 14) und die geisteswissenschaftlich-literarische Kultur kaum noch eine Bedeutung in der Gesellschaft habe.

Es sei gerade „Snows pragmatisch-politische Problemsicht samt seiner darauf aufbauenden naiven Bildungsforderung“, die „am Selbstverständnis innerhalb der Sphäre der [klassischen Konzeption von – H. K.] Bildung“ rüttelt (Euler 1999, S. 21). Es ist dieses Rütteln, das Euler positiv bewertend hervorhebt, weil es die Frage nach der Notwendigkeit einer Aktualisierung des Bildungsverständnisses evoziere. Denn die Technologisierung verlangt „ein längst überfälliges angemessenes Technikverständnis. Dem steht nach wie vor ein bürgerlich gewachsenes Kulturverständnis [und damit auch Bildungsverständnis – H. K.] gegenüber, das zur Neubewertung von Technik nahezu unfähig scheint“ (Euler 1999, S. 31).

Wie auch in den noch folgenden Kapiteln die von Euler herangezogenen und diskutierten Theorien im Hinblick auf ihre Stärken und Schwächen dialektisch diskutiert werden, wird auch der Beitrag Snows von ihm abschließend abwägend bewertet: „Die Plausibilität von Snows These verdankt sich so gesehen einem doppelten Fehler. Zum einen setzt sie affirmativ auf die ohnehin als Mittel der Kapitalverwertung sich durchsetzende Potenz von Naturwissenschaft und Technik. Zum anderen verknüpft er diese Option mit der undialektischen Hoffnung auf einen vorkritischen Bildungsbegriff: der aber wiederum nicht in den klassischen einmüden darf. So sitzt er, populär und vielzitiert, in der Zwickmühle unkritischer Bildungshoffnungen. Das Thema der historisch überfälligen Neufassung des Bildungsbegriffs wird von ihm unwillentlich auf die geschichtliche Tagesordnung gesetzt. Die Bedeutung von Naturwissenschaft und Technik für die Bildung, und d. h. dialektisch auch der Bildung für Naturwissenschaft und Technik, ist zum historischen Thema der Epoche geworden und wird gleichwohl gegenwärtig überwiegend zwischen konservativem Klagen und funktionalistischer Akzeptanz verhandelt“ (Euler 1999, S. 31–32 – Herv. Im Original).

2.2 Zum Kapitel „Kritik und Bildung: ihr Problem mit der Technik“

Euler spürt auch im Kapitel „Kritik und Bildung: ihr Problem mit der Technik“ den beiden Positionen nach, die entweder über die technische Entwicklung klagen oder diese akzeptieren bzw. die Technologisierung emphatisch begrüßen.

Zunächst ruft er die Frage auf, „ob sie [die Philosophie im Allgemeinen und insbesondere die Kritische Theorie im Besonderen – H. K.] sich dem Problem der nach Snow überfälligen Anerkennung der technisch-wissenschaftlichen Kultur auf der Höhe ihrer Kritik gestellt und wie sie die Beziehung, das Wechselverhältnis von Bildung und Technik bestimmt hat“ (Euler 1999, S. 42). Zur Beantwortung der Frage setzt sich Euler vor allen Dingen mit den Beiträgen von Max Horkheimer, Martin Heidegger, Günther Anders, Herbert Marcuse, Theodor W. Adorno und Jürgen Habermas auseinander. Seine Antwort sei seiner Verhandlung des Werkes Horkheimers exemplarisch skizziert.

Euler arbeitet die Bedeutung des Beitrages hinsichtlich der Thematik des Verhältnisses von Technik und Bildung heraus. Jedoch konstatiert er zugleich, dass der Beitrag Horkheimers „einem traditionellen Grundmuster verhaftet [bleibt – H. K.], das noch in der Dialektik Arten der Wissenschaften bzw. Bereiche gesellschaftlicher Praxen nach substantiell getrennt gedachten Zweck-Mittel-Sphären versteht“ (Euler 1999, S. 50) – und damit der Sphäre des Geistes beziehungsweise der Bildung als Zweck und der Technik als Mittel. Hierdurch halte Horkheimer eine dialektische Vermittlung nicht konsequent durch und bleibe „dem Grundmuster althumanistischen Zweck-Mittel-Denkens verhaftet“ (Euler 1999, S. 51). Summierend bilanziert Euler den Beitrag Horkheimers: „Naturwissenschaft und Technik sind an sich ohne Bedeutung für die Bildung, die im Kern in der Sphäre der Zwecke angesiedelt ist, Mittel sind Sache der Ausbildung“ (Euler 1999, S. 51). Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen zieht Euler die bereits an dieser Stelle der Argumentationsentwicklung mehrfach und auch im Fortgang immer wieder gezogene konkludierende (zumindest implizit) vorgetragene Forderung: „Ideologiekritik von Naturwissenschaft und Technik muß daher als Desiderat für eine zeitangemessene Bestimmung von Kritik und Bildung begriffen werden“ (Euler 1999, S. 52).

Den von ihm diskutierten Strängen der Theoriebildung – Max Horkheimer, Martin Heidegger, Günther Anders, Herbert Marcuse, Theodor W. Adorno und Jürgen Habermas – setzt Euler die kritische Bildungstheorie Heinz-Joachim Heydorns entgegen. Dessen kritische Bildungstheorie konzeptualisiert Technik und Geist als im historischen Durchgang durch die Entwicklung der (wohl auf Europa zu beschränkenden) Gesellschaften als miteinander verwoben. Drei Unterschiede zu den zuvor diskutierten Entwürfen aus der Kultur- und Sozialphilosophie werden von Euler herausgestellt, wobei der dritte Unterschied der relevante ist. Dieser Unterschied bestehe darin, dass „Naturwissenschaft und Technik in diesem Entwurf der Bildung [dem Entwurf Heydorns – H. K.] kein der wahren Bildung Fremdes [sind – H. K.], sondern ihr wesentlich. Sie sind Bedingung und Inhalt der Bildung“ (Euler 1999, S. 86).

Für Euler stellt sich nun die Frage, inwiefern Technik „im kritischen Zusammenhang mehr oder anderes als nur Mittel ist“ (Euler 1999, S. 86). Denn wenn Technik auch Zweck wäre, dann wäre Bildung und Technik nicht länger voneinander separiert und die Reproduktion der Separierung wäre – wie bei Snow und den diskutierten Kultur- und Sozialphilosophen – aufgehoben.

Auch bezüglich dieser Frage wird das Werk Heydorns positiv herangezogen. Denn dieser weist „nicht den Humaniora [also der (humanistischen, die Technik meidenden) Bildung – H. K.] gegen alle Einsicht in deren Verfall den Primat der Kritik zu. Heydorn aktiviert die Humaniora unter dem Aspekt der aus der Gesellschaftskritik erwachsenden Notwendigkeit einer Rückverbindung zu Naturwissenschaft und Technik, wohin er nur durch die Kritik der falschen Selbstbegründung humanistischer Bildung gelangen kann“ (Euler 1999, S. 88). Zugleich seien für Heydorn die Naturwissenschaft und die Technik mehr als Neopositivismus und sinnloser Produktionszwang. Heydorn könne sich vorstellen, dass „die Naturwissenschaften und die Technik ihren Mündigkeitscharakter erst noch durch ihre volle Entfaltung einzulösen haben“ (Euler 1999, S. 88 – Herv. im Original).

Und doch findet Euler, bei aller positiven Bezugnahme, auch in Heydorn die „Zwei-Kulturen-Lehre“ (Euler 1999, S. 97), die die Bildung von den Naturwissenschaften und der Technik scheidet; und zwar an den Stellen des Werkes Heydorns, in denen Heydorn von der erfolgten Revolution der Produktionsverhältnis auf der seinen und dem Ausbleiben der Revolutionierung des Bewusstseins, die humane Verhältnisse ermöglichen, auf der anderen Seite als ausbleibend charakterisiert. Zwar gibt es auch bei Heydorn eine Revolution der geistigen Sphäre, doch handelt es sich hierbei, wie bei Horkheimer und Adorno, um Kulturindustrie. „Würde man das Bild des Hinterherlaufens der kritischen Bildung hinter der technologischen Revolutionierung einmal verlassen und in Analogie zum ‚mundus artificialis‘ nach den immanenten Bornierungen bzw. nach einer möglichen freizusetzenden technischen Rationalität fragen, wird zwar die existierende technologische Herrschaft nicht verändert, wohl aber der Widerspruch von Bildung und Herrschaft nicht mehr zu einem zwischen Technologie und Kritik. Die Konstruktion einer schlechten Entgegensetzung von unterschiedlich bewerteten Teilkulturen eines falschen Ganzen würden in eine überführt, in der die volle Entbindung der Vernunft thematisch wäre“ (Euler 1999, S. 97 – Herv. im Original).

2.3 Zum Kapitel „Die problematische Einheit technologischer Zivilisation in der bildungstheoretischen Reflexion“

In seinem vierten Kapitel widmet Euler sich nun dem Vorhaben, „die in der bürgerlich-abendländischen Bestimmung von Bildung und Kritik vorhandenen Schranken gegenüber der Technik bzw. der Technologie zu erkennen und zu öffnen“ (Euler 1999, S. 99 – Hervor. Im Original). Hierfür wendet er sich zunächst der Begriffsbestimmung von Technik und Technologie zu (Abschn. 4.1).

Im Durchgang durch die vorliegenden Arbeiten stellt Euler heraus, dass „die in der klassischen Unterscheidung von Wissenschaft und Technik fortlebende Zweck-Mittel-Dichotomie als sachlich unhaltbar einsichtig geworden ist […]. Die Aussage, daß Technologie die Gesellschaft und Gesellschaft die Technologie bestimmt ist nur dann nicht trivial, wenn in der Technologie eine Eigenständigkeit im Mittelsein zur Geltung kommt, die Gesellschaft verändert und ihrerseits wieder zu technologischer Praxis führt. Einerseits ist die Technologie gesellschaftlich, nichts von Gesellschaft Unabhängiges, gar Neutrales, sondern Ausdruck herrschender Interessen, Spiegel realer Bedürfnisse. Andererseits ist die Gesellschaft aber auch von Technologie bestimmt […]. Die Gesellschaft ist tendenziell zu einer technologischen geworden“ (Euler 1999, S. 107–108).

Es sei wichtig festzuhalten, „daß die Theorie der Technisierung von Kultur und Gesellschaft unpräzise bleibt, wenn sie nicht als Bildung begriffen wird. Die Reflexion auf diese Prozesse als Bildung ist die Bedingung der Kritik und umgekehrt“ (Euler 1999, S. 118). Folglich drängt sich eine erziehungswissenschaftlich-bildungsphilosophische Auseinandersetzung auf, die der Gegenstand des anschließenden Kapitels ist, und deren formale Gestalt für Euler bereits im Vorfeld, moralisch konnotiert, feststeht. Denn der „Umstand, daß es keinen Weg aus den verhängnisvollen Technologiefehlentwicklungen […] geben kann, der nicht selbst wieder über Technologie führt, folgt nicht eine naive Hoffnung auf gelungene Bildung als Technologie. Bildungstheorie darf jedoch gleichfalls nicht gegenüber der Technologie in der Art alter Metaphysik auf Grenzen pochen […]. Sie hat […] sich der historischen Zäsur innerhalb der gesellschaftlichen Praxis der Technologisierung zu stellen“ (Euler 1999, S. 167).

2.4 Zum Kapitel „Kritische Bildungstheorie im Horizont technologischer Zivilisation“

Der Prozess der Technologisierung sei mehr als eine „quantitativ erweiterte Technikentwicklung“, sie sei vielmehr „eine Zäsur in der Selbst- und Weltbildung, die der Bildungstheorie eine tiefgreifende Revision“ (Euler 1999, S. 168) abverlange. Dabei verfüge die Bildungstheorie, im Gegensatz zur im vorherigen Kapitel diskutierten Philosophie, über den Bezug zur Praxis.

Eindringlich stellt Euler heraus, dass die nunmehr technologische Zivilisation „die alten sozialen Probleme [nicht – H. K.] überwunden hätte […]. Im Unterschied zu sozial blinden idealisierenden Technologieeuphorien muß daran erinnert werden, daß die Technologisierung alte soziale Problemlagen, zumindest in der Erfahrung von immer mehr Menschen, nicht aufhebt, sondern enorm verstärkt […]. D. h., daß die Zäsur durch Technologie […] eine immanente Neuthematisierung der alten, sich verschärfenden sozialen Depravationen durch den weltweiten Kapitalismus“ (Euler 1999, S. 172) verlange.Footnote 2

Doch die Technologisierung löse nicht nur nicht die soziale Frage, sondern rufe die aus Eulers Sicht entscheidende Frage auf, ob „und inwiefern die Technologisierung die Grundlagen bürgerlicher Gesellschaft respektive ihrer Bildung zerstört“ (Euler 1999, S. 188 – Herv. Im Original).

Die Bedingung der Möglichkeit der Zerstörung sei, dass bisher unselbstständige technische Mittel heute selbstständig und damit zum „zum entscheidenden gesellschaftlichen Problem“ (Euler 1999, S. 193) werden. Die Dichotomisierung von Kultur (Zwecken) und Mitteln (Technik) sei folglich nicht nur keine adäquate Konzeptionalisierung mehr, sondern deren Aufrechterhaltung sei auch praktisch für eine Bildung fatal, die zur Humanisierung der Verhältnisse beitragen möchte.

Ein Zwischenfazit ziehend konstatiert Euler, dass sich heute „der Widerspruch von Bildung und Herrschaft entscheidend gerade in der Herausbildung eines veränderten Subjekt-Objekt-Verhältnisses vertieft. Die Technologisierung der Subjekt-Objekt-Relation bringt diese jedoch nicht zum Verschwinden […]. Die Technologisierung entzieht allerdings sowohl dem Subjekt als auch dem Objekt Prädikate, die ihnen ‚klassisch‘ unabänderlich zuzukommen schienen. Das Subjekt erfährt zunehmende Objektivierung, die aber mit der Verstärkung der Subjektivität einhergehen kann bzw. einhergeht. Die Objektwelt wird demgegenüber dort, wo sie der Technologisierung ausgesetzt ist, subjektiviert, mit Subjekteigenschaften ausgestattet. […] Das fordert Bildungstheorie heraus. Bildung als normative, d. h. als organisierte und intendierte gesellschaftliche Praxis wird keineswegs obsolet, sondern durch die Technologisierung auf ihr systematisches Zentrum verwiesen, um das sie seit der Konstitution bürgerlicher Gesellschaft gravitiert“ (Euler 1999, S. 230–231).

2.5 Zum Kapitel „Reflektierende Urteilskraft: zum subjektiven Prinzip kritischer Bildung“

Da Euler die Dichotomie von Kultur/Zweck/Theorie/Subjekt auf der einen Seite und Technik/Mittel/Praxis/Objekt auf der anderen Seite verworfen hat, muss er nach der Möglichkeit eines Dritten Ausschau halten. Dieses Motiv erkennt er nicht nur aber insbesondere in den Arbeiten von Immanuel Kant. Es sei Kants entscheidende Annahme, dass „die Konstruktion dieses neuen Theorietypus eines Dritten, ‚reflektierender Urteilskraft‘, systematisch die Begründung für den Bildungsbegriff liefert“ (Euler 1999, S. 239).

Eulers Analyse beansprucht zu zeigen, dass im Rückblick „Kants dritte Kritik als nichts Geringeres verstanden werden [kann – H. K.], denn als gewissermaßen modernitätskritischer Versuch, das Problem des Zerfalls der einen Vernunft in die theoretischen und praktischen Gebräuche in praktischer Absicht zu lösen. Das, wofür Vernunft durchgängig in der Aufklärung stehen sollte, nämlich Prinzip und Mittel einer von Not, Elend und Herrschaft befreiten Menschheit zu sein […]. Kant reflektiert diesen Prozeß und stößt mit der Unbeirrbarkeit des Aufklärers auf die Grenzen der Aufklärung und durchstößt sie – zumindest systematisch – in der Konzeption des Begriffs der ‚reflektierenden Urteilskraft‘“ (Euler 1999, S. 241).

Es ist diese „reflektiere Urteilskraft“, die er als Antwort auf die Frage ausgibt, wie gegenwärtig, „wenn überhaupt, ein Prinzip subjektiver Bildung denkbar“ (Euler 1999, S. 235) ist; gerade auch deshalb, weil Euler in der Konzeption Kants die Möglichkeit einer „technologiekritisch ansetzende Neufassung einer Theorie der Bildung“ (Euler 1999, S. 264–265) sieht. Eine solche Bildung will „normativ im Widerspruch gegen die herrschenden Formationen“ subjektive Bildung „zur Geltung zu bringen“ (Euler 1999, S. 268), eben der kritischen Reflexion der gegebenen Verhältnisse (objektive Bildung). Nach Euler hat „Kants Bestimmung reflektierender Urteilskraft gerade hierin ihre bildungstheoretische Bedeutung, daß sie den Zusammenhang subjektiver und objektiver Bildung im Subjektiven bestimmt“ (Euler 1999, S. 268).

Doch heute reiche die Wiedererinnerung an die Theorie Kants nicht aus, zu der gerade auch die „konstitutive Bedeutung der Spekulation […] [gehöre – H. K.], die aus Kants reflektierender Urteilskraft gewonnen werden können“ (Euler 1999, S. 281 – Herv. im Original). Und so fragt Euler in seinem abschließenden Kapitel nach der Bedeutung für die pädagogischen Praxis seiner bildungsphilosophischen Arbeit.

2.6 Zum Kapitel „Interdisziplinarität als Ausdruck der Krise der objektiven Bildungsverfassung: ein praxisrelevanter Ausblick“

In dem seine Habilitation abschließenden Kapitel reflektiert Euler zu den Konsequenzen seiner Ausführungen für die Konzeption von Studiengängen in den Natur- und Ingenieurswissenschaften, und bezieht sich dabei unter anderem auf die Arbeiten von Peter Bulthaup, Gernot Böhme und Hans-Günther Wagemann.Footnote 3 Für seine Überlegungen geht er von der Problemlage aus, dass die wissenschaftliche Rationalität, die sich in der Trennung von Fachdisziplinen auch institutionell ausdrückt, „immer öfter als Ursache gesellschaftlicher Probleme“ (Euler 1999, S. 292) anzusehen ist. Eulers Antwort auf diese Problemlage lautet: Interdisziplinarität, sowohl in der Lehre als auch in der Forschung. In dieser sieht er „auf der Ebene der Wissens- und Forschungsorganisation systematische Entsprechungen zur Allgemeinbildung im Feld der Pädagogik“ (ebd.) und „ein Charakteristikum zeitangemessener kritischer Bildung“ (ebd.).

Auch erhofft sich Euler von einer Interdisziplinarität, epistemisch die Mängel der Disziplinarität erfolgreich bearbeiten zu können und „endlich einen studienorganisatorischen Rahmen zu schaffen, in dem verantwortbar studiert werden kann […]“ (Euler 1999, S. 339). Denn Interdisziplinarität sei an praktischer Zukunftsgestaltung interessiert, ohne „das ökonomische Interesse […] [und – H. K.] die Verwertungsfunktion im System“ (Euler 1999, S. 314–315) zu bedienen. In einer solchen Interdisziplinarität sieht Euler die „Durchbrechung“ (Euler 1999, S. 315) der Mentalität der „two cultures“, von denen er ausgegangen war.

3 Diskussion

Ich greife nun die eingangs gestellte Frage nach der Aktualität der Habilitationsschrift von Peter Eulers wieder auf, 25 Jahre nach ihrem Erscheinen. Auch diese Perspektivierung kann angesichts der argumentativen Fülle und Dichte von Eulers Ausführungen lediglich exemplarisch erfolgen.

Zunächst möchte ich kritisch – zunächst im ursprünglichen Sinne des Unterscheidens – die abstrakt-philosophische Flughöhe der Argumentation reflektieren. Es lässt sich nicht nur mit Theodor W. Adorno und Walter Benjamin das Vorgehen Eulers stützen, dass man zunächst durch die „Eiswüste der Abstraktion“ zu gehen habe, bevor man zum bündigen Philosophieren vordringen könne (vgl. Adorno 1966, S. 9). Darüber hinaus ist eine (bildungs)philosophische Aneignung, Auseinandersetzung und Reflexion einerseits deshalb angezeigt, weil sie vor einem vermeintlichen Blindflug bewahrt, bei dem beansprucht wird, das eigene Vorverständnis auszuklammern und sich den Sachverhalten vermeintlich unbeschrieben zuzuwenden. Zugleich bewahrt ein solches Vorgehen vor mutmaßlichen Neuentdeckungen eines bereits erreichten Reflexionsniveaus, also die Verwechslung von subjektiven Entdeckungen mit der Wiederholung bereits objektiv Erreichtem.

Demgegenüber besteht jedoch immer die Gefahr, entweder in einer Nabelschau zu verharren oder aber damit bereits Pfadabhängigkeiten im Denken anzulegen; gerade letzteres will Euler vermeiden, wenn er sich am Anfang eines Weges sieht, bei dem unklar sein muss, wohin der Weg führt bzw. welche Richtung einzuschlagen ist. So heißt es bei ihm beispielsweise: „Ob und inwiefern die Technologisierung die Grundlagen bürgerlicher Gesellschaft respektive ihrer Bildung zerstört, komplettiert oder übergreift, wird zur entscheidenden Frage. Sie zu beantworten versteht sich meine Arbeit als der Anfang eines Weges. Im Zentrum dieser Technologiereflexion steht der Versuch, die Veränderung der entscheidenden Bestimmungen des Widerspruchs von Bildung und Herrschaft problemangemessen zu erfassen“ (Euler 1999, S. 188 – Herv. im Original).Footnote 4

Dieses soeben skizzierte erkenntnistheoretische Problem scheint mir nicht in eine Richtung hin auflösbar zu sein. Entsprochen werden könnte diesem Problem in angemessenerer Weise dann, wenn jeweilige Gegenpositionen vorgetragen und – wie beispielsweise in der mittelalterlichen europäischen PhilosophieFootnote 5 – stark gemacht werden würden. Eine diskursive Auseinandersetzung dieser Art vermisse ich in der Argumentation Eulers.Footnote 6 Ein solches Vorgehen würde ermöglichen, den wissenschaftlichen Diskurs distinkt voranzubringen, weil präzise Argumente und Positionen miteinander ins Verhältnis gesetzt werden könnten. Was ich hiermit meine, will ich an einem Beispiel erläutern.

Euler stellt, durchaus auf pädagogische Praxis zielend, den Begriff der Gestaltung heraus: „Der Begriff der Gestaltung wird von mir hier in aller Vorläufigkeit als die technologische Weiterung des pädagogisch-politischen bzw. pädagogisch-soziologischen Begriffs der Mündigkeit verstanden. Mündigkeit verbleibt noch im traditionellen kulturtheoretischen Schema und soll im Begriff der Gestaltung auf die objektiv veränderten technologischen Bedingungen hin immanent erweitert werden. Damit zielt die auf Gestaltung erweiterte Mündigkeit auf die Durchdringung der Bildungsentwürfe bürgerlicher Selbstauslegung“ (Euler 1999, S. 185–186 – Herv. im Original). Aufgrund der abstrakten Flughöhe der Argumentation ist nun aber zumindest nicht unmittelbar entscheidbar, ob die Ausführungen im Einklang mit dem Konzept der Gestaltungskompetenz von Gerhard de Haan (2008)Footnote 7 stehen oder nicht.

Noch einmal kurz und bündig formuliert: abstrakte Reflexionen haben das Potenzial, Gedankenräume zu eröffnen, die sonst nie entdeckt würden. Zugleich ist das Problem von abstrakten (Groß‑)Theorien, dass sie die Verbindung zum Konkreten verlieren können (vgl. auch Mills 1959).

Dabei lässt sich nicht behaupten, Euler würde nicht beanspruchen, dass seine theoretisch-abstrakten Überlegungen aus der Eiswüste mit den konkreten Phänomenen in Verbindung stehen. Jedoch bleibt häufig unklar, wie das Verhältnis exakt begründet ist und wie es erkannt werden kann. Aufgrund dessen bleibt einer*m Leser*in nichts anderes übrig, als ihm entweder zuzustimmen oder seine Ausführungen abzulehnen. Beispielsweise führt Euler auf der Ebene abstrakter Theoriebildung aus: „Die Unterscheidung von materialistischem und ästhetischem Bildungsentwurf, der ein Widerhall der Differenz vom Reich der Notwendigkeit und dem der Freiheit ist, verliert unter diesen Umständen [der Technologisierung der gesamten Lebensumstände – H. K.] sowohl an deskriptiver Bedeutung wie auch an Bedeutung für die Kritik“ (Euler 1999, S. 218). Praktisch im unmittelbaren und damit unvermittelten Anschluss wird eine Verbindung zu den „für die Herrschaft immer bedeutsameren Bild- und Simulationswelten“ (ebd.) hergestellt, die den Gegenpol zu den zuvor aufgerufenen Bildungsentwürfen darstellen sollen. Was damit exakt gemeint ist und was nicht – beide Angaben sind für eine klare Bestimmung nötig – bleibt unklar.

Im Hinblick auf die Frage nach dem Theorie-Praxis-Verhältnis positioniert sich Euler zwischen Marx und Adorno. Ihm kommt es gerade auch darauf an, die Welt „zu verändern“ und sie nicht lediglich verschieden zu interpretieren (vgl. Marx 1990, S. 7 – Herv. im Original)Footnote 8. Zugleich weiß er im Anschluss an Adorno um die Problemhaftigkeit unreflektierter Gestaltungsmotivationen (vgl. Adorno 1966, S. 15), ohne damit zu konstatieren, dass „Praxis, auf unabsehbare Zeit vertagt“ (Adorno 1966, S. 16) sei.

Ob ihm dies gelingt, beziehungsweise ob wir heute auf der Arbeit Eulers aufbauen oder zumindest von ihm etwas lernen können, entscheidet sich nicht zuletzt an der Frage, ob Eulers Interpretation die richtige, bzw. noch immer aktuell ist. Dieser Frage widme ich mich nun zunächst im Hinblick auf die von Euler angesprochenen Thematik „der beginnenden Dominanz ökologischer Probleme“ (Euler 1999, S. 32).

Euler schreibt: „Die Natur ist zweifelsohne immer das Gegebene und insofern kein zu Machendes. Aber die Gestalten, in der Natur uns begegnet, genauer: die Formen der Naturgeschichte, sind nicht unabhängig von unserer Praxis gegeben. Sie sind es gegenwärtig und zukünftig immer weniger, da ihr Charakter, Resultat menschlicher-gesellschaftlicher Praxis zu sein, in der technologischen Zivilisation einen Grad erreicht hat, der zwar nicht den homo faber in den Rang des Schöpfers setzt, der aber durch die technologische Eingriffstiefe, -weite und -folge humane Naturbedingung zu liquidieren und zu synthetisieren vermag“ (Euler 1999, S. 178 – Herv. H. K.). Mit diesen Ausführungen beschreibt Euler bereits die Vorgänge, die 2002 von Paul Crutzen (Crutzen 2002) auf den Begriff des Anthropozäns (vgl. auch Wallenhorst und Wulf 2023) gebracht wird. Der Mensch sei zu einer geologischen Kraft geworden. Doch ist damit die Aktualität der Ausführungen Eulers noch nicht begründet, auch nicht im Prinzip. Die nun folgenden Kritikpunkte versuchen hierauf einen abwägenden Blick zu entfalten.Footnote 9

Die aktuellen Prognosen der Erdsystemwissenschaften im Allgemeinen und – beispielsweise – der Klimaforschung im Besonderen sind von einer Schärfe, die von Euler nicht antizipiert wurde und damit keinen Eingang in seine Theoriebildung fand (vgl. bspw. IPBES 2019 und IPCC 2021).Footnote 10 So sprechen nicht nur Erdsystemwissenschaftler*innen inzwischen davon, dass ein ungebremster Klimawandel die menschlichen Gesellschaften einer so großen Belastung setzen könnte, dass nichts weniger als ihr Ende droht (vgl. bspw. Wiegandt 2022). Auch wenn dies lediglich für die schlimmsten Klimaszenarien gilt, darf nicht übersehen werden, dass eine Trendumkehr bis dato nicht zu verzeichnen ist. Unterstützung erhält diese These aus der Geschichtswissenschaft, wenn Eric Cline (2021) darauf hinweist, dass es in der Geschichte der Menschheit – am Ende der Bronze Zeit – bereits einmal einen gesellschaftlichen Zusammenbrauch aufgrund multipler Krisen gab, und die damalige Situation mit der heutigen vergleichbar ist. Und in der Philosophie fragt Tim Mulgan (2011) gedankenexperimentell bereits danach, wie die Menschen in Zukunft Verteilungsfrage lösen könnten, wenn aufgrund chaotischer Klimabedingungen selbst eine mittelfristige Planung, wie wir sie heute – zumindest im sogenannten Globalen NordenFootnote 11 – kennen, nicht mehr möglich ist.

Vor diesem Hintergrund ist fraglich, ob die Bildungstheorie Eulers aus der heutigen Sicht die ökologische Krise angemessen berücksichtigt. Hat die Umweltfrage inzwischen eine solche Qualität erreicht, dass für eine Verbesserung der (gesellschaftlichen) Verhältnisse nicht mehr auf Bildung und Erziehung gesetzt werden kann? Und wenn ja, was bedeutet dies für die Erziehungswissenschaft im Allgemeinen und die Soziale Arbeit im Besonderen?

Dem gegenüber steht die Position, dass die ökologische Krise ohne technische Entwicklungen wie beispielsweise die CO2-Abscheidung und -Speicherung gar nicht in den Griff zu bekommen ist, gerade auch weil die menschlichen Gesellschaften sich nicht von heute auf morgen transformieren lassen (vgl. bspw. Smil 2022). Mit dieser Position ist man, so scheint es zumindest, wieder im Herzen der Theorie Peter Eulers, wenn er beispielsweise ausführt: „Die Zäsur, welche die technologische Zivilisation darstellt, verlangt eine Radikalisierung und Ausweitung der systematisch in der reflektierenden Urteilskraft angelegten Bildungsvorstellung. Im Zentrum steht dabei die Selbstkritik der Vernunft. Diese vollzieht sich notwendig als Spekulation […]. Es handelt sich bei dieser Spekulation um diejenige, die schon immer praktische Bedeutung hatte, theoretisch aber keinen Ort finden konnte, weil sie im herrschenden bürgerlichen Kulturverständnis nicht vorgesehen war. Damit zeichnet sich eine neue Gestalt der Idee der Bildung ab, die sich in einem äußersten Widerspruch von aufgeherrschter Funktionalität und funktionaler Kritik vorfindet. Die Kritik der ‚two cultures‘ befreit die Spekulation aus ihrem kulturtheoretischen Fehlverständnis und gibt ihr die ihr zustehende Bedeutung als Motor gesellschaftlicher Gestaltung, der Bildung“ (Euler 1999, S. 269).

Doch welche Bildung wäre dies genau? Eulers Antwort lautet auf institutioneller Ebene: Interdisziplinarität. Dieser trägt er in diesem Werk in der Hinsicht Rechnung, dass er seine Position in der Auseinandersetzung mit Beiträgen aus der Philosophie entwickelt. Eine inhaltliche Verbindung zu den Natur- und Ingenieurswissenschaften bleibt jedoch aus. Auch ist anzumerken, dass er entsprechende Arbeiten, die es zu dieser Frage bereits gab, nicht aufgreift (vgl. bspw. Funtowicz und Ravetz 1991, 1993; Jantsch 1970; Piaget 1972).Footnote 12 Und bezüglich der konkreten Frage nach der Notwendigkeit, der Möglichkeit und dem Potenzial technischer Entwicklung und Lösung für die Umweltkrise müsste es wohl eine Bildung sein, die sich der unterschiedlichen Positionen in dieser Debatte vergewissert. Dies müsste bedeuten, dass auch die von Euler verurteilte Position des „Technikvorurteil[s]“ (Euler 1999, S. 197) zumindest in der Hinsicht kritisch angeeignet wird, als die Frage im Raum steht, ob es sich um ein Technikvorurteil oder um eine gute begründete Kritik handelt, die als sachlich richtig auszuweisen ist. Damit wäre Euler auch im Einklang mit seiner Feststellung: „Technik und Natur werden zum Maß des Urteilens, ihr Verhältnis zum Zentralproblem des Humanen, der Bildung“ (Euler 1999, S. 272); und mit seiner Setzung: „Technik als Humanum begreifen heißt nicht, die herrschende Technologisierung idealisieren, ihre globale Barbarisierungsfunktion verdrängen, sondern Natur und Technologie politisieren. Diese Politisierung bedeutet Technik als Bildung zu verstehen, die nämlich allererst Natur und Gesellschaft in ein humanes, den Menschen als sinnlichen Vernunftwesen angemessenes Verhältnis durch sie selbst zu setzen vermag“ (Euler 1999, S. 234 – Herv. im Original).

Auf der Ebene der Subjekte lautet Eulers Antwort auf die Frage, welche Bildung genau gefordert wird: „reflektierte Sachkompetenz“ (vgl. Euler 1999, S. 339). Doch eine solche, und hier wiederholt sich das Problem der begrifflichen Unschärfe, setzt Sachkompetenz voraus. Wie Euler diese exakt konzipiert, bleibt offen.

Grundsätzlich kann seine Forderung nach Interdisziplinarität als kritische Frage an die Erziehungswissenschaft verstanden werden, ob sie angemessen die Wissensbestände anderer Disziplinen in und für ihre Forschung aufgreift.

Erneut verblüffend aktuell wirken Ausführungen wie die folgende, die als implizite Thematisierung epistemischer Ungerechtigkeit verstanden werden können: „Kritische Bildungstheorie muß geradezu im Interesse einer kritischen Vernunftpraxis ein Sensorium für die Notwendigkeit spekulativer Naturbestimmungen – also auch für die Wahrheit anderen, nichtwissenschaftlichen Naturwissens – entwickeln, um unterschiedliche aber gleichwohl spezifisch menschliche Weisen des Selbst- und Naturumgangs zu erfassen“ (Euler 1999, S. 271). Während die einen ihn für seinen in diesem Zitat anklingenden Anthropozentrismus heute kritisierend würden, dürfte aus einer anderen Perspektive die apodiktisch gesetzte Normativität problematisiert werden.

In der Tat kommt es in der Schrift Eulers immer wieder zu Sprüngen von deskriptiven Rekonstruktionen der herangezogenen und diskutierten Theorien zu Werturteilen. Diese beanspruchen zwar im Modus immanenter Kritik entwickelt worden zu sein, doch scheint mir dies nicht immer überzeugend argumentiert. Es dürfte sich um ein Problem handeln, das sich Euler durch sein Motiv der Doppelbewegung eingekauft hat; also der „Selbstkritik der Bildung aus der Perspektive der aufgehobenen Verdrängung der Technik und Revision des Selbstbewußtseins von Technik aus der Perspektive, daß Technik faktisch bereits Weltbildung ist“ (Euler 1999, S. 14).

Diese Sprünge in der Argumentation lassen sich hypothetisch auch als Folge und Ausdruck dessen verstehen, dass die Menschheit angesichts der „nachhaltigen Nicht-Nachhaltigkeit“ (vgl. Blühdorn et al. 2020) vor der Bildungsaufgabe steht, emphatisch-menschliche und gerade Verhältnisse auf einem bezüglich der materiellen Ressourcen endlichen Planeten zu verwirklichen. Dies ist gerade auch die normative Aufgabe der erziehungswissenschaftlichen Subdisziplinen der Sozialen Arbeit und der Bildung für nachhaltige Entwicklung (vgl. bspw. Kminek et al. 2021; Kminek 25,26,a, b). Für deren Theoriebildungen stellt die Habilitationsschrift Eulers auch ein Vierteljahrhundert nach ihrem Erscheinen eine anspruchsvolle und anregende Bezugsquelle dar, weil sie die Problemkonstellationen des Verhältnisses von Mensch und Technik äußerst elaboriert entfaltet. Die konkrete Einbeziehung in die Theoriebildung ist die Aufgabe für zukünftige Studien.