Während noch vor einem Jahrhundert heftig mit Freuds Entdeckung der infantilen Sexualität gerungen und die Sexualität von Heranwachsenden bis in die 1980er-Jahre tabuisierend behandelt wurde, setzte sich in den letzten drei Jahrzehnten zunehmend ein veränderter gesellschaftlicher Umgang mit Sexualität durch. Trotz nach wie vor andauernder Widerstände gegenüber einer liberaleren Sexualerziehung wird Sexualität im Kindes-, einmal mehr im Jugendalter, tendenziell nicht mehr leugnend oder gar verunglimpfend (de)thematisiert, sondern erfährt vielmehr eine wohlwollende pädagogische Aufmerksamkeit. Sexualpädagogische und gewaltpräventive Angebote stehen Jugendlichen und jungen Erwachsenen heutzutage nicht mehr nur in Form von Unterrichtseinheiten oder Aufklärungsbüchern zur Verfügung, sondern vermehrt auch im digitalen Raum.

Vor diesem Hintergrund steht im vorliegenden Beitrag das schweizerische Webportal lilli.ch im Mittelpunkt einer kritischen Analyse aktueller Tendenzen in sexualpädagogischen Angeboten und Konzepten. Das im Jahr 2001 vom Zürcher Verein Frauenberatung sexuelle Gewalt initiierte Projekt fungiert als digitale Anlaufstelle für Jugendliche und junge Erwachsene mit den Zielen der Gewaltprävention und Förderung der sexuellen Gesundheit. Die Webseite beinhaltet eine Vielzahl an Info-Artikeln, zudem können die Besucher*innen anonym Fragen zu „Sexualität, Verhütung, Beziehung, Gewalt, Körperfragen und persönlichen Problemen“ stellen, die von einem Beratungsteam aus „Ärzt*innen, Psycholog*innen, Psychotherapeut*innen, Sexualtherapeut*innen und Sexualberater*innen“ (Lilli 2023a) öffentlich beantwortet werden. Dabei fällt auf, dass Sexualpädagog*innen nicht zum Kreis der hier genannten projektbeteiligten Professionen gezählt werden. Auch auf der Homepage benennen die Macher*innen ihre Arbeit begrifflich nicht explizit als sexualpädagogisch. Dennoch verdeutlicht die Selbstbeschreibung eine konzeptuelle Ausrichtung auf die Arbeit mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Angesichts dessen kann lilli.ch als ein sexualitätsbezogenes Bildungs- und Beratungsangebot im Spektrum der Sexualpädagogik verstanden werden. Zudem spricht das Vorstandsmitglied Karoline Bischof selbst von einer „Sexocorporel-Sexualpädagogik“, die „auf der Sexocorporel-gestützten Jugendberatungswebseite www.lilli.ch zur Anwendung gelangt“ (Bischof 2020, S. 431). Konzeptuell hebt sich lilli.ch durch eine sexualtherapeutisch orientierte Herangehensweise von anderen Online-Angeboten der Sexualpädagogik oder der Gewaltprävention für die genannte Zielgruppe ab. Einen wesentlichen Bezugspunkt stellt der Ansatz des sog. Sexocorporel dar, der als solcher zwar nicht in der Selbstbeschreibung erwähnt wird, dessen Grundannahmen sich jedoch in den Artikeln und Antworten widerspiegeln. Bischof will die spezifische Herangehensweise des Sexocorporel als eigenständigen Therapie- und Beratungsansatz verstanden wissen (vgl. Bischof 2020). Im Zentrum des sexualtherapeutischen Konzepts stünden die „Körper-Geist-Einheit“, die Erlern- und Veränderbarkeit sexueller Gewohnheiten, die „Erregungsmodi“ in ihrer Beziehung zum sexuellen Erleben sowie die Anwendung auf sexuelle Störungen (vgl. ebd.). Aus dieser Schwerpunktsetzung ergibt sich eine weitere Besonderheit des Projekts lilli.ch, welches in der Fokussierung auf konkrete Handlungsvorschläge und das Unterbreiten von Übungstipps bzw. Lernschritten liegt. Diese sollen „die Wahrnehmung, die Gestaltungsmöglichkeit und den Genuss der Sexualität fördern“ (Lilli 2023a). In der hier angesprochenen Ausrichtung auf die Vermittlung von Handlungswissen ähneln sich die Sexocorporel-Sexualtherapie und der Ansatz der sexuellen Bildung. Dieser hat seit den späten 1990er-Jahren in der Sexualpädagogik entscheidend an Einfluss gewonnen, tritt für die Konkretion und Brauchbarkeit sexueller Bildungsangebote ein und stellt Überlegungen zu einer Förderung von Sexualität und sexuellem Lebensgenuss „an sich“ an (Valtl 2013, S. 131). Selbstformung und Persönlichkeitsentwicklung gelten als zentrale Zielsetzungen sexueller Bildung (vgl. ebd.). Beide Ansätze – Sexocorporel und sexuelle Bildung – spielen für die Leitideen von lilli.ch eine wichtige Rolle und werden mit Zielsetzungen aus der Konzeption der sexuellen Gesundheit und der Prävention sexueller Gewalt verknüpft.

Eine dezidierte Auseinandersetzung mit den genannten konzeptuellen Verknüpfungen in der gegenwärtigen sexualpädagogischen Arbeit mit jungen Menschen wie auch deren gesellschaftskritische Problematisierung stehen bisher noch aus. Nachfolgend wird daher das Anliegen verfolgt, eine solche Analyse vorzunehmen und zur Diskussion zu stellen. Dazu erfolgt zunächst eine Darstellung des thematischen und konzeptuellen Fokus von lilli.ch, in der anhand der Thematisierung von Selbstbefriedigung insbesondere auf das Verständnis des sexuellen Lernens eingegangen wird. Anschließend wird in drei thematisch und theoretisch unterschiedlich gerahmten Schlaglichtern eine kritische Diskussion dieser Konzeption vorgenommen.

1 Selbstbefriedigung und sexuelles Lernen im Konzept von lilli.ch

Im Folgenden soll lilli.ch anhand der unterschiedlichen Einträge zur Selbstbefriedigung und zum in diesem Kontext mehrfach erwähnten Konzept des sexuellen Lernens vorgestellt und diskutiert werden. Bezüglich Selbstbefriedigung fällt zunächst der von lilli.ch vielfach betonte Gewinn auf, den sie für Jugendliche bedeuten könne. Selbstbefriedigung „lohne“ sich und könne auf „Dauer“ etwas „bringen“.Footnote 1 Die Ausführungen zielen auf ein positives Bild von Selbstbefriedigung, das Jugendliche dazu animieren soll, (mehr) Sex mit sich selbst zu praktizieren. Es wird versucht, Selbstbefriedigung von negativen Bewertungen zu befreien. Die Aufwertung zeigt sich insbesondere in der synonymen Verwendung des Begriffs Solosex, mit dem Selbstbefriedigung als originäre Sexualpraktik herausgestellt wird. Dies lässt sich in den letzten Jahren zunehmend beobachten und kann als Anspruch interpretiert werden, Selbstbefriedigung als eigenständiger Sexualform Legitimität zu verleihen. Insgesamt werden positive Aspekte von Selbstbefriedigung herausgestellt: Selbstbefriedigung ermögliche es Jugendlichen, sich als sexuelle Individuen zu erleben, etwas über sich zu erfahren und identitätsstiftende Fragen wie „Wer bin ich sexuell? Und wie möchte ich Sexualität leben?“ für sich zu beantworten. Neben einer „selbstfürsorglichen“ Dimension von Selbstbefriedigung hebt lilli.ch zudem eine praktische Seite hervor: Für „genussvollen Sex“ brauche man „nicht notwendigerweise andere Personen oder Hilfsmittel“, man brauche lediglich sich selbst. So hält lilli.ch fest: „Du ‚machst‘ deinen Sex. Du gestaltest aktiv, ob und wie du Sexualität lebst. Es geht darum, wie du Sex willst. Dafür bist du der Ausgangspunkt. Sex mit anderen ist aufschlussreich, aber Solosex mindestens genauso. Auch wenn du mal Abstand vom Gewohnten nimmst, kannst du dazu gewinnen. Du darfst dir dein ‚Menü‘ erweitern, wie du deine Sexualität lustvoll gestaltest“ (Lilli 2023b). Dieser Auszug bringt den Charakter der Ausführungen von lilli.ch auf den Punkt: Der Fokus liegt auf dem einzelnen Individuum, das als aktiv handelndes und auf sich selbst bezogenes konturiert wird. Im Fokus steht seine sexuelle Lust, die bestmöglich befriedigt werden soll. Der Verweis auf das sexuelle „Menü“, das die Einzelnen nach individuellem Gusto erweitern können, impliziert die Vorstellung eines bestimmbaren Maßes an sexueller Lust, das bei ausreichender Bearbeitung ausgeschöpft und erreicht werden könnte. Diese Vorstellung spiegelt sich in einer ökonomistisch-technizistischen Sprache wider, die das sexuelle Individuum als ein optimierendes und letztlich nutzenorientiertes entwirft. So ist die Rede davon, dass Selbstbefriedigung etwas „bringe“ bzw. die Sexualität „bereichere“, „sinnvoll“ sei und mit der richtigen „Technik“ auch zu „steigern“ wäre. Selbstbefriedigung wird nicht nur als „Testlabor“ beschrieben, sondern sie könne auch, wenn sie „langweilig“ (Lilli 2023c) zu werden droht, durch Methodenvielfalt hinsichtlich ihrer sexuellen Erregungsfähigkeit gesteigert werden. Sie sei darüber hinaus auch nützlich, weil man durch sie ein „besserer Liebhaber“ werden und „mehr Lust auf Geschlechtsverkehr“ bekommen könne (ebd.). Diese Sichtweise, in der ein nutzenorientiertes Individuum ins Spiel kommt, zeigt sich auch im Sexualitätsverständnis von lilli.ch.Footnote 2 Entgegen der Prämisse von Sexocorporel, Körper und Geist nicht zu trennen, wird hier ein sexuelles Individuum beschrieben, das auf eine biologisch-somatische Größe reduziert wird, wobei Sexualität sich auf einen körperlichen Reiz und damit verbundene Erregungen verengt. Im Fokus von lilli.ch steht somit ein Reiz-Reaktions-Schema. Sexuelle Erregung resultiert in dieser Sichtweise aus körperlichen Reizen, die bei angemessener Verarbeitung und wiederholendem Lernen über Nervenbahnen im Gehirn als erregend empfunden werden. So heißt es unter dem Stichwort Sexuelles Lernen etwa:

„Wenn das Gehirn über die Nerven gesendete Nachrichten erhält, weiss es zunächst nicht, was es damit anfangen soll. Erst mit der Zeit lernt es, zwischen verschiedenen Nachrichten zu unterscheiden und sie als angenehm oder unangenehm zu erkennen und mit sexueller Erregung zu verbinden. Mit jeder Berührung, jeder Bewegung werden die Wege zwischen Nervenendigungen und Gehirn dicker und schneller“ (Lilli 2023d).

In dieser Passage deutet sich der Anspruch der sexuellen Bildung von lilli.ch an: Eine vielgestaltige, lustvolle sexuelle Erregung müsse körperlich erlernt und geschult werden. Einseitige oder mangelnde sexuelle Praxis ließen demgegenüber die Nervenbahnen veröden und somit auch die sexuelle Lust und Befriedigbarkeit schwinden. Angesichts dessen wird den Jugendlichen ein kontinuierliches Trainingsprogramm empfohlen, das die Übermittlung körperlich-sexueller Reize an das Gehirn schult und ausbildet. Abseits der Frage nach der Richtigkeit der hier stark vereinfachten Darstellung sexueller Erregung erscheint uns vielmehr die damit von lilli.ch vorgenommene Setzung relevant: Jugendliche sollen sich als ein so beschriebenes Individuum begreifen. Insofern Jugendliche sich und ihren Körper ausgehend von der Intensität ausgebildeter Nervenbahnen und Synapsen empfinden sollen, haben sie ihre sexuelle Erregung als etwas wahrzunehmen, das von einer gelungenen Informationsübertagung zwischen sexuellem Reiz und Gehirn abzuhängen scheint. Irritierend ist dabei auch die postulierte Steuerbarkeit sexueller Erregbarkeit, die durch Wiederholung und Lernen optimiert werden könne. Bezüglich des Lernens wird demnach ein einzuhaltendes Trainingsprogramm empfohlen. An Frauen gerichtet heißt es dort: „Wir empfehlen dir, dass du dir mindestens dreimal die Woche mindestens eine halbe Stunde Zeit für deine Entdeckungsreise [bezüglich Selbstbefriedigung; Anm. d. Verf.] nimmst“ (Lilli 2023e). Und an Männer adressiert wird insbesondere die Notwendigkeit der Wiederholung betont:

„Wiederholen, wiederholen, wiederholen … Wir können das gar nicht genug betonen: Du lernst durch Wiederholung. […] Wenn du verstehst, warum Wiederholung so wichtig ist, wirst du wahrscheinlich mehr Geduld aufbringen. Kann gut sein, dass du irgend etwas am Anfang einfach interessant findest. Du findest es aber noch nicht besonders erregend. Wenn du es fünfzigmal gemacht hast, denkst du vielleicht plötzlich: ‚Oha …!‘“ (Lilli 2023c).

Hier zeigen sich Widersprüche in der Art und Weise, wie die jugendlichen Nutzer*innen adressiert werden. Während die Ratgeber-Plattform Lustbejahung und Freiwilligkeit betont, erhalten die Empfehlungen gleichzeitig einen Dringlichkeits- und Aufforderungscharakter.

In dem von lilli.ch vertretenen Sexualitätsverständnis, das Sexualität auf das Körperlich-Somatische reduziert, wird die Psyche nahezu vollkommen außer Acht gelassen. Das hier konturierte jugendliche Individuum scheint keine Psyche zu haben, und falls doch, steht diese nicht mit dem Sexuellen in Verbindung. So dominiert selbst in den Beiträgen zu sexuellen Phantasien (vgl. Lilli 2023f) eine Sichtweise, die diese als Ausdruck des Körperlichen bzw. als Illustration einer körperlich erlebten Sexualpraxis auffasst und dabei auf eine vermeintliche Steuerbarkeit sexueller Phantasien abhebt (vgl. Zengler im Druck).

Angesichts der hier herausgearbeiteten Ausrichtung lässt sich fragen, vor welchem gesellschafts- und sexualpolitischen Hintergrund lilli.ch zu diesen sexualpädagogischen Schlüssen kommt. Wieso fordert lilli.ch die jungen Leser*innen penetrant zum Üben an der eigenen Selbstbefriedigungstechnik auf und stellt genussvolle und störungsfreie sexuelle Erlebnisse, Phantasien und Kontakte in Gegenwart und Zukunft in Aussicht? Und wie kommt lilli.ch dazu, dies alles als Gewaltprävention und eine notwendige oder zumindest begrüßenswerte Förderung sexueller Gesundheit zu begreifen?

Im Folgenden wird aus drei unterschiedlichen Perspektiven diese sexualpädagogische Konzeption weiter in den Blick genommen. Dabei wird zunächst auf die Legierung von sexualpädagogischen mit sexualtherapeutischen Konzepten eingegangen, anschließend der spezifische Zugriff von lilli.ch auf die Jugendsexualität herausgearbeitet sowie zuletzt das zugrundeliegende Sexualitäts- und Subjektverständnis im Hinblick auf eine implizierte Handhabbarkeit der Sexualität diskutiert.

2 Lilli.ch und die Popularisierung und Entgrenzung sexualtherapeutischer Konzepte

Das Unterbreiten von Übungsanleitungen begründet lilli.ch damit, dass diese die „sexuelle und persönliche Selbstsicherheit“ (Lilli 2023a) stärken würden. Diese hätten positive Effekte und wirkten präventiv: Denn Jugendliche mit sexueller Selbstsicherheit würden sich besser vor sexuellen Übergriffen, Gewalt und Diskriminierung schützen, sensibler die Grenzen Anderer achten und pubertätsbedingte Krisen besser bewältigen. Zudem „investieren“ sie nicht nur in die „Befriedigung ihrer sexuellen Bedürfnisse“ oder bei sexuellen Problemen in die „Überwindung der Grenzen ihres sexuellen Lernprozesses“, sondern auch in „sexuelle Beziehungen, die auf gegenseitigem Respekt beruhen“ (ebd.).

Eine Konzeption, die Gewaltprävention und Förderung der sexuellen Gesundheit mittels sexualtherapeutischer Anleitungen in einer auf das Handeln des Einzelnen enggeführten Weise miteinander verknüpft, mag auf den ersten Blick irritieren. Vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Leitvorstellungen, die kontinuierlich an Relevanz und Legitimationskraft gewinnen, wird eine solche Herangehensweise jedoch nachvollziehbar.

Als zentral für diese Entwicklung kann der Prozess der Therapeutisierung begriffen werden, wie ihn Anhorn und Balzereit (2016) gesamtgesellschaftlich identifizieren und am Beispiel der Sozialen Arbeit herausarbeiten. Unter Therapeutisierung verstehen die Autoren eine Entwicklung, bei der sich eine spezifische Form und Praktik der Problemwahrnehmung und -bearbeitung, die genuin aus klinischen Kontexten stammt, unter den Bedingungen einer neoliberalen Gesellschaftsformation sukzessive ausdehnt und entgrenzt (vgl. Anhorn 2016, XVII f.). Eine dieser Entgrenzungen besteht darin, dass sich personalisierte therapeutische Herangehensweisen nicht mehr nur auf pathologische Phänomene beschränken, sondern eine über Heilung hinausgehende orientierte Zielrichtung annehmen (vgl. Anhorn und Balzereit 2016, S. 19). Unter der Perspektive der Gesundheitsförderung animieren sie zu einer durch Expert*innen angeleiteten unermüdlichen „Arbeit am Selbst“ (ebd.). In Folge werden therapeutischen Wissensbeständen auch in Professionen jenseits der Medizin oder Psychologie eine zunehmende Deutungshoheit zugestanden (vgl. ebd., S. 18 f.). Die Soziale Arbeit erfüllt in diesem Zusammenhang die Funktion der Verbreitung und Vermittlung in bislang weniger erreichte lebensweltliche Kontexte (vgl. Anhorn 2016, XXII).

Die Popularisierung sexualtherapeutischer Herangehensweisen wie dem Sexocorporel-Ansatz im Rahmen eines sexuellen Bildungs- und Gewaltpräventionsangebots kann demnach als Bestandteil der gesellschaftlichen Therapeutisierung analysiert werden. Als zentraler Bezugspunkt kann dabei das Gesundheitsverständnis, das im Nachgang an die WHO Ottawa-Charta von 1986 dominant wurde, betrachtet werden. Dieses zeichnet sich, so Anhorn und Balzereit, durch einen Wechsel von einem kategorialen Gesundheitsverständnis (gesund ist, wer nicht krank ist) hin zu einem graduellen Verständnis von Gesundheit als Kontinuum aus, „das auf der Grundannahme basiert, dass (ein Mehr an) Gesundheit hergestellt (produziert) werden kann – und gemäß dieser Logik auch hergestellt werden muss“ (ebd., S. 20). Die WHO definiert sexuelle Gesundheit demnach als einen „Zustand des körperlichen, emotionalen, mentalen und sozialen Wohlbefindens in Bezug auf Sexualität und nicht nur das Fehlen von Krankheit, Funktionsstörungen oder Gebrechen“ (WHO 2006, zit. nach BZgA und WHO-Regionalbüro für Europa 2011, S. 19).

Anhorn und Balzereit kritisieren an diesem Gesundheitsverständnis dessen „handlungsauffordernden, aktivierenden normativen Charakter“ (2016, S. 22), der die Individuen zu einer eigenmotivierten gesundheitsförderlichen Verhaltensoptimierung antreibt (gesünder kann man immer werden) oder ihnen die Abweichung von dieser Norm ins Bewusstsein ruft. Gerade darin sehen sie eine zentrale Triebfeder des Therapeutisierungsprozesses: Ausgestattet mit einer kaum hinterfragten Legitimationskraft (wer hat schon etwas gegen mehr Gesundheit?) lassen sich immer mehr gesellschaftliche Bereiche und Probleme in Fragen der Gesundheit überführen. Ebenso können auch die darauf ausgerichteten politischen Antworten bzw. Lösungen zu einem endlosen Prozess der Verhaltens- und Lebensstiloptimierung transformiert werden (vgl. ebd.). Gesellschaftliche Konflikt- und strukturelle Ungleichheitsverhältnisse geraten so aus dem Blick theoretischer Analysen und den darauf aufbauenden (professionellen) Handlungsstrategien (vgl. ebd., S. 12).

Die Bezugnahme auf und die Legitimierung durch sexuelle Gesundheitsförderung im Verständnis der WHO ist im Feld der Sexualpädagogik keine Ausnahme, sondern ist in den letzten Jahren verstärkt zu beobachten (vgl. Voß 2023). Während beispielsweise Henningsen (2015) jedoch noch die politische Dimension des sexuellen Gesundheitsbegriffs berücksichtigt und auf die gesellschaftlichen Bedingungen hinweist, die dem sexuellen Wohlbefinden der Menschen entgegenstehen können, geht eine solche Sichtweise bei lilli.ch vollständig verloren. In der Art und Weise, wie lilli.ch Themen aufgreift und behandelt, zeigt sich eine individualisierende und technizistische Problemwahrnehmung und -bearbeitung. Die Thematisierung von gesellschaftlichen Herrschafts- und Ungleichheitsverhältnissen taucht lediglich am Rande auf (bspw. Lilli 2023g), wird jedoch durch den penetranten Verweis auf Übungsaufgaben, die Verbesserung und Lösung versprechen, konterkariert: Um sich vor sexueller Gewalt zu schützen und „mutiger Nein“ (Lilli 2023h) sagen zu können, empfiehlt lilli.ch beispielsweise, sich mehr Zeit für Selbstbefriedung zu nehmen. Wenn man sich selbst und die eigene Erregung besser kenne, und somit das „Gefühl, eine Frau oder ein Mann zu sein“ (ebd.) verbessere, könne man auch besser bestimmen, was man beim Sex möchte oder nicht (vgl. ebd.). Im an Jungen und Männer gerichteten Artikel Schluss mit Gewalt/Keine Übergriffe machen: Facts, Tipps und Regeln heißt es:

„Wer mit dem eigenen Körper zufrieden ist und seine sexuelle Erregung geniesst, wird sich männlich fühlen. […] Ein richtiger Mann kann immer mit dem Kopf entscheiden, wie er handeln will. Es gibt viele Möglichkeiten, die sexuellen Bedürfnisse auszuleben, wenn keine andere Person da ist, die auch Lust auf Sex hat. Die Selbstbefriedigung ist eine von ihnen. Schau doch mal diese Tipps für bessere Selbstbefriedigung an“ (Lilli 2023i).

Den Adressat*innen wird hier ein stark vereinfachtes Problemverständnis von sexueller Gewalt vermittelt. Suggeriert wird, dass sexuelle Gewalt durch sexuelle und geschlechtliche Selbstsicherheit mittels eines zu absolvierenden Trainingsprogramms verhindert bzw. Schutz hergestellt werden könne. Eine gesellschaftliche Dimension sowie sozialpsychologische Einsichten über die Verbindung von sexueller Gewalt mit einer männlichen Subjekt- und Sexualitätskonstitution in einer nach wie vor androzentrisch strukturierten Gesellschaft werden ausgeklammert. Innerhalb dieser Ordnung bleibt Männlichkeit notwendig ein instabiler und krisenhafter Zustand, an dem weder Selbstbefriedigungstechniken noch „mehr Männlichkeit“ (Lilli 2023c) etwas ändern können (vgl. Pohl 2004).

Letztlich lässt sich lilli.ch als Beispiel betrachten, das zeigt, wie sich unter Bezug auf den sexuellen Gesundheitsbegriff im Feld der Sexualpädagogik therapeutisierende Herangehensweisen ausweiten und Jugendlichen nähergebracht werden (vgl. Kammholz 2023). Eine tief in das Geschlechterverhältnis eingelagerte Problematik wie das der sexuellen Gewalt wird dabei letztlich zu einer Frage sexualtherapeutisch angeleiteter Optimierung des eigenen Selbstbefriedigungsverhaltens. Damit greift lilli.ch gesellschaftlich omnipräsente Optimierungsanforderungen auf und überträgt sie auf bislang verschonte Bereiche des individuellen (Sexual‑)Lebens. Lilli.ch sticht somit als Beispiel hervor, wie sexuelle Bildungsangebote an dem gesellschaftlichen Leitgedanken der Selbstoptimierung mitwirken und sich folglich unkritisch in gegenwärtige Herrschaftsverhältnisse einfügen können (vgl. Koller 2021; King et al. 2014).

3 Lilli.ch und der Zugriff auf die Jugendsexualität

Das Beratungsportal lilli.ch, seine konzeptuelle Schwerpunktsetzung und nicht zuletzt das darin wirksame Sexualitäts- und Subjektverständnis geben aus erziehungswissenschaftlicher Perspektive Anlass, über das Generationenverhältnis nachzudenken. Wie wird das Generationenverhältnis bei lilli.ch akzentuiert, wie das Verhältnis von Erwachsenen- und Jugendlichensexualität konstelliert und lässt sich darin möglicherweise ein Wandel im Umgang mit der Generationendifferenz ausmachen?

Hinsichtlich des angesprochenen Verhältnis zwischen Erwachsenen und Jugendlichen kann zunächst grundsätzlich festgestellt werden, dass die Sexualität von Kindern und Jugendlichen – über gesellschaftliche und historische Veränderungen hinweg – unter der Beobachtung und Einflussnahme Erwachsener steht. Julia König (2020) hat in ihrer historischen Auseinandersetzung mit Schriften zu und über kindliche Sexualität „eine wiederkehrende Figur des Einreißens und der Reinstallation der Generationendifferenz“ (S. 464) ausgemacht. In diesem Sinne ist das Generationenverhältnis sowohl als ein Ort der Austragung gesellschaftlicher Konflikte als auch ein Ort der Inszenierung von Sexualmoral zu verstehen (vgl. ebd.). Auch Christin Sager (2015) hat in ihrer Geschichte der bundesrepublikanischen Sexualaufklärung auf die Entdeckung und Re-Tabuisierung kindlicher Sexualität aufmerksam gemacht. Für den Zeitraum der 1990er-Jahre bis in die 2010er-Jahre hält sie eine gleichzeitige „Hinwendung zum Kind und Abwendung von der kindlichen Sexualität“ (ebd., S. 222) fest. In Bezug auf das jugendliche Selbstbefriedigungsverhalten über die verschiedenen historischen Phasen seit der Nachkriegszeit lässt sich in Anlehnung an Sagers Untersuchung ein Wandel von Verbot, Verneinung und Bestrafung hin zu Wohlwollen und Erlaubnis feststellen.

Mit dem Konzept der sexuellen Bildung und seinem Einfluss auf die Ausrichtung und Gestaltung sexualpädagogischer Angebote kommt eine neue Art der Bejahung sexueller Aktivität und eine Lern- und Erfahrungsaufforderung hinzu, die mit einer Gewichtung der Masturbation als gesund und nützlich sowie mit Tipps zur richtigen und technisch versierten Anwendung dieser Sexualpraxis einhergehen. Lilli.ch kann in dieser Hinsicht als Beispiel für gegenwärtige Tendenzen im Bereich der Jugendsexualaufklärung betrachtet werden. Entscheidend scheint dabei die Bedeutung von Prävention und die Vermittlung von Handlungswissen zu sein. Bereits Bischof hält unter Bezugnahme auf Sank (1998) für das Sexocorporel-Konzept fest, „dass man präventiv schon Jugendlichen adäquate Masturbationstechniken beibringen sollte – eine Strategie, die […] auf der Sexocorporel-gestützten Jugendberatungswebseite www.lilli.ch zur Anwendung gelangt“ (Bischof 2020, S. 431). Für eine auf Prävention ausgerichtete Sexualpädagogik ist eine zukunftsorientierte Logik leitend, die im Hier und Jetzt die sowohl kurz- als auch langfristig als positiv und gesund geltenden Verhaltensweisen nahelegt und – wie im Falle von lilli.ch – nicht nur zu ihrer Einübung auffordert, sondern von den Adressat*innen grundsätzlich eine rationale Einsicht in optimierendes Lernverhalten bezogen auf die eigene Sexualität verlangt. Aus sexualtherapeutischer Perspektive und im Sinne des Konzepts der sexuellen Bildung mag dieses Vorgehen zunächst einleuchten. So resultieren sexuelle Beschwerden und Probleme im Erwachsenenalter häufig aus einer problematischen Fixierung auf die genitale Sexualität und teils auch aus Erregungsmustern, die körperlich eher einschränkend sind (siehe bspw. für die Erregungs- und Orgasmusstörungen bei Männern: Kleber et al. 2020). Nicht zuletzt fordern nicht wenige Heranwachsende mit Blick auf ihre eigene erlebte, beispielsweise schulische Sexual- und Körperaufklärung, tatsächlich eine für sie brauchbarere Sexualpädagogik, die über die Informationen zur Vermeidung von Risiken hinaus auf sexuelle Aktivität vorbereitet (vgl. Winter 2017; Scharmanski und Hessling 2022).

Eine psychoanalytisch fundierte und psychodynamisch orientierte Sexualpädagogik müsste hingegen zunächst danach fragen, ob diese angesprochene Lücke zwischen den Erwartungen und Fragen Heranwachsender und den auf Seiten der Jugendlichen subjektiv als unzureichend empfundenen Reaktionen und Antworten der Erwachsenen nicht als ein notwendiges und nicht auflösbares Missverständnis in der Beziehung und Kommunikation zwischen den Generationen begriffen werden sollte. Abseits davon bleibt gegenüber den bei lilli.ch dargelegten Methoden weiter zu problematisieren: In den repetitiven Aufforderungen zur sexuellen Selbstgestaltung und -optimierung wird den Jugendlichen nicht nur aktiv vorgeschlagen, die eigene Sexualität als Behandlungsgegenstand zu begreifen, es kommt zu einem weiteren, spezifischen Zugriff auf die Jugendsexualität. Die für die Adoleszenz wesentliche Gleichzeitigkeit aus Gegenwartsbezug und Größen- und Allmachtsphantasien (vgl. Erdheim 1984, S. 366) erfährt durch die Sexocorporel-gestützte Aufklärung und Gewaltprävention eine strikte Einbindung in und Unterordnung unter präventive Logiken. Der spätestens seit den 1980er-Jahren beobachtbare, allem voran präventionsgeleitete Zugriff auf die Sexualität von Jugendlichen setzt sich damit nicht nur fort, sondern wird erheblich intensiviert. Jugendliche Sexualität wird in diesem Vorgehen gleich mehrfach fehlinterpretiert: Die Sexualität von Jugendlichen kann zwar nicht als gleichsam offen und ungebunden wie die infantile Sexualität gelten, dennoch ist sie weiterhin weniger gerichtet als die Sexualität der Erwachsenen. Bestimmte für die psychosexuelle Entwicklung (oftmals) relevante Erfahrungen (wie erster Geschlechtsverkehr, Sich-Verlieben, Beziehungen usw.) werden womöglich ersehnt, aber sind noch nicht realisiert worden und wollen vielleicht auch (noch) gar nicht verwirklicht werden. Was das adoleszente Erleben derart auszeichnet, ist der psychosexuelle Zwischenraum inmitten infantiler und erwachsener (und somit stärker primär- und sekundärprozesshafter) Sexualität. Therapeutisierende Selbstuntersuchungen und damit verbundene Verhaltensoptimierungen, gerade wenn sie sich im Feld des Sexuellen bewegen, widersprechen dieser Lebensphase, deren Zauber gerade aus dem (noch) Ungewissen, dem seit kurzem Möglich-Gewordenen und den in diesem Zusammenhang entstandenen Wünschen besteht. Für eine an Beziehung und Respekt gegenüber der Adoleszenz orientierte sexualpädagogische Begleitung sollte daher nicht in Vergessenheit geraten, dass Jugendliche in diagnostischer und auch begrifflicher Hinsicht nicht als sexuell gestört gelten können. Sie sollten demnach auch nicht, wie es bei lilli.ch geschieht, behandelt werden, als ob sie es alle wären oder (mit großer Wahrscheinlichkeit) werden könnten.

Unter Einbezug dieser die Jugendsexualität betreffenden Reflexion kann anhand der Zuspitzung auf die bei lilli.ch durchgeführten Hinwendungen an Jugendliche ein paradoxer Effekt im Generationenverhältnis der Gegenwart hervorgehoben worden: Zwar ist mit dem Konzept der sexuellen Bildung der Anspruch formuliert worden, sexuelle Bildungsprozesse „lernerzentriert“ zu gestalten und damit zu einer Aneignung sexueller Entwicklung, anstatt zur Vermittlung normativer Vorstellungen oder rein kognitiv dominierter Informationen beizutragen (vgl. Valtl 2013). Die Erwachsenen und insbesondere die Pädagog*innen befinden sich in dieser Hinsicht nicht nur im Rückzug und im Verschwinden begriffen, sie werden dezidiert aufgefordert, sich als bloße Lernbegleiter*innen und Impulsgeber*innen gegenüber den Heranwachsenden zu verstehen (vgl. ebd.). Paradoxerweise kehren die Erwachsenen, wie das Beispiel von lilli.ch zeigt, aber gerade in der Umsetzung von den an diesem Paradigma motivierten sexuellen Bildungsangeboten als übungsanleitende und zielformulierende Instanz wieder. In Anlehnung an die von Sager am Beispiel der Kinderaufklärungsschriften der 1990er- bis 2010er-Jahre beobachtete und bereits erwähnte „Hinwendung zum Kind und Abwendung von der kindlichen Sexualität“ (Sager 2015, S. 222) ließe sich mit kritischem Blick auf lilli.ch etwas neuartiges konstatieren: eine auf der Beziehungsebene stattfindende Abwendung vom Jugendlichen bei gleichzeitiger, potenziell kontrollierender Hinwendung zur jugendlichen Sexualität. Im Unterschied zu einer vormals eher restriktiv strukturierten Einflussnahme auf die jugendliche Sexualität erzeugen die am Beispiel von lilli.ch analysierbaren Kontrollimpulse ihre Wirkung aber gerade über Imperative der Selbstbestimmung und Selbstfürsorge. Erziehungswissenschaftlich relevant und für die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen möglicherweise entscheidend sind die Folgen dieses neuartigen Zugriffs auf die Jugendsexualität: Sich zu entziehen und die eigene Intimität auf Distanz zu halten, ist unter diesen Bedingungen ungleich schwerer als unter sexualrepressiven Vorzeichen, insofern die Abwendung von sexualmoralischen Anforderungen in Gestalt restriktiver Pädagogik an einem Außen festgemacht werden kann. In der hier beschriebenen Konstellation verlegt sich diese Instanz jedoch unter Prämissen der Selbstfürsorge und Selbstbestimmung ins Innere. Es gilt gegenüber den Fallstricken sowohl eines sexualrepressiven als auch eines sexualliberalen erzieherischen Umgangs mit Jugendsexualität nunmehr das psychoanalytisch orientierte Dritte auszuloten: eine Sexualpädagogik, die die Spannung zwischen den Generationen weder dramatisiert noch leugnet.

4 Lilli.ch und die Handhabbarkeit der Sexualität

Trotz eines postulierten laissez-faire bezüglich jugendlicher Sexualität beinhalten die sexualpädagogisch-sexualtherapeutisch orientierten Empfehlungen von lilli.ch etwas Aufdringliches: Jugendliche werden zu einem Handeln aufgefordert, wenn nicht gar gedrängt. Ausreichend geübter Solosex fördere nicht nur die zukünftige sexuelle Lust mit anderen, sondern trage gleichfalls zu sexueller Gesundheit bei. Indem das von lilli.ch empfohlene Selbstbefriedigungsprogramm eine prognostizierte sexuell gesunde Zukunft anvisiert, geht mit den Empfehlungen ein Handlungs- und Optimierungsdruck einher, dem sich – insbesondere im Jugendalter – vermutlich nur schwerlich entzogen werden kann. Als aufdringlich können diese Empfehlungen beurteilt werden, insofern sie den subjektiven Spielraum der Jugendlichen bezüglich einer eigensinnigen körperlichen Erfahrungswirklichkeit verengen; Jugendlichen wird ein Körperverständnis vermittelt, das ihnen ein an der Biologie und Kognitionspsychologie orientiertes Körperempfinden vorgibt. Wenn sich die Jugendlichen als eine biologische Verschaltung von Nervenbahnen begreifen sollen, in der die sexuelle Empfindungs- und Erregungsfähigkeit an einem körperlichen Reiz festgemacht wird, der via Nervenbahnen im Gehirn sexuelle Erregung erzeugt, wird ein naturwissenschaftliches und technizistisches Körperverständnis (ein)gesetzt sowie zur Vorgabe gemacht.

Aus psychoanalytischer Perspektive lassen sich diese Empfehlungen nicht nur als Eingriff in die körperliche Erfahrungswirklichkeit von Jugendlichen lesen. Sie transportieren gleichfalls eine dem postideologischen Zeitalter entsprechende Subjektvorstellung (vgl. Recalcati 2022; Soiland 2022), die, indem sie das Subjekt als eine sich selbst verstehende und bestimmende Instanz auffasst, den gegenwärtigen Herrschaftsverhältnissen aufsitzt. Mit der Annahme, dass sexuelle Phantasien steuerbar seien und sexuelle Lust durch Übung verbessert werden könne, wird Sexualität nicht nur zu etwas Handhabbarem, sondern gleichfalls das Subjekt als ein sich selbst gegenüber transparentes aufgefasst. Weder wird von lilli.ch etwas Unverfügbares bezüglich der eigenen Subjektivität eingeräumt, noch wird Sexualität als etwas begriffen, das sich den Individuen entziehen kann und sie somit mit einer Fremdheit sich selbst gegenüber konfrontieren könnte. Sexualität wird auf konkrete körperliche Praktiken reduziert, in denen eine unterstellte sexuelle Bedürftigkeit Befriedigung zu erhalten scheint.

Werden solche Vorstellungen mit einer psychoanalytischen Perspektive konfrontiert, tritt etwas anderes in den Fokus, das hier anhand der Skizzierung des Lacanschen Subjekt- und Sexualitätsverständnisses in den Blick gerückt werden soll. In der Lacanschen Psychoanalyse wird Sexualität gerade nicht auf konkrete sexuelle Handlungen oder Praktiken reduziert, sie verweist vielmehr auf die durch die Sprachlichkeit induzierte Entfremdung des Subjekts. Diese Entfremdung oder Gespaltenheit lässt das Subjekt konstitutiv als ein sich selbst gegenüber fremdes in den Blick rücken; Subjektivität setzt in der Lacanschen Psychoanalyse den Eintritt in die Sprache (in die symbolische Ordnung) und somit die Annahme des symbolischen Gesetzes, d. h. die Annahme der strukturellen Unvollständigkeit der Sprache, voraus. Insofern in der Sprache nicht alles sag- und wissbar ist, bleibt das Subjekt stets mit einem unverfügbaren (realen) Rest konfrontiert. Das heißt, der Eintritt in die symbolischen Austauschsysteme bedingt einen Verzicht auf Ganzheit (auf ein unmittelbares Genießen); ohne symbolische Kastration (ohne diesen Entzug einer (vermeintlichen) Ganzheit) ist Subjektivität in diesem Verständnis nicht zu denken. Aufgrund seiner Sprachlichkeit ist das Subjekt konstitutiv durch eine Negativität gezeichnet, die auf sich zu nehmen ist und das Subjekt im Gegenzug mit Begehren ausstattet. Im Begehren, das auf dem Einschnitt des Symbolischen beruht, kommt die Singularität des Subjekts zum Ausdruck. Als unmittelbarer Ausdruck des Subjekts wäre es jedoch missverstanden; im Lacanschen Sinne ist das Begehren stets das Begehren des Anderen:

„Das Begehren kommt […] vom Anderen. Es kommt vom Anderen, weil es der vom Anderen ins Spiel gebrachte Signifikant ist, der das Subjekt um den Verlust eines Geniessens herum organisiert. Das Begehren zieht seine Kraft nämlich nicht aus dem Sein, sondern aus dem Seinsmangel, aus jenem Mangel, der durch die Unterordnung des Subjekts unter den Anderen determiniert wird“ (Recalcati 2000, S. 33).

In seinem Spätwerk erhält für Lacan das Register des Realen, gegenüber dem Imaginären und Symbolischen, größere Bedeutung, womit auch das Begehren stärker vom Realen aus konzeptioniert wird. Das Begehren gilt in dieser Begehrenskonzeption durch ein Objekt (Objekt a) verursacht, das beim Eintritt in die Sprache als Überschuss oder Rest im Prozess der Symbolisierung entsteht und damit das Begehren verursacht. Das Begehren zieht seine Kraft demnach aus einem realen Rest oder Überschuss, aus etwas, das sich der Einführung des Symbolischen widersetzt. Für den hier diskutierten Kontext ist das Objekt a insofern von Interesse als es als Ursache des Begehrens auf das Intimste und Persönlichste des Subjekts verweist – auf das, was das Subjekt in seiner Singularität auszeichnet, zugleich jedoch letztlich nichts ist, eine Negativität, die sich jeglicher Erschließung widersetzt.

Welche Rolle kommt nun der Sexualität in dieser Subjektvorstellung zu? Wie gesagt, wird sie nicht einfach auf sexuelle Praktiken reduziert, sondern vielmehr mit dieser das Subjekt durchziehenden Negativität in Verbindung gebracht. Alenka Zupančič arbeitet diesen Zusammenhang in ihrem Buch Was ist Sex? aus und stellt die das Subjekt dezentrierende Negativität ins Zentrum:

„Weit davon entfernt, den Menschen an sein tierisches oder natürliches Erbe zu binden, ist Sexualität der problematische Bereich des Seins, der uns aus der Bahn zu werfen scheint, unsere Welt aus den Fugen geraten lässt und uns gleichzeitig mit Hingabe all das betreiben lässt, was für die menschliche Gesellschaft charakteristisch ist: Politik, Kunst, Wissenschaft, Liebe, Religion …“ (Zupančič 2020, S. 71).

Die überbordenden und sich zum Teil auch widersprechenden gesellschaftlichen Diskurse über Sexualität, von ihrer Unterdrückung über ihre Dethematisierung bis hin zu ihrer Befreiung, verweisen auf diesen die Sexualität betreffenden problematischen ontologischen Status. All das, was wir im Alltagsverständnis mit Sexualität in Verbindung bringen (sexuelle Praktiken, Genitalität, Liebesvorstellungen), ist in diesem Verständnis nicht einfach Ausdruck einer biologischen Anlage, sondern verweist auf die durch die Sprachlichkeit induzierte Negativität des Subjekts: „Die menschliche Sexualität ist der Platzhalter für den fehlenden Signifikanten“ (ebd., S. 86), hält Zupančič fest und sagt weiter: „Sie taucht erst durch den Mangel und an dessen Stelle auf und versucht, mit ihm klarzukommen“ (ebd., S. 87). Sexualität wird hier folglich als Effekt der das Subjekt durchziehenden Negativität begriffen. Sie fungiert als nachträglicher Kitt, der diese Negativität auszufüllen versucht. Wenn Lacan davon spricht, „daß es das Geschlechtsverhältnis nicht gibt“ (Lacan 2017 [1975], S. 62), bringt er die Unmöglichkeit einer solchen Schließung zum Ausdruck. Mit seinem Postulat hebt er hervor, dass in die menschlichen sexuellen Beziehungen stets ein Scheitern oder Fehlgehen eingeschrieben ist und der oder die andere in praktizierter Sexualität unerreichbar und somit fremd bleibt.

Vor dem Hintergrund eines solchen Subjekt- und Sexualitätsverständnisses müssen die Empfehlungen von lilli.ch skeptisch machen. Sie geben den Jugendlichen eine bestimmte, nicht weiter transparent gemachte Subjekt- und Sexualitätsvorstellung als handlungsleitend vor und suggerieren eine Handhabbarkeit der Sexualität, die aus psychoanalytischer Perspektive kritisch zu befragen ist. So impliziert der geforderte Umgang mit Selbstbefriedigung nicht nur eine Steuerbarkeit der Sexualität, sie fordert gleichfalls zu ihrer Optimierung auf und greift damit empfindlich in das psychische Innenleben von Jugendlichen ein. In diesen Subjekt- und Sexualitätsvorstellungen bleibt keine dem Subjekt selbst fremd bleibende Intimität bestehen, und eine sich der Manipulation widersetzende Singularität findet keine Berücksichtigung.

5 Fazit

Anhand der hier untersuchten Artikel zum Thema Selbstbefriedigung des sexuellen Bildungs- und Beratungsportals lilli.ch konnten spezifische Tendenzen gegenwärtiger sexualpädagogischer Angebote herausgearbeitet werden: eine Orientierung am sexuellen Gesundheitsbegriff, ein transformiertes Generationenverhältnis sowie Vorstellungen einer technisch optimierbaren Handhabbarkeit der Sexualität. Offen ist die Frage, inwieweit die Plattform mit ihrer spezifischen Konzeption, bei der „konkrete Handlungsvorschläge“ (Lilli 2023a) aus dem Bereich der Sexcorporel-Sexualtherapie eine zentrale Rolle einnehmen, als charakteristisch für eine grundlegende Entwicklung in der sexualpädagogischen Theorie und Praxis betrachtet werden kann oder lediglich als ein Beispiel, bei dem besagte Tendenzen besonders augenscheinlich hervortreten.

Anzuerkennen ist, dass lilli.ch durch die Artikel und die niedrigschwellige Kontaktmöglichkeit versucht, konkret brauchbare Informationen für die Adressat*innen ansprechend zugänglich zu machen. Dabei verstrickt sich das Angebot jedoch in Selbstwidersprüche, indem es ausgehend von der bislang unhinterfragten Legitimationskraft der Förderung sexueller Gesundheit therapeutische Konzepte popularisiert und an eine junge Adressat*innenschaft außerhalb therapeutischer Settings heranträgt: Die konzeptuell vielbeschworene Körper-Geist-Einheit entpuppt sich in den Artikeln zu Selbstbefriedigung als eine Reduktion der Sexualität auf ein biologisches Reiz-Reaktions-Schema, bei dem die Psyche kaum Bedeutung erhält. Botschaften der Lustbejahung und Freiwilligkeit verkehren sich in penetrant vorgetragene Imperative der Selbstoptimierung. Selbstbefriedigung wird durch die aufdringlichen Übungsaufforderungen zur Arbeit am (sexuellen) Selbst und zugleich, trotz der Formulierung Solosex, zu einer den Geschlechtsverkehr vorbereitenden oder verbessernden Trainingspraxis. Wohlklingende Slogans wie sexuelle Gesundheit und sexuelles Wohlbefinden – aber auch der Schutz vor Gewalt – werden so zu persönlichen Zielvorgaben, denen sich das nutzenoptimierende und auf sich selbst bezogene Individuum eigenverantwortlich und unermüdlich zu widmen hat. Weiterhin nehmen gemäß des Paradigmas der sexuellen Bildung die Macher*innen von lilli.ch auf den ersten Blick die Rolle von Lernbegleiter*innen ein. Während sie sich auf der Beziehungsebene tendenziell abwenden, treten sie bei näherer Betrachtung als übungsanleitende und zielformulierende Instanz gegenüber der Sexualität der Jugendlichen in einer Art und Weise auf, der sich nun umso schwerer zu entziehen ist. Trotz des postulierten laissez-faire greifen die Adressierungen von lilli.ch in die körperliche Erfahrungswirklichkeit von jungen Menschen ein und vermitteln eine dem postideologischen Zeitalter zuträgliche Subjektvorstellung. Lilli.ch verspricht eine handhabbare und von der Angewiesenheit auf andere befreite Sexualität, bei der nichts Störendes und Fremdes zurückbleiben darf. Diese Auffassung ist aus psychoanalytischer Sicht grundsätzlich in Frage zu stellen, verweist die menschliche Sexualität im psychoanalytischen Verständnis doch unhintergehbar auf eine konstitutive Entfremdung des Subjekts.

Um nicht blind Herrschaftsverhältnissen zuzuarbeiten, hätte eine Sexualpädagogik, die der Gegenwart gerecht werden will, eine gesellschaftstheoretische Fundierung zu leisten, die den kritischen Einsatz psychoanalytischer Perspektiven erforderlich macht. Eine unkritische Orientierung am Begriff der sexuellen Gesundheit und eines sexuellen Wohlbefindens führt demgegenüber in eine Sackgasse. Darauf verwies bereits die kritische Sexualwissenschaft: „Das gesunde und glückliche Sexualleben bleibt die Ideologie seiner Verhinderung“ (Sigusch 2005, S. 8).