1 Das Interesse an Katastrophenschutz und humanitärer Hilfe

Spätestens im Kontext der Gründung des Internationalen Roten Kreuzes Ende des 19. Jahrhunderts beginnt sich das öffentliche Interesse an humanitärer Hilfe und institutionalisiertem Katastrophenschutz zu formieren (Kahn 2013; Lieser und Dijkzeul 2013). Im 20. Jahrhundert zeigen sich in der Folge der Weltkriege mit der Konstitution des Völkerrechts weitere Ausprägungen jener fragilen Erwartbarkeit (vgl. Luhmann 1973, S. 21 ff.) von Hilfeleistungen, die unter weitreichendem Belastungsdruck stehen. Mit dem Aufkommen neuer Technologien im 21. Jahrhundert differenzieren sich die Schadenslagen aus. Dem epochalen Befund Ulrich Becks, nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl von einer „Weltrisikogesellschaft“ (2008) auszugehen, folgen neue Großschadensereignisse bzw. Katastrophen (Bösch et al. 2020).Footnote 1 Zu nennen sind Terroranschläge in New York am 11. September 2001, Erdbeben und Tsunami im Indischen Ozean 2004 und 2011 in Fukushima. Im gleichen Jahr beginnt der Bürgerkrieg in Syrien, der 2015 zur Flucht von mehreren hunderttausend Menschen führt und die humanitäre Hilfe weltweit vor große Herausforderungen stellt. Ab 2019 nimmt die Pandemie von COVID 19 Ausmaße an, die viele Länder zur Ausrufung des Katastrophenfalls veranlasst. Erst durch den beispiellosen Lernprozess einer raschen Entwicklung von Impfstoffen kann die Seuche eingedämmt werden. Parallel treten auf allen Kontinenten die seit den 1970er-Jahren vorausberechneten Auswirkungen des Klimawandels in Form heftiger und häufiger auftretender Wirbelstürme, andauernder Trockenzeiten und verstärkter Überflutungen ein, 2005 mit „Katrina“ in den USA oder in Deutschland in NRW und Rheinland-Pfalz 2020. Im Februar 2022 beginnt der russische Angriffskrieg auf die Ukraine und die Drohung mit dem Einsatz von Atomwaffen, im Oktober 2023 der Krieg im Nahen Osten. Zu erinnern ist weiterhin an eine der weltweit größten, seit 2003 anhaltende humanitäre Katastrophe in der Region Darfur/Westsudan, an den Krieg im Jemen seit 2015 und an anhaltende Hungersnöte in verschiedenen Regionen des globalen Südens, sowie an die Erdbeben in Haiti 2010 und 2021, in der Türkei, Nordsyrien, Marokko und Afghanistan 2023. Mehrere Millionen Opfer von Naturkatastrophen und menschengemachten Katastrophen sind zu beklagen, darunter diejenigen, die auf der Flucht über die Meere nicht gerettet wurden.

Diese Schlaglichter erhellen keineswegs das gesamte Spektrum. Der teils transnationale Entstehungskontext miteinander verbundener Vielfachkrisen wirkt sich in nationalen und lokalen Anforderungen an Hilfeleistungen aus. Das hat erhebliche Effekte für fast alle Politikbereiche, besonders für den der inneren Sicherheit (Deutscher Bundestag 2019) und damit auch für das Gesetz über den Zivilschutz und die Katastrophenhilfe des Bundes (ZSKG; vgl. Die Bundesregierung 2020). So mehren sich die Forderungen, die Gesellschaft mit der „Pflicht zum Kompetenzerwerb im Bevölkerungsschutz“ (Klawon 2022) besser auf mögliche Großschadensereignisse und sogar auf die Überforderung von Hilfskapazitäten im Katastrophenfall vorzubereiten. Das Bundesamt für Bevölkerungsschutz (BBK) wird eilig reformiert, nachdem es seit der Wiedervereinigung jahrzehntelang wenig Beachtung fand (Bundesministerium des Innern (BMI, BBK 2021). Diese Maßnahme gilt nach der Überschwemmung weiter Landstriche als überfällig, sind doch sowohl vernachlässigte Warntechniken als auch das systemische Versagen der für Rettung zuständigen Landes- und Kommunalbehörden offenkundig geworden (vgl. Zeit-online 2023). Anstrengungen werden unternommen, Sirenen wieder funktionstüchtig zu machen, die kommunikative Leistungsfähigkeit digitaler Medien für Warnungen einzusetzen und sie zugleich als Teil der Kritischen Infrastruktur vor Cyberangriffen zu wappnen (BBK 2019b; 2020a; Behördenspiegel 2022). Zuletzt legte das Auswärtige Amt (AA) der Bundesregierung das Konzept einer „integrierten Sicherheitsstrategie für Deutschland“ vor: „Wehrhaft, resilient, nachhaltig“ (AA 2023).Footnote 2

Auf internationaler Ebene des Disaster Watching (z. B. Centre for Research on the Epidemiology of Disasters, CRED 2020, 2021; IFRC World Disasters Report 2020; International Rescue Committee, IRC 2022; Emergency Events Data Base, EM-DAT 2023) kristallisieren sich Konzepte evidenzbasierter Vorsorge heraus („anticipatory action“). Ziel ist es, empirisch gestützte Maßnahmen zur Katastrophenvermeidung zu entwickeln (vgl. z. B. EC 2018; Thalheimer et al. 2022; Tufts Feinstein International Center 2023). Der Weltrisikobericht 2021 stellt die Belastungsfähigkeit sozialer Sicherungssysteme in den Fokus und fordert: „Soziale Sicherungssysteme müssen stärker in die Katastrophenprävention sowie in Klimaschutz und -anpassung einbezogen werden“ (2021, S. 52). Seine jüngste Analyse (2023) gilt dem Stichwort „Diversität“ mit der Folgerung: „Vulnerable Bevölkerungsgruppen müssen … aktiv im Katastrophenmanagement und wichtigen Entscheidungsprozessen beteiligt sein“ (Weltrisikobericht 2023). Im Sinne eines noch umfassenderen Verständnisses von Sicherheit ist damit das Verhältnis zwischen sozialer Sicherung, zivilen und nichtzivilen Akteuren sowie individuell-privater Beteiligung angesprochen: die gesamtstaatliche Sicherheitsarchitektur. Was bedeutet das?

2 „Sicherheitsarchitektur“, mediale Krisen- und Bedrohungskommunikation

Zunächst geht es um Bemühungen der Sicherheitsorgane, präventiv die Gefährdungslagen kritischer Infrastruktur zu erkennen, technisch zu verringern (BBK 2019b, 2020a, 21,22,a, b) und Nothilfepläne zu entwerfen, um im akuten Fall elementare Lebensgrundlagen der Bevölkerung für einige Zeit zu sichern (BBK 2017). Medien berichten über schwierige Einsätze technischer Hilfswerke in Krisenregionen (BBK 2019a), geben Einblicke in Übungen mit schwerem Gerät und wiederholen Warnhinweise an die Bevölkerung, sich privat mit Notvorräten, solarbetriebenen Radioempfängern und Warnapps einzudecken, um ihre Selbsthilfechancen für den Ernstfall begrenzt verfügbarer Hilfsressourcen zu vergrößern. Zusätzlich sind es Nichtregierungsorganisationen (NGOs), die zu akut monetärer Solidarität mit Betroffenen aufrufen, um Personal, Geld- und Sachmittel bereitzustellen (vgl. Aktionsbündnis Katastrophenhilfe 2020).

Solchen humanitär und sicherheitspolitisch motivierten Steuerungsbemühungen im Inland liegt die Absicht zugrunde, Ängste der Bevölkerung ernst zu nehmen, ohne sie zu schüren, über Gefährdungslagen und selbstorganisierte Vorsorge so sachangemessen wie möglich zu informieren, auch um panikartige Übertreibungen zu vermeiden (vgl. Genner 2021). Die dafür notwendige Krisen- und Bedrohungskommunikation soll die „Sicherheitsarchitektur“ (vgl. Karutz et al. 2017, S. 97) vor dem Zusammenbruch der Regierungsfähigkeit im Katastrophenfall bewahren, die Erwartbarkeit von Hilfe enttäuschungsfest machen. Dies steht nicht selten in zeitnaher Verbindung mit akut erlebten bzw. medial vermittelten Ereignissen aus Regionen unterschiedlicher Reichweite, findet sich auch davon entkoppelt.Footnote 3

Zu beobachten ist aber auch: In der Öffentlichkeit schwächen sich die Impulse jeweils nach einer gewissen Zeit ab, erneuern sich wieder bei entsprechenden Nachrichten (vgl. Frie, Meier 2023b). Die relativ kurze Aufmerksamkeitsspanne der Berichterstattung entspricht also nicht immer den Anforderungen an nachhaltiges humanitäres Engagement, das für mittelfristige, oft Jahre und Jahrzehnte dauernde Unterstützungs- und Wiederaufbauleistung für erforderlich gehalten wird (vgl. Lieser 2007; Verband Entwicklungspolitik und Humanitäre Hilfe, VENRO 1999, 2022a; 2022b). Hilfsorganisationen sehen sich denn auch veranlasst, an „forgotten disasters“ zu erinnern, die die betroffene Bevölkerung auch dann noch belasten, wenn die mediale Aufmerksamkeit längst abgezogen wurde (vgl. z. B. Diakonie Katastrophenhilfe 2023).

3 Stressoren und Steuerung

Flankiert werden die Szenarien lokaler und weltweiter Krisen- und Bedrohungskommunikation durch transnationale Abkommen. Sie erklären lokal auftretende Großschadensereignisse („natural and man-made disasters“) zum Teil durch sozialökologische Effekte globaler und planetarischer Stressoren, gegen die bis in die nächsten Jahrzehnte hinein nur komplex angelegte Strategien der Nachhaltigkeit wirken sollen: die Abkommen von Kyoto (United Nations, UN 1997; 2005), Sendai (UN International Strategy for Disaster Reduction, UNISDR 2015) und Paris (UN 2016). Daneben verlaufen Prozesse, die von der ökologischen Frage relativ entkoppelt scheinen, weil sie z. B. den Motivlagen in gewaltsamen Konflikten entstammen, die sich nicht nur auf verknappende Naturressourcen (wie z. B. Wasser, Nahrung) durch Brände und Überflutungen zurückführen lassen (UN 2022).

Auch die seit einigen Jahren massiv gesteigerten Investitionen in militärische Aufrüstung haben ambivalente Auswirkungen auf die Eindämmung von Katastrophen, auf den Begleitschutz bei humanitären Hilfseinsätzen, aber auch bei der Androhung großer Schadenszufügung im völkerrechtlich legitimierten Verteidigungsfall (vgl. Münkler und Malowitz 2008; Schmidt 2008). Im Einzelnen führt dies zu schwierigsten Konfliktkonstellationen der Handlungsfähigkeit humanitärer Hilfe, beispielsweise bei der Blockade von Hilfsgütertransporten durch sogenannte humanitäre Korridore (Humanitarian Corridors 2018; EC 2018; EC 2019). Die Missachtung völkerrechtlicher Regelungen erzeugt hochriskante politische Kräftefelder, in deren Dynamik humanitäre Hilfe zum Gegenstand strategischer und offen zynischer Machtkalküle werden kann (vgl. Lieser 2007; Kappler 2012).

Vor dem Hintergrund solcher sehr unterschiedlicher Lagen stellen sich Fragen an die Rolle der Bildung in helfenden Berufen, insbesondere der Sozialen Arbeit.

4 Bildung, Soziale Arbeit und Katastrophenpädagogik

Krisen- und Bedrohungskommunikation ist bisweilen mit Hinweisen bzw. Forderungen ausgestattet, „Bildung“ zu verstärken (vgl. z. B. BMI 2014, Drews 2016, BBK 2020b, Montag und Idems 2021). Gemeint ist sowohl der normative Kontext der Ethik des Humanitären (vgl. Brumlik 2007) als auch die gesamte Spannbreite eines wissens- und kompetenzorientierten Bildungsbegriffs in formeller, informeller und formaler Hinsicht: sei es als Aus‑, Fort- und Weiterbildung von Spezialkräften aus dem Sicherheits‑, Medizin- oder dem Technik-Bereich, etwa als „Bevölkerungsschutzpädagogik“ (BBK 2018), als „Bildungsatlas Bevölkerungsschutz“, der „strukturelle und didaktische Merkmale der Bildung“ auf Führungskräfte im Bevölkerungsschutz konzentriert (BBK 19,20,b, c); oder sei es als Teil der Jugendarbeit oder Familienbildung, als allgemeines Ratgeber-Angebot an die Bevölkerung, sich wenigstens über die wichtigsten Grundlagen kundig zu machen. Erprobt wird sogar ein „Tag des Bevölkerungsschutzes“ (BMI 2023). Seit der politisch proklamierten Zeitenwende, die nach Jahrzehnten unterschätzter Risikopotenziale eine Ausweitung von Angriffskriegen auf Europa für realistisch hält, wird appelliert, diese Metapher nicht nur auf den Militärbereich, sondern auch auf den Katastrophenschutz anzuwenden:

„Die Welt befindet sich in Unordnung, und Deutschland muss sich darauf einstellen. Das gilt für die Politik, aber auch für die Bevölkerung: Sie muss sich der Gefahren bewusst werden und wissen, wie man im Notfall reagiert“ (Masala 2023).

Diese Forderung nach Notfallkompetenz, die wie das Pendant zur Forderung nach „Kriegstüchtigkeit“ (vgl. zu Pistorius: Dausend 2023) erscheinen könnte, ist etwas anders konnotiert, als dies von Freien Trägern der humanitären Hilfe formuliert wird. So fordert z. B. ein Landesverband des Deutschen Roten Kreuzes, die Bevölkerung müsse als Folge des Klimawandels ein Bewusstsein für Bedrohungslagen und das Wissen um richtiges Verhalten im Katastrophenfall entwickeln:

„Der Katastrophenschutz muss an die Schulen“ (Schmitz-Eggen 2022).

Ganz im Sinne von antizipatorischem Handeln gehe es darum, die Menschen auf Notfallsituationen so vorzubereiten, dass sie ihren Angehörigen und Nachbarn helfen könnten, bis organisierte Hilfe eintreffe. „Zur Vorbereitung würden schon Kurse in Zusammenarbeit mit dem Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK) für Lehrkräfte, Erzieherinnen und Erzieher angeboten“ (ebd.). Detaillierte Vorschläge für die Verankerung im Schulcurriculum, für Unterrichtsmaterialien und Aktionstageprogramm liegen bereits vor (vgl.: Ministerium für Kultus, Jugend und Sport 2022; Zentrum für Schulqualität und Lehrerbildung 2023).

4.1 Ein erziehungswissenschaftliches Desiderat?

Dies alles hat nun nicht dazu geführt, dass über Einzelbeispiele hinaus innerhalb der Teildisziplinen der Erziehungswissenschaft und der Sozialen Arbeit umfängliche kritische theoretische und forschungsorientierte Zugänge entwickelt wurden, die der Relevanz von Bevölkerungsschutz, Katastrophenhilfe und humanitärer Hilfe in der Breite entsprechen würden. In der bundesdeutschen Sozialen Arbeit liegen nur wenige Einzelarbeiten vor, die das Spektrum an grundlegenden Fragen zum Zusammenhang von Hilfe, Macht und Politik vorstellen (vgl. Treptow 2007, 2018); eine Handvoll neuerer Arbeiten thematisiert den Bedarf an empirischer Forschung im Kontext ökosozialer Hilfeformen (vgl. Schmitt 2020; Schmelz und Schmitt 2023). Der Diskurs scheint zurzeit, angespornt durch Pandemie und katastrophische Wetterlagen, ein wenig Fahrt aufzunehmen; doch für die Erziehungswissenschaft allgemein gehört der Komplex kaum zu den originären, traditionell überlieferten Theorie- und Forschungsfeldern. Die Spurensuche nach kritischen Beiträgen trifft auf verstreute Fundstellen, die zeigen, wie ganz unterschiedliche Bildungs- und Hilfekontexte adressiert werden: Öffentlichkeit, Erziehung, Schulen, Fachkräfte in humanitären Auslandseinsätzen. So wird beispielsweise im Bereich einer katastrophenpädagogisch angelegten Umweltbildung das Vorläuferkonzept des Alarmschlagens problematisiert:

„In den siebziger Jahren wurde eine Katastrophenpädagogik betrieben, deren Methode darin bestanden habe, möglichst drastisch auf Probleme aufmerksam zu machen, um auf diese Weise die Menschen zur Einsicht und zur Umkehr zu bewegen“ (Meske 2011, S. 85, Bolscho und Seybold zitierend); dies habe eher Angst und Abwehrreaktionen hervorgerufen.

Dennoch stellt Karutz 2004 fest:

„Es gibt in der Bevölkerung eine notfallbezogene Unmündigkeit, die durch einen Mangel an entsprechender Erziehung und Ausbildung verursacht wird“ (2004, S. 15). Und weiter: „Die Pädagogik im öffentlichen Schul- und Erziehungswesen der Bundesrepublik Deutschland hat bislang einen notfallbezogenen weitgehend ‚blinden Fleck‘“ (ebd., S. 16).

Abgesehen von den unterschiedlichen Stellungnahmen von Staat und Verbänden schlägt Karutz vor, den Begriff Notfallpädagogik als Teil eines eigenständigen Wissenskomplexes zu verwenden:

„Notfallpädagogik ist die Wissenschaft von Erziehung und (Aus‑)Bildung, die auf Notfälle bezogen ist. Synonym kann auch von notfallbezogener Erziehungswissenschaft gesprochen werden“ (ebd., S. 18). Nach einem diesbezüglich ausgearbeiteten Konzept (2011) erweitert der Autor den Ansatz zum Begriff der „Bevölkerungsschutzpädagogik“ (Karutz und Mitschke 2014).

Ein Beispiel einer längst etablierten Katastrophenpädagogik dokumentieren Burghardt und Zirfas (2011). Sie verwenden den Begriff nach einem Forschungsaufenthalt in Japan. Dort gehöre die Vorbereitung auf jederzeit mögliche Erdbeben, Tsunamis oder Nuklearkatastrophen zur Alltagspraxis. Die Autoren fragen,

„welche Möglichkeiten und Grenzen der Schulunterricht in der Bewältigung von Naturkatastrophen hat. Angesichts der durch die Natur verursachten ca. 400 Katastrophen im Jahr sind weltweit etwa 200 Millionen Menschen betroffen; insgesamt geht man dabei von fast 20 Millionen Umweltflüchtlingen aus. Für die betroffenen Kinder und Jugendlichen stellen sich die Fragen, ob und inwieweit Bildungssysteme auch für diese, in vielen Regionen der Erde nicht gerade seltenen Katastrophenfälle gewappnet sind und ob und inwieweit sie konkret auf derartige Vorfälle reagieren“ (Burghardt und Zirfas 2011, S. 191).

Und ebenfalls auf das formale Bildungssystem bezogen, fragt Adick:

„Was passiert, wenn Schulbildung bei nationalen Katastrophen oder in Zeiten extremer Notfälle durch Krieg oder massive Konflikte zusammenbricht?“ (2019, S. 138).

Sie schlägt das Konzept transnationaler „humanitärer Bildungshilfen“ vor, betont den Stellenwert von Bildung als viertem Pfeiler im internationalen System der humanitären Hilfe und weist auf wegweisende Modelle von „Education in emergencies“ hin (ebd.)Footnote 4.

Wiederum gilt: Solche Beispiele können das teils erziehungswissenschaftlich allgemeine, teils das sozialpädagogisch spezifizierte Desiderat an Theorie und Empirie zu „disaster risk science“ (Shi 2019) nicht tilgen. Obgleich beide historisch gesehen nicht selten mit Entstehung, Aus- und Nachwirkungen von Katastrophen zu tun haben und obwohl sich Ethik und Moral vielfach in Übereinstimmung mit den normativen Grundsätzen und Prinzipien humanitärer Hilfe befinden (Menschenrechte; Respekt, Unabhängigkeit; vgl. Sphere Association 2018), bleibt es bislang nur bei Ansätzen. Da es sich um Querschnittsthemen handelt, wäre auch eine Verortung in einer einzigen erziehungswissenschaftlichen Teildisziplin ebenso wenig hinreichend wie eine Reduktion auf einzelne Handlungsfelder Sozialer Arbeit.

4.2 Was bedeutet dies für die Soziale Arbeit?

Bildung als „Transformation von Welt- und Selbstverhältnissen“ (Koller 2018, S. 10 ff) heißt auch, über reflexive Wissensaneignung Wahrnehmungs- und Handlungschancen zeitgemäß zu erweitern. Dazu ist es sinnvoll, den „Standort“ Sozialer Arbeit im Gefüge innen-, außen- und sozialpolitischer Steuerungsstrategien zu bestimmen, und zwar im akuten und raumzeitlich erweiterten Umfeld des Katastrophenfalls. Dies folgt dem Zweck, Klarheit darüber zu schaffen, welche Bildungsinhalte für ihre Adressat:innen und welche für ihre eigene Professionalisierung wichtig sind.

Nun ist das Spektrum der Einschätzungen über den Beitrag und die Zuständigkeiten der Sozialen Arbeit in Katastrophenfällen breit gespannt. Es finden sich Positionen, die ihr eine bislang unterschätzte Rolle zuschreiben und ihren institutionellen Rückhalt als „bridging agent“ im Spannungsfeld von „Climate Crisis, Global Migration, and Disaster Research“ (de Silva et al. 2022/2023) stärken wollen (vgl. weiter: Bähr 2011, 2014; Schmitt 2020, 2021, Chen und Dominelli 2022; Hay und Pascoe 2022; Necel 2023). Anderen Darstellungen ist eher Zurückhaltung zu entnehmen, weisen sie ihr doch, entsprechend der Strategie und Interventionsleitfäden des Bevölkerungsschutzes, eine eher nachgeordnete Rolle zu, verortet irgendwo im Bereich der psychosozialen Versorgung. Demgegenüber stehen in vorderster Linie die Fachkräfte aus Medizin, Notfallversorgung, Hygiene, Fahrzeugführer für schweres und leichtes technisches Gerät, Feuerwehr und Militär sowie die Ordnungskräfte der Polizei (vgl. BBK 2012).

4.3 Direkte und indirekte Intervention

Dabei ist Soziale Arbeit längst in Katastrophen involviert: In direktem Einsatz in Krisengebieten befasst sie sich im Nachgang zur Akuthilfe („emergency response“) mit bedrohten, geflüchteten Menschen, mit Verwundeten, Traumatisierten; und sie befasst sich außerhalb von Krisengebieten indirekt mit Katastrophen, insofern sie psychosoziale Folgen bearbeitet, die von ihnen ausgelöst werden („disaster management social worker“; vgl. zur Unterscheidung: Social Work Degrees 2023Footnote 5). In ihrer Bezugnahme auf Bedrohung und Gewalt, sei sie natur- oder menschengeneriert, unterstützt sie Familien, Alleinerziehende, unbegleitete Minderjährige oder junge Erwachsene. Hinzu kommt die Zusammenarbeit mit Ehrenamtlichen und ihr kommunales Engagement bei der Evakuierung und Unterbringung, das auch mit Katastrophenschutz und humanitärer Hilfe zu tun hat. Das sind allesamt Kompetenzen, in denen Soziale Arbeit fachlich gleichsam bei sich selbst bleibt. Im Unterschied zu Katastrophenmedizin, zu technischer Hilfe und anderen Leistungen verfügt sie damit über ein Kompetenzprofil, das anderen Professionen Klarheit gibt, was von ihr zu erwarten ist und welche Grenzen sie einzuhalten bzw. zu bearbeiten hat (vgl. zur Grenzbearbeitung zwischen Organisationen: Kessl 2021).

Für die Positionierung Sozialer Arbeit in Katastrophen wäre also die Unterscheidung zwischen direkter (primärer) Intervention und indirekter (sekundärer/tertiärer) Intervention hilfreich. „Direkt“ meint: im Katastrophengebiet selbst, in direkter zeitlicher und räumlicher Nähe zu den Betroffenen; und „indirekt“ meint: außerhalb des Katastrophengebiets, in zeitlich nachfolgender und räumlich entfernter Position. Jedoch können die Grenzen zur direkten Intervention fließend sein. Zu denken ist dabei besonders an Einsätze, die vor, während oder nach einem Großschadensereignis in betroffenen Wohnquartieren stattfinden, begleitend zur Akutversorgung, die etwa Rettungskräfte und Notfallmediziner, auch Notfallseelsorger leisten.

4.4 Forschung: Fallstudien, Narrationen, Berichte

In der internationalen Forschung sind Ergebnisse bemerkenswert, die eine Expertentypologie vorlegen: „We distinguish between the trouble shooter, the emergency expert, the situative expert, the accidental expert and the trusted advisor“ (Brinks und Ibert 2023) – ein Befund, der die Unterschiede von Verantwortlichkeiten aufzeigt. Eine Fülle von Fallstudien, auch aus unterschiedlichen historischen Epochen, macht die jeweils besondere Signatur einzelner Großschadensereignisse sichtbar, die mit dem Begriff „bedrohte Ordnungen“ charakterisiert werden (vgl. Frie und Meier 2023a; siehe auch die Vielzahl an Fallstudien des International Journal of Disaster Risk Reduction 2023). Dabei sind die Befunde in ihrer Relevanz für Soziale Arbeit nur begrenzt aussagekräftig, weil die Sachlogik der Vorbereitung, Durchführung und Nachbereitung von Hilfseinsätzen eine Vielfalt von Aufgaben beinhaltet, die weit über das erziehungswissenschaftliche bzw. sozialarbeiterische Professionsprofil hinausreichen (Gißler und Friedrich 2021; Mähler und Noth 2022).

Wenig ausgeprägt erscheint die Forschungslage darüber, wie viele Sozialarbeiter:innen im professionellen Auftrag – und nicht etwa in ehrenamtlichem Engagement, zusammen mit anderen Bürgerinnen und Bürgern – in unmittelbarer, direkter Nähe zum Katastrophengeschehen tätig sind. Einzelne Schilderungen einer „sozialraumorientierten Katastrophenhilfe“ (Pantucek 2009) zeigen, dass Soziale Arbeit auch eigenständig aktiv werden kann und nicht nur auf Direktiven aus einem kommunalen Krisenstab warten muss: „Soziale Arbeit kann Katastrophenhilfe“ lautet etwa ein Bericht von Nodes zum Engagement bei der Überflutung des Ahrtals (Nodes 2021). Er bilanziert: „Es ist bitter, dass der Klimawandel als Ursache für die Flutkatastrophe auch die Soziale Arbeit verändern wird: Nicht nur die politischen Strukturen, sondern auch die Soziale Arbeit selbst müssen sich darauf einstellen, dass Katastrophe zum Thema wird. Und wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass deren Folgen vor allem diejenigen betreffen wird, die ohnehin schon Zielgruppe der Sozialen Arbeit sind“ (ebd., S. 47; vgl. auch: Mellmann und Ramm 2023).

Die Durchsicht der in den letzten 15 Jahren angewachsenen Literatur zum Thema lässt allerdings erkennen, dass Soziale Arbeit und die sie konstituierenden Praxisfelder keine sehr bedeutenden Akteurskategorien bilden. Zwar sind die wichtigsten Wohlfahrtsverbände, in denen Soziale Arbeit als differenziertes Berufsbild vertreten ist (z. B. Caritas, Diakonie, Paritätischer Wohlfahrtsverband) an vorderster Stelle der humanitären Hilfe engagiert; auch sind spezialisierte Abteilungen des Internationalen Roten Kreuzes und Roten Halbmonds (IFRC), der UN und der EU Organisationen beteiligt, die zugleich den „Markt für humanitäre Dienstleistungen“ (Kahn 2013, S. 122) bedienen. Der Beitrag einzelner Handlungsfelder der Sozialen Arbeit wird jedoch wenig sichtbar.

So ist es eine offene Frage, ob die beruflichen Aufträge an Soziale Arbeit in Krisengebieten, verglichen mit ihren klassischen Handlungsfeldern im gesellschaftlichen Alltag, eher von geringer oder von hoher Zahl sind. Um einen quantitativen Einblick zu bekommen, inwieweit Nichtregierungsorganisationen ihre sozialarbeiterische Kompetenz „vor Ort“ einbringen, müssten genauere empirische Forschungen angestellt werden. Es erscheint unklar, ob es innerhalb der (internationalen) Berufsfeldforschung ein Segment gibt, das sich ausdrücklich den Fragen widmet, wann und wo Sozialarbeiter:innen in direktem Einsatz waren oder sind, worin ihre Tätigkeiten bestanden bzw. bestehen, mit welchen Akteur:innen sie kooperierten bzw. kooperieren etc. (vgl. dazu: Lange und Gusy 2015)Footnote 6. Da dies alles in fragil gewordener Infrastruktur geschieht, braucht es Einschätzungen zum Risiko der Störanfälligkeit Sozialer Dienste.

5 Wie störanfällig sind Soziale Dienste?

Soziale Arbeit kann als Teil im Spektrum derjenigen helfenden Berufe verstanden werden, die im Katastrophenfall zum Einsatz kommen. Es ist noch keineswegs geklärt, wie sie in akuter Extrembelastung Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit aufrechterhalten (vgl. Hofinger 2022, Garkisch 2023). Unter der Ausnahmebedingung von Organisationen unter destruktivem Stress (Stehrenberger 2014, 2016, 2020), weitreichender Zerstörung von Menschenleben und regionaler Infrastruktur kann nicht ausgeschlossen werden, dass solche Ereignisse auch die psychosozialen Dienste erfassen. In diesen Fällen wäre die Grundbedingung Sozialer Arbeit, ihrem Auftrag über eine intakte, d. h. handlungs- und kooperationsfähige Struktur nachkommen zu können, erheblich beeinträchtigt. Über den Nothilfebedarf der Adressat:innen hinaus hätte Soziale Arbeit daher noch zusätzlich diese Möglichkeit einzubeziehen: als Profession auf eingeschränkte Handlungsmächtigkeit der Adressat:innen und der Fachkräfte nicht ausreichend vorbereitet zu sein, aber in Situationen massiv gesteigerter Unsicherheit dennoch sichere Orte schaffen zu sollen, dabei Betroffene einzubeziehen und ihre Mitwirkung zu stabilisieren (vgl. Beckham et al. 2023).

Forschungen zeigen auf, dass die veränderte „Rahmung“ eines Katastrophenfalls den Fokus der Einsätze Sozialer Arbeit zum Teil verlagert. Durch die Zunahme an gleichzeitig aufgeworfenen Rettungs- und Hilfebedarfen, auch durch die partielle Einschränkung von Grundrechten (z. B. bei Pandemien) ändern sich Interventionsmöglichkeiten (Eller 2008; Kloepfer 2015); es steigt der Zeitdruck, personelle und sachliche Ressourcen zu mobilisieren. Zugleich geht es darum, der Eigendynamik von Zerstörungen, ihren Phasen und Wechselwirkungen auf den Sozialraum auf möglichst besonnene Weise Rechnung zu tragen, um in Situationen enormer emotionaler Belastungen mit professionell distanzierter Empathie arbeiten zu können (vgl. Kern et al. 2020; Hofinger und Heimann 2022; BBK 2021d).

Zu den erforderlichen Leistungen zählen zunächst Bedarfsermittlung bei Betroffenen und Communities, um die Koordinierung und Bereitstellung von Hilfsgütern zu ermöglichen (vgl. Schmelz und Schmitt 2023). Es zeigt sich die verstärkte Notwendigkeit, Kinder- und Frauenrechte zu sichern und Familien zusammenzuführen, Evakuierungen zu unterstützen. Es gilt „Education in emergencies“ zu organisieren, indem z. B. für provisorischen Kita- und Schulersatz als Übergangshilfen gesorgt wird (vgl. InterAgency Standing Commitee (IASC) 2008, 2015; The Alliance for Child Protection in Humanitarian Action (CHPA) (2019); BBK 2021c). Für Jugendliche und junge Erwachsene sind provisorische Treffpunkte, Informations- und Beratungsstellen vonnöten, um die drängendsten Fragen in der Phase unterbrochener Ausbildung angehen zu können. Ähnliches gilt für Erwachsene, die ihren Berufen nicht mehr nachgehen können.

5.1 Eingeschränkte Infrastruktur, verengte Handlungsmächtigkeit, knappe Zeit

Soziale Arbeit wird auf solche Herausforderungen produktive Antworten entwickeln können, wenn sie sich nicht nur als abgegrenzte Profession, sondern als Teil eines umfassenden „disaster management“ begreift, also sich mit anderen Professionen und Berufen über ihr Vorgehen abstimmt, darin aber nicht unnötig wertvolle Zeit verliert (Heuser und Abdelalem 2018, 2021).

Generell ist zu fragen, ob und was sich für die einzelnen Handlungsfelder Sozialer Arbeit eigentlich im Katastrophenfall ändern würde. Bleiben ihre rechtlich gerahmten Zuständigkeiten und ihre jeweils auf Adressat:innen bezogenen Kompetenzen die gleichen wie davor, auch wenn Grundrechte in der „vulnerablen Gesellschaft“ (Rostalski 2024) eingeschränkt werden? Ist dann klar, wie sich die Fachkräfte untereinander verständigen? Wie die Abstimmung mit der Katastrophenmedizin, dem Gesundheitssektor geschieht? In welchem Verhältnis ihr Einsatz zu den Auflagen der Sicherheitsbehörden steht, wie der Informationsfluss verläuft und die dringendsten Ressourcen beschafft und verteilt werden? Wie damit umgegangen wird, dass Feuerwehr, Polizei und Notfallmedizin innerhalb ihrer 24-Stunden-Bereitschaft Einsätze fahren, die Dienstzeiten Sozialer Arbeit dazu keineswegs synchron liegen?

5.2 Steuerungslogiken: Selbst- und Fremdpositionierung Sozialer Arbeit

Diese Fragen stellen die Handlungsfelder Sozialer Arbeit in den Kontext von Steuerungslogiken, die nicht vollständig von ihnen selbst, sondern von den gesetzlich zuständigen Organen der inneren Sicherheit und, bei Einsätzen im Ausland, von dort geltenden Regelungen angewendet bzw. erst entwickelt werden (Kern et al. 2020). Deren Krisenstäbe auf lokaler und transnationaler Ebene bündeln Daten und verschaffen sich Lageberichte, die das ordnungspolitische Handeln leiten sollen, die aber auch das der Sozialen Arbeit beeinflussen. Sie kann dabei durch selektive „Priorisierung“ von Adressat:innen (BBK 21,22,a, b) Zugänge verlieren, aber auch „blinde Flecken“ der Notfallversorgung offenlegen und Interventionen gezielt auf Adressat:innen umlenken. Eine der Aufgaben Sozialer Arbeit bestünde darin, so insistieren Schmelz/Schmitt, Aufmerksamkeit zu organisieren, um zu vermeiden, „dass bestimmte Personengruppen in der Bereitstellung von Hilfe in Vergessenheit geraten und damit unterversorgt bleiben“ (2023, S. 165). Hilfsorganisationen wie das Deutsche Rote Kreuz (DRK 2023) haben dies für einen besonders vulnerablen Teil der Bevölkerung antizipiert: für Personen mit Pflegebedarf (Ewers und Köher 2023).

Jedoch betrifft das Übersehen, Vergessen, ja auch das Ignorieren viele mögliche Verletzlichkeiten im Spektrum sozialer Ungleichheit. Bildungstheoretisch gesprochen ist es erforderlich, den Befund sozialräumlicher Disparitäten mit einem intersektionalen Zugang zu verbinden (Schmelz und Schmitt, a. a. O., ebd.). Beobachtet wird auch, dass der Anspruch Betroffener, nicht nur Gegenstand von Steuerung zu sein, sich in Forderungen nach Mitbestimmung über Aktionspläne äußert:

„Viele Fragen der inneren Sicherheit einschließlich des Bevölkerungsschutzes werden längst nicht mehr nur hinter verschlossenen Türen in den zuständigen Behörden und Organisationen diskutiert. Stattdessen formieren sich vor allem in den sozialen Medien Spontanhelfergruppen, Bürgervereine und Privatinitiativen, um in Krisen und Katastrophen mit den unterschiedlichsten Ansätzen, Handlungslogiken und Selbstverständnissen für eine wie auch immer geartete Hilfe zu sorgen“ (Karutz et al. 2017, S. 2; vgl. auch: Geier 2017).Footnote 7

Die Steuerungslogiken im Katastrophenfall beeinflussen Soziale Arbeit noch aus einem weiteren Grund. Sie sortieren Zuständigkeiten und Handlungsbedarf nach Zeitabläufen, die nicht ihren eigenen Prioritäten entsprechen müssen. So zeigt die Durchsicht einschlägiger Publikationen des BBK, dass Sozialer Arbeit für die Katastrophenfälle ein strategischer Platz zugewiesen wird, der sich mit ihrem Selbstverständnis keineswegs völlig decken muss. In den „Qualitätsstandards und Leitlinien zur Psychosozialen Notfallversorgung (PSNV)“ des BBK (2012) wird auf einem Zeitstrahl zwischen den ersten Stunden, Tagen, Wochen und Monaten folgende Unterscheidung getroffen: Der Ersthilfe folgen psychosoziale Akuthilfen. Mit wachsendem zeitlichem Abstand zum Schadensereignis werden unterschiedliche Verläufe sichtbar. Sie differenzieren den Bedarf an Hilfeleistungen auf einer Farbskala (grün, gelb, rot) danach, ob Unterstützung in sozialen Netzwerken aufgrund tragbarer Risiken noch erforderlich ist (grün), ob soziale, familiäre, berufliche und andere Problemlagen entsprechenden Hilfe- und Beratungsbedarf aufwerfen (gelb) oder ob Bedarf an „Diagnostik und Intervention in ambulanten und stationären Versorgungsbereichen, insbesondere ärztliche (Haus- und Fachärzte) und psychologische/psycho(trauma)therapeutische (Früh‑)Intervention“ besteht (BBK 2012, S. 21)Footnote 8.

6 Katastrophenhilfe und humanitäre Hilfe: ein bildungsrelevanter Wissenskomplex

Der Gegenstand der Katastrophenhilfe hat sich zu einem internationalen Wissenskomplex entwickelt, der Hilfe als akutes Handeln unter verstärkter Gefahr begreifbar macht, weil sowohl Betroffene ihr bereits ausgesetzt sind als auch Helfende in erhebliche Risiken geraten können. So stellt sich die Frage: Braucht es eine erziehungswissenschaftlich-interdisziplinär fundierte, spezielle Pädagogik für Notfälle und Katastrophen?

Die Frage impliziert zweierlei: die Vermutung, dass ein besonderer Handlungsbedarf für gefährdete Gesellschaftszustände besteht („bedrohte Ordnungen“; vgl. Frie und Meier 2023a), und zwar über den Ausnahmezustand hinaus; und dass dies die Absicht begründet, zuverlässig einen Wissens- und Kompetenzbedarf zu decken, der teils von der Bevölkerung, vielfach von Ehrenamtlichen und schließlich von spezialisierten Akteur:innen (humanitärer) Katastrophenhilfe gesehen wird. Obwohl Fachkräfte außerhalb Sozialer Arbeit seit Langem bereits über eigenständige Aus‑, Fort- und Weiterbildungseinrichtungen (vgl. z. B. Katastrophenmedizin) verfügen, bieten Hochschulen in Deutschland nur vereinzelt Forschungs- und Studienkapazitäten an, die Bildung und Soziales im Kontext der Zuständigkeiten stellen, die für den Katastrophenfall vorgesehen werden (vgl. z. B. AKKON 2023; Ruhr Universität Bochum 2023; Universität Bonn 2023)Footnote 9. Eher selten ist, dass sich Absolventinnen und Absolventen von Studiengängen Sozialer Arbeit auf das Feld des Katastrophenschutzes und der humanitären Hilfe spezialisieren und mit entsprechenden Abschlüssen berufliche Positionen besetzen können; eher selten sind auch Stellenausschreibungen, die sich explizit an sie richten. Soziale Arbeit kommt, wenn überhaupt, hier nur am Rande vor, und im Handbuch humanitäre Hilfe (Lieser und Dijkzeul 2013) sind Handlungsfelder Sozialer Arbeit eher rar benannt.

6.1 Räumliche, zeitliche und soziale Dimensionierung

Die Feststellung eines solchen Wissens- und Kompetenzbedarfs kann auf Beobachtungen in räumlicher, zeitlicher und sozialer Hinsicht zurückgeführt werden.

Räumlich steht dieser Bedarf in Bezug auf die von Katastrophen herbeigeführten Zerstörungen in relativer Nähe zu Betroffenen. Er umfasst das technische und das psychosoziale Wissen über Vermeidung, Vorbereitung und Wiederherstellung lokal nahegelegener Flächen und erstreckt sich bis hin zu national und transnational betroffenen Gebieten.

Zeitlich steht der Bedarf in Bezug auf die Dringlichkeit, rechtzeitig Schutz und Versorgung bei eintreffenden Schadensereignissen zu finden, Nothilfe zeitnah zu bekommen und zu leisten sowie Hilfehandeln unterschiedlicher Zuständigkeiten mit geringem Zeitverlust zu koordinieren.

Sozial geht es um die Kenntnis und Bereitstellung solcher Maßnahmen, die aufgrund sozialer Ungleichheit Betroffener besondere Gefährdungslagen zu berücksichtigen hat. Im Kontext einer „Sozialpädagogik der Lebensalter“ (Böhnisch 2023) zählt dazu die Vulnerabilität von Kindern und Heranwachsenden, Erwachsenen, von alten Menschen, von Kranken und Pflegedürftigen.

6.2 Zwei Bezugsrahmen: Bildung für Akuthilfe und für nachhaltige Entwicklung

Darüber hinaus lässt sich Katastrophenpädagogik, verstanden als Bildungspraxis und Gegenstand erziehungswissenschaftlicher Reflexion, zwei Bezugsrahmen zuordnen. Zum einen umfasst sie die Aus‑, Fort- und Weiterbildung für die Praxis der Nothilfe bei akuten Schadensereignissen, die durch teils von Menschen verursachtes, (un)beabsichtigtes Handeln, teils durch Naturprozesse geschehen. Auch als Notfallpädagogik (Karutz 2004) im Kontext von „disaster risc science“ (Shi 2019) bzw. von „Rettungswissenschaft“ stehend (Gabel 2023) zählen dazu z. B. das Wissen über Bedrohungskommunikation, Lageeinschätzung regionaler Zerstörungen, Bedarfsbestimmung und zeitnahes Handeln bei Bergung, Rettung und Versorgung (Save And Rescue, SAR), Logistik und Koordinierung von schwerem und leichtem technischem Gerät, medizinische und psychosoziale Hilfeleistungen von und mit Betroffenen sowie sonstiger lokaler Akteure bis hin zur Abstimmung mit staatlichen und nichtstaatlichen Organisationen (vgl. Treptow 2007, 2018). International gesprochen geht es also um „education in emergencies“ und „disaster management“ in der gesamten Breite normativen, technischen und interkulturellen Kompetenzerwerbs bei Professionellen und Laien.

Zum anderen steht Katastrophenpädagogik im Kontext eines über das aktive Nothilfehandeln hinausgehenden umfassenden Bildungsverständnisses der Nachhaltigkeit. Dieses nimmt das Erkennen und Antizipieren katastrophaler Folgen weltweiter sozialökologischer Ressourcennutzung in den Blick, um für die Vermeidung von Katastrophen durch Umsteuerung zu befähigen und pädagogisches Handeln als Beitrag für die Bildung für nachhaltige Entwicklung zu begreifen (vgl. UN 2021). Dieser Zugang grenzt den Kompetenzerwerb für den Einsatz in manifesten Katastrophen keineswegs aus; er stellt aber soziale Lebenswelten in ein erweitertes Verständnis physikalischer, geologischer, ökologischer und meteorologischer Bedingungsgefüge (vgl. Jäger 2015, 2016). Damit erweitert sich das Spektrum katastrophenrelevanter Faktoren. So sieht sich humanitäre Hilfe ihrerseits in der Pflicht, sich auf ihren Beitrag für Nachhaltigkeit selbstkritisch zu überprüfen (VENRO 1999, 2021b; Bünsche 2010; Caritas International o.J.); zugleich fügt dieses Bildungsverständnis der Angst als einem der emotionalen Kerne von Katastrophen eine Perspektive des präventiv Gestaltbaren hinzu. Es fokussiert das Vorfeld potenziellen Katastrophengeschehens, sodann dieses selbst und schließlich den Neuaufbau als Chance für den Wiedererwerb von Resilienz (vgl. Krüger und Max 2019).

7 Bildung zwischen Generationen: zur Verständigung über Zeitperspektiven

Großschadensereignisse und Katastrophen haben nicht nur eine mediale Relevanz; sie betreffen indirekt und direkt die Aufgabenprofile unterschiedlicher Bildungswelten und psychosozialer Dienste. Als Querschnittsthemen sollten sie daher verstärkt Gegenstand im Spektrum der Erziehungswissenschaft und der Sozialen Arbeit sein. Ein umfassendes Verständnis von Bildung soll seine ressourcengenerierende Kraft durch einen dreifachen Bezug auf Zeitperspektiven gewinnen, die für ältere und jüngere Generationen unterschiedlich sein können: auf Vergangenheit, indem aus Katastrophen, auf Gegenwart, indem in Katastrophen und auf Zukunft, indem vor Katastrophen gelernt wird. Die drei Zeitbezüge bedürfen je adäquater Forschungsmethoden, deren Ergebnisse auf Zusammenführung angewiesen sind. Es handelt sich um historisch-evaluierende, diagnostisch-intervenierende und prognostisch-antizipierende Forschungszugänge. Und es bedarf anpassungsfähiger Kommunikationsformen, um zeiteffiziente Strukturen eines präventiven Bevölkerungsschutzes zu schaffen, damit Katastrophenvermeidung, -erkennung und -bewältigung gelingen. Derart ambitioniert angelegt, zielt das Konzept auf Verständigung, auf Erfahrungsaustausch und Wissensvermittlung zwischen Generationen. Intergenerationelle Bildung thematisiert sowohl historisch differente Erfahrungsräume des Katastrophischen als auch Erwartungshorizonte im kritischen Blick auf die Spannung zwischen einem sicheren und einem freien Leben (vgl. Koselleck 1979; Conze 2022; Rostalski 2024). Zugleich wird sich solche Bildung nur verwirklichen und Regierungshandeln beeinflussen können, wenn naturwissenschaftliche Szenarien zur fragilen Zukunft der Lebenswelten und der Systeme (vgl. Chakrabarty 2022) einbezogen werden. Die 17 Ziele zur nachhaltigen Entwicklung im 21. Jahrhundert, auf die sich die Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen einigen konnten (UN 2021, IPCC 2022; Rat für Nachhaltige Entwicklung 2021, 2022), lassen sich denn auch als Aufforderung an die Handlungsfelder Sozialer Arbeit verstehen, sich mit einem Kompetenzbedarf vertraut zu machen, der für die Vermeidung von und die Intervention in Großschadensereignissen und Katastrophen offensichtlich ist.