„Das Leben ist wunderschön.

Man sollte das Leben lieben und nutzen.

Auch Tiere haben Leben, Pflanzen auch.

Pflanzen lieben das Leben, genauso wie Tiere und wie wir.

Das Leben ist sehr kostbar.

Es ist so schön und es ist das einzige Leben, das es gibt“.

(Elif, 7 Jahre)

Glaubt man einschlägigen Analysen, dann ist die Klimakrise der drastische Ausdruck einer umfassenden Gefährdung des Lebens auf unserem Planeten (vgl. Horn und Bergthaller 2019). Die Mehrdimensionalität der Krisensituation evoziert epistemische Bruchstellen, die neue Narrationen der Natur-Mensch-Beziehung verlangen sowie unsere Verantwortung gegenüber der mehr als menschlichen Welt neu ordnen. Vor diesem Hintergrund wird auch die Pädagogik der frühen Kindheit in vielfacher Weise für die Realisierung und Umsetzung einer nachhaltigen Transformation adressiert (Stoltenberg 2009; Stoltenberg et al. 2013; Schipprack 2021). Eine zentrale pädagogische Argumentationsfigur ist dabei das Lernen als Transformation (u. a. Singer-Brodowski 2016). Die Erforschung dieser Transformationsbestrebungen in Handlungsfeldern der frühen Kindheit hat bislang den Schwerpunkt auf programmatische Aspekte der Wirksamkeit von Maßnahmen zur Umsetzung von Nachhaltigkeitszielen orientiert an den 17 SDGs gelegt (Bitter 2022; Kucharz et al. 2023). Im Fokus dieser Studien stehen insbesondere Verfahren der Zertifizierung, Professionalisierung sowie Kompetenz- und Organisationsentwicklung in Kitas, die nach einem Top-down-Modell konzipiert und anhand von Fragebögen evaluativ untersucht werden. Seit ihren Anfängen in den 1990er-Jahren werden diese Transformationsbestrebungen im Rahmen einer Bildung für nachhaltige Entwicklung von scharfer Kritik begleitet. Laut Steffen Hamborg (2023) werde in jüngeren Kritiken, BNE eine „entpolitisierende Vereindeutigung der Welt“ und eine „verwertungslogische“ Vereinnahmung von Bildung vorgeworfen (ebd., S. 154). Diese Kritiken erscheinen besonders dann schlüssig, wenn Ansätze einer Bildung für nachhaltige Entwicklung darauf abzielen, zukünftige Herausforderungen ausschließlich durch die Vermittlung klar definierter Kompetenzen zu bewältigen. Dies lässt sich gut an aktuellen politischen Entwicklungen im Feld der Pädagogik der frühen Kindheit veranschaulichen. Im November 2022 fand in Taschkent in Usbekistan die zweite große UNESCO-Weltkonferenz zu frühkindlicher Erziehung und Bildung unter dem Motto „Early investment for a better learning and brighter future“ (UNESCO 2022) statt. Agenda der Weltkonferenz war die Frage, wie Erziehung und Bildung von Kindern zum Aufbau einer sozial gerechten und nachhaltigen Gesellschaft beitragen können. Durch evidenzbasierte Maßnahmen, verbindliche und einheitliche Qualitätsstandards, Curriculum-Entwicklungen und frühzeitiges Screening zur Erkennung von Entwicklungsschwierigkeiten soll eine Verzahnung von Bildungsgerechtigkeit und Nachhaltigkeit auf globaler Ebene realisiert werden, wie es in der entsprechenden Deklaration heißt.

Bildung für nachhaltige Entwicklung tritt hier mit dem Anspruch eines umfassenden pädagogischen „Zugriffs auf die gesamte Menschheit“ (Hamborg 2023, S. 158) auf, der durch frühe Investitionen in frühkindliche Erziehung und Bildung die notwendige Transformation herbeiführen soll. Anstelle eines „Wirksamkeits- und Machbarkeitsoptimismus“ (Hamborg 2023, S. 158, Herh. i. O.) möchte ich im Anschluss an die spanische Philosophin Marina Garcés (2022) den Gedanken stark machen, dass eine nachhaltige Transformation von Denk- und Lebensformen voraussetzt, das „vorgegebene Gerüst zu verlassen und zu grundlegenden Fragen zurückzukehren“ (ebd., S. 17). Wie können wir uns von nichtnachhaltigen Denkmustern lösen, die stets auf die Optimierung des Bestehens setzen? Welche alternativen Epistemologien des In-Beziehung-Seins kommen dabei in Betracht, um zukünftige Formen des Zusammenlebens zu erkunden?

Um in den Ruinen der Zerstörung Möglichkeiten eines zukünftigen Lebens zu erkunden, so etwa die Anthropologin Anna Lowenhaupt Tsing (2021), müssen wir uns der Praxis des Lebens zuwenden, jenen lebendigen verkörperten Prozessen der Welterzeugung, die uns mit anderen Wesen verbinden und neue Lebenslinien schaffen (vgl. ebd., S. 39).

Welche Möglichkeiten und Perspektiven eröffnen sich, wenn wir die Frage, was es heißt, zu leben und lebendig zu sein, in Theoriebildung und Forschung einer Pädagogik der frühen Kindheit miteinbeziehen? Welche theoretischen Fassungen können helfen, Phänomene der Lebendigkeit zu erkunden und für empirische Forschung nachhaltiger Transformationsbemühungen in Kitas fruchtbar zu machen?

Diesen Fragen geht der folgende Beitrag in fünf Schritten nach und versucht, grundlagenorientierte Impulse zu einer kritisch-phänomenologischen Nachhaltigkeitsforschung am Beispiel der Pädagogik der frühen Kindheit zu liefern. In einem ersten Schritt werden theoretische Bewegungen des Posthumanismus bzw. Neomaterialismus sowie neuere Ansätze der Phänomenologie diskutiert, die mögliche postanthropozentrische Erweiterungen kindheitstheoretischer Perspektiven um Phänomene der Lebendigkeit bieten. In einem zweiten Schritt wird die Forschungsperspektive einer kritischen Phänomenologie der Mensch-Natur-Beziehungen skizziert und anschließend das Geschichtenerzählen als möglicher methodischer Zugang zu Kulturen der Lebendigkeit in Kitas vorgestellt. In einem vierten Schritt wird am empirischen Beispiel, das im Rahmen einer ethnografischen Forschung in einer Kita erhoben wurde, eine Geschichte der Kind-Huhn-Begegnungen präsentiert und mögliche Aspekte von Kulturen der Lebendigkeit herausgearbeitet. Im Fazit werden schließlich zentrale Ergebnisse der Untersuchung mit Blick auf ethische und ökologische Aspekte, die jeweilige Zukunftsentwürfe und Imaginationen des artenübergreifenden Miteinanderlebens eröffnen, diskutiert.

1 Theoretische Bewegungen: Lebendigkeit als postanthropozentrische Kategorie

Von einer neuen Aufmerksamkeit gegenüber Phänomenen des Lebens zeugen jene theoretischen Bewegungen, die das dominante wissenschaftliche Wissen über den Menschen und seiner Bildung in einem interdisziplinären Feld herausfordern und nach epistemologischen, ontologischen und ethischen Möglichkeiten einer postanthropozentrischen Erweiterung erziehungswissenschaftlicher Wissensproduktion suchen (u. a. Taylor und Pacini-Ketchabaw 2019). Neben einer neuen Aufmerksamkeit gegenüber der relationalen Verbundenheit alles Lebenden werden auch indigene Wissensansätze und Kosmologien zunehmend in die Theoriebildung und empirische Forschung einbezogen (vgl. Lutz 2022; Schellhammer 2022; Or 2022). Entgegen der eurozentrischen Narration einer herrschaftsförmigen Trennung von Mensch und Natur (Kritische Theorie) fokussieren diese neuen Theoriebewegungen die vielfältigen hybriden Verbindungen zwischen menschlichen und mehr als menschlichen Welten – zwischen Elementen, Materialität(en), Diskursen, Kräften und Landschaften.

1.1 Posthumanismus bzw. Neomaterialismus

In diesen theoretischen Neufassungen, die auch unter den Namen des Posthumanismus oder Neomaterialismus diskutiert werden, wird Lebendigkeit als eine umfassende, nichtanthropozentrische Kraft affirmiert. Beispiele für dieses Anliegen sind Jane Bennetts (2020) Arbeiten zur lebhaften Materie oder Rosi Braidottis (2018) Konzept von „zoe“ als vitale kosmische Kraft.

Bennett schreibt über die lebhafte Materie, dass sie durch eine Möglichkeit des Affizierens und Affiziertwerdens Gefüge des „lebendigen, pulsierenden Bündnisses“ (Bennett 2020, S. 59) bildet. In diesem pulsierenden Gefüge konstituieren sich Körper als Teile anderer, mehr als menschlicher Körper. Ähnlich argumentiert auch Rosi Braidotti, wenn sie vorschlägt, Leben („zoe“) als eine vitale und generative Kraft zu affirmieren, die allen Lebewesen, aber auch Dingen und Gegenständen, innewohnt und den umfassenden Lebenszusammenhang an sich garantiert (Braidotti 2018, S. 29). Ausgangspunkt ist die Auffassung einer relationalen Prozessontologie, die das gemeinsame Werden als ein über die menschlichen Belange hinausgehendes Weltverhältnis betrachtet. Für das In-Beziehung-Sein als ontologisches Verhältnis ist nicht nur die Wirkmächtigkeit der Materialität, Empfindsamkeit und Verletzbarkeit des Körpers entscheidend. Miteinander zu leben heißt auch, in affirmativer Hinsicht Genuss und Freude zu steigern und die schöpferische Wirkmächtigkeit (potentia) zwischen Körpern zu erhöhen (vgl. Braidotti 2018, S. 20).

In diesem Diskurszusammenhang wird auch die traditionelle Vorstellung von Kultur und Natur als zwei getrennte Sphären kritisch hinterfragt, da Phänomene der Lebendigkeit ein Geflecht darstellen, in dem natürliche und kulturelle Elemente ineinander übergehen. Eine Schlüsselrolle kommt dabei dem Neologismus des „NatureCulture“ zu, wie er etwa durch die Arbeiten von Bruno Latour (2008) oder Donna Haraway (2008) Eingang in den Diskurs der Kindheitsforschung gefunden hat.

Als exemplarisches Beispiel im Kontext einer Pädagogik der Kindheit können hier die Arbeiten des Forschungsnetzwerks „Common Worlds Research Collective“ (Taylor und Pacini-Ketchabaw 2019) genannt werden (Übersicht vgl. u. a. NN). Anstatt die Vorstellung einer unüberwindbaren Kluft zwischen Kultur und Natur zu wiederholen, wird ausgehend von flachen Ontologien und relationalen Konzepten (u. a. Moss 2019) mehr als menschliche Welten in ihren vielfältigen Verschränkungen zwischen Kindern, Kängurus, Fröschen, Ameisen, Gewässern und anderen Ortschaften erforscht (vgl. u. a. Cutter-Mackenzie-Knowles et al. 2020).

1.2 Phänomenologie(n) der Lebendigkeit

Weitere Impulse zur postanthropozentrischen Perspektivenerweiterung stammen aus der kritischen Weiterentwicklung der Phänomenologie. Die Erfahrung des Lebendigseins, so etwa Corine Pelluchon (2021), schließt „unsere Körperlichkeit und unsere Abhängigkeit von den Ökosystemen“ (ebd., S. 291) ebenso ein, wie auch das „Erleben unserer Zugehörigkeit zur gemeinsamen Welt“, das „auf der Wahrnehmung dessen basiert, was uns mit anderen Lebewesen verbindet“ (ebd., S. 294). Unsere leibliche Verwobenheit mit der Welt ist ein fleischliches Gewebe von sinnlicher und sinnstiftender Materialität, ein Berühren und Berührtwerden gleichermaßen (vgl. Merleau-Ponty 1994; Abram 2015). Wir sind durch unsere Körper eingetaucht in ein leibliches Gewebe von Wahrnehmungen und Empfindungen, indem wir atmen, trinken, schmecken, hören, uns von anderen Lebewesen berühren lassen, den Anblick der Anderen spüren, durch sie und mit ihnen erfahren, was es heißt, lebendig zu sein. Durch die Berührung des Anderen (ein glatter Stein, die Feder eines Vogels, die Hand eines anderen Menschen) werden wir andere, wir bewegen unsere Körper anders, bekommen eine andere Aufmerksamkeit, denken bestimmte Gedanken, fühlen bestimmte Gefühle.

Exemplarisch für dieses Anliegen sind Forschungsarbeiten im Kontext einer Pädagogik der frühen Kindheit, die sich mit Fragen zur Leiblichkeit als Umschlagstelle von Natur und Kultur bei der Konstitution frühkindlicher Erfahrungen (Stieve 2022), ökologisch-kulturellen Lebensformen und ihrer konzeptionell-didaktischen Gestaltung in der Frühpädagogik (Stenger 2023), den Multispezies-Geschichten im Kontext von Kitas (Bilgi 2023) oder zu Vitalität und Vulnerabilität als „[e]mpfindlich empfindsame Lebenskräfte“ als existenzielle Aspekte des kindlichen Daseins (Wehner 2023) auseinandersetzen.

1.3 Zusammenfassung

Posthumanismus bzw. Neomaterialismus und Phänomenologie entspringen unterschiedlichen disziplinären Diskursen, rekurrieren auf verschiedene Theorietraditionen und legen unterschiedliche Vorstellungen von Relationalität, Ethik und Pädagogik nahe. Dennoch gibt es auch zahlreiche Überschneidungen zwischen beiden Zugängen. Sie stehen exemplarisch für eine Wende in der Theoriebildung und Forschung, die durch den Einbezug von Phänomenen der Lebendigkeit und die mit ihnen einhergehenden kulturellen, ethischen und ökologischen Herausforderungen auf eine postanthropozentrische Neuordnung der Kultur- und Sozialwissenschaften jenseits von Dualitätsmodellen zielen.

Für die folgenden Überlegungen möchte ich einen pragmatischen Weg einschlagen, um die beiden durchaus heterogenen Zugänge für die Erforschung von Kulturen der Lebendigkeit in ein Verhältnis zu setzen. Die Phänomenologie bleibt in ihren vielfältigen Ausprägungen für die Diskurse eines Neuen Materialismus wichtig. Während neomaterialistische Ansätze eine relationale Ontologie des In-Beziehung-Seins in Multispezies-Welten entwerfen, bieten phänomenologische Zugänge eine angemessene Herangehensweise, um die vielfältigen Erlebnis- und Erfahrungsqualitäten dieses In-Beziehung-Seins in seiner Vielschichtigkeit, d. h. als leibliches Erleben und Erfahren im „Zwischen“ von Materialitäten, Körpern und Sinnkonstitutionen offenzulegen, die in jeweilige artenübergreifende Welterzeugungsprozesse eingebettet sind.

2 Kritische Phänomenologie der Mensch-Natur-Beziehungen

Im Folgenden werden die skizzierten theoretischen Denkbewegungen mit empirischen Beispielen der Kind-Huhn-Begegnungen verbunden, die im Rahmen einer ethnografischen Untersuchung in einer Kindertagesstätte gesammelt wurden (u. a. Bilgi 2023). Die ausgewählten Beispiele erzählen vom gewaltvollen Umgang mit nichtmenschlichen Anderen. Sie werfen ein Licht auf das unfassbare Leid unzähliger Wesen in der industriellen Tierhaltung, die, wie Judith Butler (2020) es nennen würde, in einer Art „Zone des Nicht-Seins“ (ebd., S. 24) existieren, indem ihnen weder das Leben noch das Sterben zugestanden wird. Die Frage ist, was passiert, wenn Kinder auf ehemalige Hennen aus der Eierindustrie treffen und die erlittene Gewalt und Verletzung des Anderen für sie unmittelbar erfahrbar wird. Wie können trotz der Wahrnehmungen und Erfahrungen von Verletzbarkeit und Tod Kulturen der Lebendigkeit entstehen, die Freude, Hoffnung und Sehnsucht nach Lebendigkeit stiften können?

Mögliche Anschlüsse für die Erforschung von Phänomenen der Lebendigkeit, wie sie hier umrissen wurden, bietet eine kritische Phänomenologie (u. a. Al-Saji 2009; Guenther 2019), die im Unterschied zur Vorstellung einer rein deskriptiven Wissenschaft vor allem die macht- und herrschaftsförmige Strukturierung alltäglicher Lebenswelten in den Fokus rückt. Im Zentrum stehen Untersuchungen von Unterdrückung, Diskriminierung und Kolonialisierung entlang anthropozentrischer, rassistischer und geschlechtlicher Differenzverhältnisse. Die Forschungsperspektive widmet sich damit nicht nur der Frage, wie ein Phänomen sich jeweilig konstituiert, sondern auch, wie Natur-Kultur-Verhältnisse in körperlich-leibliche Konstitution von Lebenswelten einbezogen sind und damit eine bestimmte Art und Weise konfigurieren, wie Gefühle, Wahrnehmungen, Erlebnisse und Erfahrungen, aber auch Orte, Räume und Beziehungen organisiert, strukturiert und hervorgebracht werden.

Eine kritische Phänomenologie der Mensch-Natur-Beziehung zielt darauf, den Zweifel als eine „zivilisatorische Epoché“ (Pelluchon 2021, S. 99) zu kultivieren, nicht nur um herrschaftsförmige Verhältnisse aufzudecken, sondern auch nach transformativen Horizonten für ethische und ökologische Möglichkeiten des Lernens miteinander zu leben zu suchen. Für die ausstehende Analyse möchte ich einer Lesart der kritischen Phänomenologie folgen, die nicht nur auf eine Dekolonialisierung anthropozentrischer Denkstrukturen zielt, sondern sich auch als eine ästhetische Forschungspraxis versteht (u. a. Kimoto und Willett 2019); als eine Praxis des Geschichtenerzählens, um jene Erfahrungen, die dem Lebendigsein nachspüren, zu erhellen, aber in der Sprache der Wissenschaften bislang sprachlos geblieben sind (vgl. ebd.).

3 Geschichtenerzählen

Warum Geschichten erzählen? Nach Hannah Arendt (2006) bleibt der Elan des Lebens bis zum Tod erhalten, weil die „Bedeutung einer jeden Geschichte [sich] erst dann enthüllt, wenn die Geschichte an ihr Ende gekommen ist“ (ebd., S. 239). Am Leben zu sein heißt also, von Anfang an in Geschichten verstrickt zu sein (vgl. ebd., S. 240 f.). Geschichten erzählen ist eng mit dem verbunden, was Arendt als das zwischenmenschliche Gewebe der Welt beschrieben hat. Folgt man Wilhelm Schapp (1976), dann ist das in Geschichten-verstrickt-Sein nicht ausschließlich dem menschlichen Leben vorbehalten. „Ebenso wie wir den Zugang zum Menschen nur über seine Geschichten suchen können“, so Schapp, können wir auch „zum Baum oder zur Pflanze oder zum Tier (…) einen Zugang erhalten, indem sie als in Geschichten verstrickt vor uns auftauchen“ (ebd., S. 134). Geschichten entsprechen einem Denken in Verflechtungen und in Verbundenheit. Sie sind erfahrungsträchtige Verdichtungen, in denen ein lebendiges Netz von Beziehungen, Bindungen, Emotionen, Erinnerungen, Orten, Räumen und Zeiten miteinander geknüpft wird. Hier besteht eine deutliche Nähe zur phänomenologischen Vignetten- und Anekdotenforschung (vgl. Agostini et al. 2017; Rathgeb 2017). Weder geht es im Geschichtenerzählen um „Operationalisierung“ noch um „Kategorisierung“, sondern um die Artikulation des „Mit-Erfahrene[n], Mit-Empfundene[n], Mit-Gehörte[n] oder Mit-Gesehene[n] als leibliche Verkörperungen [gelebter] Erfahrung“ (Schratz 2019, S. 2). Durch Geschichten kann das Bezugsgewebe von leiblichen, materiellen, affektiven und räumlichen Erfahrungen sicht- und spürbar werden. Ziel ist nicht auf der Grundlage theoretischer Modelle objektive Daten zu gewinnen, um damit die Welt entlang festgelegter Kategorien zu interpretieren oder zu erklären. Das Erzählen von Geschichten bietet vielmehr eine ästhetisch-ethische Möglichkeit, neugierig zu sein und das Unerwartete und Ungeplante zu erkunden. Vielmehr modellieren Geschichten „Lebendigkeit im Medium der Worte“ (Weber 2014, S. 262). Sie erzählen über den Geschmack, den Duft, die Farben, die uns mit dem Leib der Welt verbinden, indem sie helfen Sinn zu stiften, uns berühren und widerfahren. In diesem Sinne lassen sich im Anschluss an die Anekdotenforschung Geschichten als ästhetisch verdichtete Narrationen des „Affizierenden (Einprägsamen, Eigentümlichen, Erfreulichen, Verstörenden, neugierig-Machenden) eines bestimmten Momentes in einer Weise geht“ verstehen, „welche die Vielschichtigkeit, Fülle und Lebendigkeit solcher Erfahrungen möglichst nah am Erzählten festhält“ (Schratz et al. 2012, zit. n. Rathgeb 2017, S. 242).

Zugleich sind Geschichten nicht unschuldig, sondern erfordern eine forschende Haltung des Unruhig-Bleibens (Haraway 2018). Denn Geschichten können verführen, Machtasymmetrien verdecken, Kohärenz unterstellen, wo in Wirklichkeit Konflikte und Bruchlinien bestehen. In Geschichten verstrickt sein heißt daher die ganze Szenografie von gesellschaftlich-historisch bedingten Konstellationen, anthropozentrischen Vorurteilen, kontextspezifischen Weisen der Subjektivierung, der erlebten und gelebten Erfahrungen sowie ethische Aspekte zu berücksichtigen.

Im Folgenden geht es in diesem Sinne um Geschichten der Kind-Huhn-Begegnung, die von Fachkräften und Kindern im Rahmen von Interviews oder Gesprächen als erinnerte Erfahrungen erzählt, durch teilnehmende Beobachtungen miterfahren, in Newslettern oder Portfolios verschriftlicht, in Fotos und Zeichnungen der Kinder festgehalten wurden. In erfahrungsträchtigen narrativen Verdichtungen werden so Sinnebenen, kulturelle Muster, Praktiken und Rituale im Kita-Alltag versucht festzuhalten, in ihrer Vielschichtigkeit offenzulegen und zu befragen, wie Möglichkeiten artenübergreifenden Zusammenlebens entstehen, gestaltet werden und sich transformieren können.

Solche erfahrungsträchtigen Geschichten vollziehen sich im Kindergarten in menschlichen und mehr als menschlichen Beziehungen, in der Begegnung und der Berührbarkeit des Anderen, in dem Aufkommen von Angst und Unsicherheit. Von Forschenden erfordert sie eine Haltung entschlossener Wachheit, Empfänglichkeit, Ausdauer und Bereitschaft. Wie die berühmte Schriftstellerin Hilde Domin (2009) formuliert, sollen wir „nicht müde werden, sondern dem [Unbekannten] leise wie einem Vogel die Hand hinhalten“. Eine Geste der Einladung, mit Vinciane Despret (in Buchanan et al. 2015) gesprochen, um sich dem Anderen als Anderer zu nähern, nicht um die Welt mit den Augen des Anderen zu sehen, sondern um die vielschichtigen und brüchigen Geschichten aufzuspüren, die auch in der Kind-Huhn-Begegnung von Gewicht sind. So möchte ich im Weiteren der Frage nachgehen, welche möglichen Horizonte für ethische und ökologische Aspekte des Lernens miteinander zu leben in der Kita durch vielfältige Geschichten der Kind-Huhn-Begegnung eröffnet werden?

4 Geschichten über das Leben und Sterben mit Hühnern

Die folgenden Geschichten ereigneten sich in einer Kita, in der Fachkräfte und Kinder ihren Alltag gemeinsam mit Stabschrecken, unendlich vielen Ameisen, einer Hündin und Hühnern gestalten. In-Geschichten-verstrickt-Sein gehört zum Alltag der Kita. Es müssen Lösungen für vielfältige Herausforderungen gefunden werden, wie zum Beispiel für entlaufene Ameisen, die Versorgung eines Hundes mit einer Bissverletzung oder die Umgestaltung eines Raums in der Kita zu einer Rettungsstation für Hühner aufgrund eines sehr kalten Winters. Das Zusammenleben mit Tieren im Kita-Alltag ist nicht immer einfach. Interessenkonflikte müssen ausgetragen und schwierige ethische Entscheidungen getroffen werden; das Zusammenleben ist mit mehr Arbeit verbunden, Tiere werden krank, müssen versorgt werden, und manchmal sind Tod und Abschiednehmen unvermeidbar.

Mira (Pädagogin) erzählt rückblickend, dass die Entscheidung, ob Hühner in die Einrichtung einziehen sollen oder nicht, ein langwieriger Prozess war. Sie kontaktierten den Tierschutzverein „Rettet das Huhn e. V.“ und berieten über wichtige Details für einen möglichen Einzug von ehemaligen Legehennen aus der Eierindustrie. Um die Entscheidung zu erleichtern, wurde beschlossen einen Probedurchlauf mit sogenannten „Leihhühnern“ von einem bekannten Anbieter zu machen. Schließlich wurden im Sommer fünf Hühner mit Stall, Zaun sowie Futter- und Wassertrog in die Kita gebracht. Am Ende des Probedurchlaufs durften nicht nur die ausgeliehenen Hühner in der Kita bleiben, es wurden noch zusätzlich zwei weitere Hühner über den Verein „Rettet das Huhn e. V.“ aufgenommen.

Schnell wurde aber klar, dass Hühner aus der industriellen Tiernutzung besonders viel Schutz brauchen. Als das erste Huhn in der Einrichtung starb, war es eine „völlige Katastrophe“, die Kinder haben geweint und getrauert, erinnert sich Mira (Pädagogin). Mit dem Einzug der Hühner in die Kita werden Verstrickungen gesellschaftlicher Naturverhältnisse für Fachkräfte und Kinder erfahrbar: kaum erzählte Geschichten der Ausbeutung, des Leidens und Sterbens. Auf die Geschichte der Hühner soll im Folgenden näher eingegangen werden.

Beginnen möchte ich mit einem Auszug aus einem Gesprächsprotokoll, das vormittags in einem der Kitaräume entstanden ist. In diesem Gespräch stand die Frage im Fokus, wie Kinder den Einzug der Hühner erlebt haben und welche bedeutsamen Erfahrungen sie mit der Verletzbarkeit und dem Tod der Hühner gemacht haben.

4.1 „Lernen, mit den Gespenstern zu leben“ (Derrida 2004)

Es sind schon viele Kinder in der Rollenwerkstatt, so wird der Raum in der Kita genannt. Einige sind in der Rollenecke, andere sind mit den Bauklötzen beschäftigt. Ich setze mich auf einen großen blauen Teppich, der an einen mit Kissen ausgelegten Holzpodest angrenzt. Es gesellen sich schnell Kinder zu mir. Schon bald entsteht ein Sitzkreis. Ich erzähle den Kindern, dass ich gerne mehr über die Hühner wissen möchte und ob sie mir vielleicht etwas über sie erzählen möchten. Frederico ruft aufgeregt rein: „Ich weiß alles über Hühner! Die essen den ganzen Tag, machen viel Müll, viel Kacka, das müssen wir wegmachen.“ Lara: „Wir haben neue Hühner, sogar einen Hahn, der heißt Herr Hahn. Dann haben wir noch Sofi, Pipi und Vicky.“ Leonie ergänzt: „Wir hatten früher mehr. Es sind schon einige tot, Jäggi und die Fridas, wir hatten zwei Fridday.“ Necla erzählt, wohin die Hühner gehen, wenn sie gestorben sind. „Sie gehen in die Luft. Sie gehen dahin, wo auch die gestorbenen Menschen sind. Dort sehen uns die Hühner, aber wir können sie nicht sehen.“ „Was habt ihr dann gemacht als die Hühner gestorben sind?“, frage ich. „Wir haben ein Abschiedskreis gemacht, gemalt, Morgenkreislied gesungen“, berichten Kinder. Die Kinder bringen zwei Stofftierhühner, um zu zeigen, wie die verstorbenen Fridas ausgesehen haben. Füße, Kämme, Schnäbel werden mir präsentiert. „Weiß du was“, sagt Paulina, „meine Oma ist auch schon gestorben.“ „Und mein Opa ist auch schon gestorben“, ruft ein anderes Kind. Ich frage die Kinder, ob sie wüssten, warum Großeltern sterben können. Paulina antwortet: „Wenn die zu alt sind, sterben die, die können das einfach nicht mehr aushalten.“

Auffallend an dieser Szene ist, dass der Tod der Hühner relativ schnell von den Kindern genannt wird. Tod und Abschiednehmen sind wesentliche Erfahrungen, die die Wahrnehmung der Kinder von Hühnern strukturieren. Gleichwohl sind Hühner, die sterben, nicht einfach abwesend. Ein gespenstisches Dazwischen, so lassen sich Neclas Erklärung interpretieren, das durch eine gleichzeitige Abwesenheit und Anwesenheit gekennzeichnet ist.

Was heißt es zu „[l]ernen, mit den Gespenstern zu leben“? Was heißt es ihnen zu lauschen, sie in Orten, die von Kindern und anderen Lebenden bewohnt werden, willkommen zu heißen? Welche pädagogischen und ethischen Horizonte werden dadurch eröffnet? Das Gespenstische wirkt in der Situation nicht unheimlich, sondern produktiv. Durch das Gespenstische werden bestimmte Handlungen in Gang gesetzt, bestimmte Erinnerungen wachgerufen, bestimmte Erzählungen nahegelegt. Das Gespenstische verkörpert sich in Stofftieren, schafft einen Zwischenraum zwischen dem Imaginären und dem Wirklichen, eröffnet eine bestimmte Atmosphäre. Das Gespenstische lässt die vielfältigen Verbindungen zwischen dem Vergangenen und dem Zukünftigen, den bereits Verstorbenen und den noch Lebenden aufscheinen. Kinder erleben und erfahren den Tod als etwas, was Hühner und Menschen verbindet. Die Begegnung mit dem Sterben des Anderen lässt uns unsere eigene Sterblichkeit erahnen. Die Kinder setzen den Tod der Hühner mit ihren Erfahrungen in Beziehung. Sie berichten von ihren Großeltern, die gestorben sind, und von jenen, die noch sterben werden. Sowie lebende Menschen und Hühner gemeinsam die Kita bewohnen, kommen auch tote Großeltern und Hühner an einen Ort, wo sie zusammen sind. Der Tod hat keinen Schrecken, er ist ein Übergang an einen anderen Ort. Man stirbt, weil man es nicht mehr aushält, wie Paulina sagt.

Wie können Erfahrungen mit der Verletzbarkeit und dem Tod des Anderen pädagogisch gestaltet werden? Welche Praktiken, Rituale und Beziehungen sind wichtig, damit aus solchen Erfahrungen Möglichkeitshorizonte für ethisch-ökologisches Miteinanderleben entstehen können?

4.2 Kulturelle Rituale und Orte des Abschiedsnehmens

Nach dem Gespräch mit den Kindern führte ich ein Feldinterview mit der Erzieherin Mareike. Sie erzählte mir, dass Kinder den Tod der Hühner sehr unterschiedlich erlebt haben. Für einige Kinder sei das Thema schnell vom Tisch gewesen, für andere hingegen sei es noch lange präsent gewesen.

Gemeinsam mit den Kindern entwickelte sich der Wunsch, auf der Sonnenterasse eine Abschiedsfeier für eines der verstorbenen Hühner (Frida) zu veranstalten. Sitzmatten wurden auf dem Boden zu einem großen Kreis ausgelegt. Ein Bild von Frida wurde sichtbar mittig auf den Boden gelegt. Kinder die Frida etwas zum Abschied wünschen wollten, durften Bilder malen, etwas aufschreiben lassen oder laut vortragen.

Mareike erinnert sich, dass sie von der Situation etwas überrascht war. Die Abschiedsfeier „war gar nicht so traurig, sondern okay“. Da „waren so ganz viel Fantasien, was passiert denn da im Himmel? Oder was ist überhaupt Himmel? Was ist wenn man tot ist? … eigentlich gibt es kein schöneres Thema als Tod in dem Sinne, dass es so viel Freiraum gibt. Es gibt kein Richtig und kein Falsch. Wir wissen einfach nicht, was nach dem Tod passiert. Und das eröffnet so viel Fantasie und so viel Freiraum, dass die Kinder sich da frei entfalten können.“

In Auseinandersetzung mit dem Tod eröffnet sich ein Möglichkeitsraum, um das Gespenstische durch symbolische Handlungen des Wünschens, des Anzündens einer Kerze willkommen zu heißen. So wie zu jedem Geburtstag als feierlicher Anlass eine Kerze zur Begrüßung des Lebens angezündet wird, so Mareike, wird auch zum Abschied aus dem Leben eine Kerze angezündet. Wenn die Begrüßung, wie Meyer-Drawe (2022) schreibt, „zu einer der wichtigsten Formen des höflichen Zugewandtseins“ gehört (ebd., S. 17), dann ist das Abschiednehmen ein Bekenntnis der Verbundenheit mit dem Anderen. Gerade die großen Tabuthemen von Tod, Krieg und Umweltzerstörung, wie Mareike sie bezeichnet, könne bei Kindern und Erwachsenen Ohnmacht und Angst auslösen. Diese Themen greifbar und begreifbar zu machen, sie mit einer positiven Handlung zu verbinden, so Mareike weiter, könne Orte schaffen, die trotz schwieriger Fragen, den Kindern Hoffnung geben und sie handlungsmächtig machen.

Byung-Chul Han (2019) zufolge sind Rituale, wie etwa das Versammeln um den Tisch, das Anzünden einer Kerze oder das gemeinsame Singen eines Abschiedsliedes „symbolische Handlungen“, die jene kulturellen „Werte und Ordnungen“ repräsentieren, „die eine Gemeinschaft tragen“ (ebd., S. 9). Die Hühner lehren uns, dass alles, was geboren wurde, irgendwann auch sterben muss. Sterblichkeit ist eine Form der irdischen Transzendenz, die alles, was lebt, miteinander verbindet. Rituale des Abschiednehmens sind kulturelle Versuche, dieser Transzendenz des Lebens eine Form zu geben. Sie verwandeln das In-der-Welt-Sein in ein „Zu-Hause-Sein. Sie machen aus der Welt einen verlässlichen Ort“ (Han 2019, S. 10).

4.3 Sinn für geteilte Schönheit und Gerechtigkeit

Was hat sich in der Kita durch das Zusammenleben mit Hühnern verändert? Welche Formen von Beziehungen sind entstanden? Mittlerweile sind bis auf zwei alle Hühner verstorben. Trotzdem werden die in der Kita entstandenen Orte und ihre Geschichten positiv erlebt. Der Hinterhof ist zu einer „Oase der Ruhe“ geworden, berichten die Pädagog*innen. Kinder ziehen sich gerne an diesen Ort zurück und verbringen Zeit mit den Hühnern. Kinder verweilen an diesem Ort, schauen Hühnern zu, wie sie scharren oder ein Sandbad nehmen. „[Also] da lernt man von den Kindern wirklich den Moment einfach so zu genießen, sich einfach ins Gras zu setzen und zu beobachten, was passiert denn da eigentlich?“, erzählt die Erzieherin Mira. Wie Emmanuel Lévinas beschreibt, wird mir der andere nicht vordergründig zur Nahrung, weil ich ihn zur bloßen Ressource mache. Sich gegenseitig sinnlich zu nähren heißt, den freudigen Anblick des Anderen zu genießen, seine Freuden mitzuempfinden, es ist das, wovon wir leben (vgl. Lévinas 2014 [1987], S. 152). Aber nicht nur die Kinder suchen die Nähe zu den Hühnern. Sobald die Kinder sich längere Zeit nicht um die Hühner kümmern, suchen diese die Nähe der Kinder, setzen sich mit in den Sandkasten, schauen, was die Kinder machen. Es entsteht eine Vertrautheit, die dazu auffordert, die Nähe des Anderen zu suchen oder für den Anderen zu sorgen, ohne dass Erwachsene etwas vorgeben müssen.

„Allein gestern zum Beispiel hat, also die Trudi sich einen Wildplatz gesucht, um ihr Ei abzulegen, also quasi, das ist ja auch ein super Vertrauensbeweis für uns, dass sie sich quasi in die Ecke von den Wagen gehockt hat, da ihr Ei hingelegt hat und die Kinder, ich musste gar nichts sagen, die Kinder haben gesagt: ‚Trudi legt ein Ei, kommt alle mal gucken‘ und haben Abstand gehalten, also so ’nen Halbkreis geformt und haben sie beobachtet und dann Körner genommen, haben ihr noch Körner hingeworfen, damit sie in Ruhe ihr Ei brüten kann [lacht], ja das, das sind halt so Momente, (…) das ist schön zu sehen“ (Interview Mira). Die Sensibilität gegenüber dem Anderen, die sinnliche, ästhetische und soziale Aspekte umfasst, ist eine Voraussetzung für die Veränderung herrschaftsförmiger Naturverhältnisse. Zu lernen, Hühner mit anderen Augen zu sehen, beinhaltet auch die Chance, gewohnte Lebensformen zu verändern. Die geteilte Erfahrung von Beziehungen der Fürsorge, der Freude, Schönheit und Vertrautheit mit Hühnern, fördert bereits bei jungen Kindern ein Gespür für das Richtige und Falsche, einen „Gerechtigkeitssinn“, wie die Pädagogin es nennt, der für die Wahrnehmung und Schaffung gemeinschaftlichen Wohlergehens unerlässlich ist.

5 Fazit

Welche wichtigen Erkenntnisse lassen sich aus den vorgestellten Geschichten für Kulturen der Lebendigkeit in Kitas gewinnen? Anliegen der kritisch-phänomenologischen Untersuchung war es, am Beispiel von Geschichten der Kind-Huhn-Begegnung gesellschaftliche Verhältnisse der Ausbeutung, Gewalt und Zerstörung im Umgang mit nichtmenschlichen Anderen offenzulegen. Die durch die Begegnung mit Hühnern angestoßenen Erfahrungs- und Lernmöglichkeiten sind eng verbunden mit ethischen Fragen, was es heißt, zu lernen miteinander zu leben. Über Sorge zu geben und Sorge zu empfangen, erfahren Kinder und Fachkräfte etwas über die menschliche Beteiligung am Leben und Sterben des Anderen. Kinder lernen, mit Unsicherheiten zu leben, mit positiven Überraschungen, aber auch mit Enttäuschungen. Sie erleben den Tod als eine transzendente Erfahrung, die über anthropozentrische Vorstellungen hinausgeht, da der Tod an sich unverfügbar ist. So können sie das Leben und Sterben als Ausdruck einer gemeinsamen existenziellen Verbundenheit erfahren, die erfordert, dass wir unser Verständnis von der Welt und unserer Beziehungen zu ihr transformieren.

Wie der Anthropologe und Umweltphilosoph Thom van Doreen (2018) meint, ist die „Trauer eine ausgefeilte Fähigkeit“ (ebd., S. 414, in Wray 2018), die uns spüren lässt, dass wir „emotional mit dem Leben anderer verbunden sind“ (ebd.). Die Fähigkeit zu trauern, die erlernt und in Ritualen in der Kita verstetigt wird, ist eine notwendige Voraussetzung, um zu verstehen, was der Verlust des Anderen bedeutet, wie Kinder mit dem Abschiednehmen umgehen, und wie sie die Welt und die Beziehungen zu ihr erfahren und verstehen können. Trauer kann insofern einen Prozess des Lernens und der Transformation darstellen, um ein Verständnis dafür zu bekommen, was es heißt, zu leben und das Leben mit anderen zu teilen. Um zu lernen, mit Gespenstern zu leben, so Donna Haraway (2018), müssen wir als menschliche Spezies „mit-trauern“, weil unser Leben in das „Gewebe der Zerstörung“ eingeschrieben ist. Trauern ist somit ein Weg, „um das verwickelte Leben und Sterben zu verstehen“ (ebd., S. 58). Erzieher*innen gestalten diese wichtigen Prozesse, indem sie Situationen schaffen, Unterstützung bieten und Möglichkeiten aufzeigen, wie Abschiednehmen und Trauern möglich werden können. Über die Erfahrung der geteilten Trauer kann ein „relationales Konzept der Welt“ vermittelt und bereits für junge Kinder erfahrbar gemacht werden, wie die menschliche Existenz „in wie vielfältiger Weise in Bezug auf Ernährung, Sinn, kulturelle Praktiken von anderen anhängig“ ist (van Doreen 2018, S. 415, in Wray 2018).

So entsteht in der Kita eine Kultur der Lebendigkeit, die sich in verschiedenen Aspekten zeigt – materiell-affektiven Wahrnehmungen und Erfahrungen, neuen Wertehorizonten sowie Ritualen und Praktiken. Neben der Verletzbarkeit ist auch die positive Bejahung des Lebens ein entscheidender Aspekt. Am Leben teilzuhaben, bedeutet nicht nur die Fortexistenz sicherzustellen, sondern auch nach Entfaltung, nach genuss- und freudvollen Verbindungen zu streben (vgl. Braidotti 2018). Indem Kinder sich aktiv mit Tabuthemen, wie Tod und Trauer auseinandersetzen, wie die Erzieherin Mareike betont, können sie Hoffnung schöpfen und sich handlungsmächtig erleben, um nach neuen Verbindungen und Lebenslinien zu suchen. Nur wenn wir lernen, mit den Gespenstern zu leben, uns mit dem Tod als unverfügbare Grenze auseinandersetzen, wie es bei Derrida (2004) heißt, lernen wir auch zu leben (vgl. ebd., S. 10).

Ziel dieses Aufsatzes war es, anhand einer kritischen Phänomenologie des Geschichtenerzählens zu untersuchen, wie Aspekte einer lebendigen Kultur und die damit verbundenen ethischen und ökologischen Aspekte des Lernens in Kitas erforscht werden können, die für das Zusammenleben in Multispezies-Beziehungen wichtig sind. Wie eingangs argumentiert, erfordern die mit der globalen Klimakrise einhergehenden sozialen, kulturellen, ethischen und ökologischen Herausforderungen neue postanthropozentrische Narrationen der Mensch-Natur-Beziehung. In diesem Sinne ähnelt das Geschichtenerzählen, dem leidenschaftlichen Sammeln von Bruchstücken, gleich dem Perlentaucher, wie es bei Hannah Arendt heißt, „der sich auf den Grund des Meeres begibt, (…) um in der Tiefe das Reiche und Fremdartige, Perlen und Korallen, herauszubrechen und als Fragmente an die Oberfläche des Tages zu retten“ (Arendt 1968, o. S.) – jedoch nicht als letzte Möglichkeit der Geschichte in Anbetracht der Tatsache, dass der Faden der Tradition gerissen ist, sondern als Bejahung des Lebens, um die in den dominanten Geschichten des Menschen verschütteten Lebenslinien ans Tageslicht zu bringen. Alltägliche, unscheinbare kleine Geschichten zwischen Kindern und Hühnern – mögen sie für den wissenschaftlichen Blick heute noch so banal erscheinen – sind wie diese wertvollen Perlen und Korallen – Bruchstücke, die gesammelt werden müssen, um unseren Horizont dafür zu erweitern, was es heißt zu leben, das Leben mit anderen zu teilen.