Gewalt gegen Frauen umfasst unterschiedliche Formen, etwa körperliche, sexualisierte, psychische, ökonomische und soziale Gewalt. Aus feministischer Perspektive wurde darauf aufmerksam gemacht, dass diese Formen nicht als individuelle Gewaltakte zu verstehen sind, sondern dass Gewalt gegen Frauen in strukturelle Machtverhältnisse eingebettet ist bzw. in diesen Verhältnissen erst möglich wird (Hagemann-White 2016). Dieses Gewaltverständnis untermauert empirische Erkenntnisse, wonach Gewalt gegen Frauen, wenn auch häufig unbemerkt, in der Mitte unserer Gesellschaft stattfindet (BMFSFJ 2012a; Bundeskriminalamt 2021). Gewalt kann Frauen in allen Altersgruppen, sozialen Lagen und allen Einkommens- und Bildungsschichten betreffen (BMFSFJ 2008). Ein erhöhtes Gewaltrisiko haben jedoch Frauen mit langfristigen körperlichen, seelischen, geistigen Behinderungen oder Sinnesbeeinträchtigungen, die zwei- bis dreimal häufiger als Frauen im Bevölkerungsdurchschnitt Gewalt erleben (BMFSFJ 2012b).

Im Zuge der Zweiten Frauenbewegung in den 1970er-Jahren wurde Gewalt gegen Frauen erstmals öffentlich thematisiert und dabei problematisiert, dass Gewalt schwerwiegende Folgen für Betroffene haben kann (Brückner 2018). In den folgenden Jahrzehnten hat sich in Deutschland eine ausdifferenzierte Angebotsstruktur entwickelt, die präventiv, kurzfristig in Notsituationen und längerfristig in der Be- und Verarbeitung von Gewalterfahrungen unterstützt. Gleichwohl zeigt die EU-weite Erhebung der Europäischen Grundrechteagentur FRA, dass nur ein Drittel der von Partnerschaftsgewalt betroffenen Frauen und ein Viertel der Frauen, die Gewalt durch andere Personen erlebt hat, die Polizei oder eine Gewaltschutzeinrichtung kontaktiert (FRA 2014, S. 24). Die Zusammensetzung der Nutzerinnen von Gewaltschutzeinrichtungen in Deutschland zeigt zudem, dass nicht alle gewaltbetroffenen Frauen in gleichem Maße durch diese Angebote erreicht werden: Unter anderem Frauen ab 50 Jahren, Frauen aus mittleren und höheren Bildungs- und Einkommensschichten und Frauen mit Behinderungen nutzen das Hilfesystem der Sozialen Arbeit signifikant seltener (BMFSFJ 2012a, S. 85).Footnote 1 So zeigt die bundesweite Frauenhausstatistik der Frauenhauskoordinierung e. V. (2022, S. 21), dass im Jahr 2021 71 % der Bewohnerinnen im Frauenhaus zwischen 20 und 40 Jahren alt waren und nur 7 % 50 Jahre oder älter. 22 % der Frauen hatten einen mittleren oder höheren Schulabschluss, 4 % einen (Fach‑)Hochschulabschluss. Da in vielen Kommunen ein Frauenhausaufenthalt über Leistungsansprüche aus dem Sozialleistungsbezug geregelt wird, hat dies zur Folge, dass Frauen ohne solche Ansprüche die Kosten für einen Aufenthalt selbst tragen müssen. Die Frauenhausstatistik zeigt, dass im Jahr 2021 12 % der Frauen ihren Aufenthalt vollständig und 14 % den Aufenthalt teilweise selbst zahlten (ebd., S. 33–39). Zwar zeigten Schröttle et al. (BMFSFJ 2008), dass Frauen mit körperlichen Behinderungen etwa gleich häufig wie Frauen ohne Behinderungen Angebote des Gewaltschutzes nutzen (10–11 %). In der aktuellen Frauenhausstatistik (Frauenhauskoordinierung e. V. 2022, S. 22) ist der Anteil dieser Frauen aber niedriger. Zudem ist ein Teil der Gewaltschutzeinrichtungen bis heute nicht barrierefrei ausgebaut bzw. nicht auf die Bedarfe dieser Frauen ausgerichtet (ebd.; BMFSFJ 2012a, S. 64, 2012b, S. 58–59).

An dieser Diskrepanz setzt das qualitative Forschungsprojekt an, das in diesem Beitrag vorgestellt wird. Zentrale Frage war, warum Frauen ab 50 Jahren, Frauen aus mittleren und höheren Bildungs- und Einkommensschichten und Frauen mit Behinderungen Angebote der Sozialen Arbeit bisher vergleichsweise selten nutzen, obwohl diese Angebote bei der Be- und Verarbeitung von Gewalterleben hilfreich sind. Damit wird an den Erkenntnissen von Helfferich et al. angesetzt, die eine Studie zur Situation der Frauenhäuser, Fachberatungsstellen und anderen professionellen Hilfen durchführten und kritisierten, dass Zugangsschwellen die Nutzung dieser Angebote verhindern können (BMFSFJ 2012a). Weil mit dieser Frage die Differenzkategorien Geschlecht, Alter, Klasse und Behinderung sowie damit verknüpfte Machtverhältnisse angesprochen werden, werden die dem Forschungsprojekt zugrundliegenden Interviews mit betroffenen Frauen und Fachkräften sowie Websites von Angeboten mittels einer intersektionalen Betrachtung in Anlehnung an die Mehrebenenanalyse (Winker und Degele 2009) ausgewertet. Durch die Unterscheidung der Ebenen von Identität, Repräsentation und Struktur soll im Folgenden gezeigt werden, welche Bedeutung den Intersektionen in Bezug auf Barrieren in der Inanspruchnahme von Hilfen Sozialer Arbeit jeweils zukommt. Eine prozessorientierte Perspektive soll zudem Aufschluss darüber geben, ob Barrieren im Verlauf des Gewaltgeschehens gleichbleibend sind oder variieren. Daraus sollen Konsequenzen für den Gewaltschutz der Sozialen Arbeit abgeleitet werden.

Im Folgenden werden der intersektionale Bezugsrahmen, das Forschungsdesign sowie empirische Ergebnisse zu Barrieren in der Inanspruchnahme von Hilfen Sozialer Arbeit dargestellt. Daraus werden Möglichkeiten zum Abbau der identifizierten Barrieren sowie Potenziale und Grenzen der intersektionalen Analyse abgeleitet.

1 Intersektionaler Bezugsrahmen

In intersektionalen Ansätzen wird davon ausgegangen, dass sich Ungleichheitsverhältnisse weder über einzelne Differenzkategorien analysieren lassen, noch über deren bloße Addition (u. a. Crenshaw 1991; Knapp und Wetterer 2003; Lutz et al. 2010). Stattdessen werden die Wechselwirkungen und Überkreuzungen von Differenzkategorien in den Blick genommen, um Ungleichheitsverhältnisse zu durchdringen und die Konsequenzen dieser kategorialen Verwobenheiten für die Verteilung von Lebenschancen und die soziale Platzierung von Menschen zu analysieren (u. a. Biele Mefebue et al. 2022).

Eine Kritik an intersektionalen Ansätzen und Analysen im deutsch- und angloamerikanischen Raum bezieht sich auf deren Fokussierung auf „class, race, gender“ und damit auf eine begrenzte Anzahl von bereits gut erforschten Differenzkategorien. Diese Auswahl beruht auch auf der historischen Entwicklung von intersektionalen Ansätzen und damit verbundenen Setzungen, die zu einer Hierarchisierung von Differenzkategorien beigetragen haben. Ebenso ungleichheitsfördernde Dimensionen werden dadurch seltener problematisiert – etwa Alter (als Ausnahme u. a. Denninger und Schütze 2017; Höppner und Wanka 2021; Richter 2018) und Behinderung (als Ausnahme siehe u. a. Dederich 2007; Waldschmidt 2013). Diese Ungleichbehandlung von Differenzkategorien vermittelt den Anschein, „class, race, gender“ seien wirksamer als andere (Denninger und Schütze 2017). In der folgenden intersektionalen Betrachtung von Barrieren in der Inanspruchnahme von Hilfen Sozialer Arbeit begegne ich dieser Kritik, indem ich zusätzlich zu Geschlecht und Klasse auch Alter und Behinderung als Differenzkategorien berücksichtige und dadurch deren Bedeutung als Barrieren herausarbeite. Deren Berücksichtigung ist wichtig, weil Barrieren in der Inanspruchnahme von Hilfen zwar bereits untersucht wurden, der Fokus aber mehrheitlich auf kultureller Herkunft als Differenzkategorie lag (u. a. Lipsky et al. 2006; Burman et al. 2004; Kleist et al. 2022), selten hingegen auf Alter und Altern (Beaulaurier et al. 2008; Leisey et al. 2009; Crockett et al. 2018) und Behinderung (Schröttle et al. 2021). Klasse als Barriere wird vorrangig in Verbindung mit unteren Bildungs- und Einkommensschichten betrachtet (Brückner 2016; Carstensen et al. 2022).

Carstensen et al. (2022) nutzen in ihrer Betrachtung von Klassismus und Psychiatrieerfahrung in Lebenswelten von Frauenhausbewohnerinnen die intersektionale Mehrebenenanalyse von Winker und Degele (2009). Ausgehend von einer kapitalistisch strukturierten Gesellschaft mit der grundlegenden Dynamik ökonomischer Profitmaximierung entwickeln Winker und Degele einen Analyserahmen, mittels dessen die Differenzkategorien Klasse, Geschlecht, „Rasse“ und Körper in ihren Wechselwirkungen und auf den Ebenen von Identität, Repräsentation und Struktur betrachtet werden können. Auf der Mikroebene stehen interaktiv hergestellte Prozesse der Identitätsbildung und Erfahrungen von Subjekten im Fokus, die mit Blick auf ein zu untersuchendes Phänomen eine Analyse von „Identitätskonstruktionen als Strategien zur Bewältigung von Unsicherheiten“ (Degele und Winker 2007, S. 12) ermöglichen. Auf der Repräsentationsebene der kulturellen Symbole wird untersucht, wie Normen und Werte diskursiv mit den zu analysierenden Prozessen verbunden werden und dazu beitragen herauszuarbeiten, wie „Sicherheitsfriktionen und Rechtfertigungen für Ungleichheiten“ (ebd.) beschaffen sind. Auf der Makroebene der gesellschaftlichen Strukturen werden die miteinander verwobenen Herrschaftsverhältnisse Klassismus, Heteronormativismus, Rassismus und Bodyismus betrachtet, die sich etwa durch Institutionen und Gesetze manifestieren.

Aus der Mehrebenenanalyse wird die Unterscheidung von Identität, Repräsentation und Struktur genutzt, um die Bedeutung der Intersektionen von Geschlecht, Alter, Klasse und Behinderung als Barrieren im Gewaltschutz empirisch herauszuarbeiten.

2 Qualitatives Forschungsdesign

Das qualitative Forschungsprojekt wurde im Jahr 2022 in Westdeutschland durchgeführt. Um möglichst vielfältige Barrieren der Inanspruchnahme von Hilfen im Bereich des Gewaltschutzes in den Blick nehmen zu können, wurden zehn Expert:inneninterviews (Meuser und Nagel 2009) mit Frauen im Alter von 30–60 Jahren geführt, davon waren sechs Frauen 50 Jahre oder älter. Zwei Frauen verfügten über einen Hauptschulabschluss, fünf über die Fachhochschulreife, drei über ein abgeschlossenes Studium. Eine Frau war als Krankenschwester, eine als examinierte Pflegekraft, eine als medizinische Fachangestellte, eine als Industriekauffrau, eine als Versicherungsfachangestellte, eine als Sozialarbeiterin und zwei waren als Studienrätin tätig. Zwei Frauen gingen zum Zeitpunkt des Interviews keiner Erwerbsarbeit nach und/oder engagierten sich ehrenamtlich. Drei Frauen gaben an, mit Behinderung zu leben (Körperbehinderung seit Kindheit, chronisches Fatigue-Syndrom, Schwerbeschädigung wegen Brustkrebs). Die meisten Interviewten haben längerfristige physische, psychische, sexualisierte und/oder soziale Gewalt durch den Partner erlebt, eine Frau hat zusätzlich physische und psychische Gewalt in der Kindheit erfahren, eine andere sexualisierte Gewalt in der Kindheit. Der Kontakt zu den Frauen wurde bis auf eine Ausnahme durch Sozialarbeiterinnen hergestellt, eine Frau kontaktierte mich direkt. Aufgrund der sensiblen Interviewsituation war es von besonderer Bedeutung, forschungsethische Prinzipien einzuhalten, wie die freiwillige Teilnahme am Interview und die Möglichkeit, das Interview jederzeit zu beenden, die Durchführung des Interviews in einer Einrichtung, in der jederzeit eine Fachkraft hätte unterstützen können, und der Schutz der Teilnehmenden durch datenschutzrechtliche Regelungen, d. h. die Anonymisierung und sichere Aufbewahrung der Daten (Helfferich et al. 2016). Der Interviewleitfaden umfasste vier Teile:

  1. 1.

    Wissen zum Hilfesystem, Gründe der Nutzung eines Angebotes, Weg zum Angebot,

  2. 2.

    Erfahrungen und Einschätzungen zum und Barrieren des Hilfesystems,

  3. 3.

    Eindrücke zur Außendarstellung von Angeboten,

  4. 4.

    Rückblick auf die Angebotsnutzung.

Zudem wurden zehn Expert:inneninterviews mit Fachkräften im Gewaltschutz durchgeführt, die unterschiedliche Aufgaben in der Interventionskette übernehmen: der Öffentlichkeitsarbeit, Beratung, Frauenhausarbeit und Unterstützung von wohnungslosen Frauen. Die Fachkräfte verfügten über eine Berufserfahrung zwischen sechs und 30 Jahren. Ich informierte per E‑Mail über das Forschungsprojekt. Die Interviews erfolgten per Telefon oder Videoanruf. Der Interviewleitfaden für die Fachkräfte umfasste drei Teile:

  1. 1.

    Zielgruppe des Angebotes, Gründe von Frauen zur Angebotsnutzung, der Weg zum Angebot,

  2. 2.

    Erfahrungen und Einschätzungen zum und Barrieren des Hilfesystems,

  3. 3.

    Entwicklung von neuen Angeboten.

Schließlich erfolgte die Analyse der Websites der Einrichtungen, in denen diese Fachkräfte tätig sind. Dabei lag der Fokus auf der Darstellung der Einrichtung, der Angebote, der Fachkräfte, der Adressat:innen sowie deren Lebenswelten und sozialen Problemen, der Etappen der Hilfe und auf Barrieren.

Abb. 1 verdeutlicht das Sample, das aus der möglichen Interventionskette ausgewählt wurde:

Abb. 1
figure 1

Sample (eigene Darstellung)

Nach Erhebung der Interviews wurde das aufgezeichnete Datenmaterial nach festgelegten Regeln transkribiert und anonymisiert. Sowohl diese Interviewdaten als auch die Websites wurden mittels der Qualitativen Inhaltsanalyse nach Mayring (2015) ausgewertet. Dieses Verfahren ermöglicht eine systematische, regelgeleitete qualitative Textanalyse mittels Kategorienbildung. Bei der Auswertung kam sowohl die deduktive Kategorienanwendung als auch die induktive Kategorienentwicklung zur Anwendung.

3 Ergebnisse: Barrieren im Gewaltschutz der Sozialen Arbeit

In der Analyse kristallisierte sich heraus, dass Frauen im Verlauf des Gewalterlebens vier Abwägungsprozesse durchlaufen, in denen Barrieren deutlich werden, die aber auch in der Entscheidung für die Nutzung von Hilfen münden können:

  • Unterscheiden: zwischen nichtgewalttägigem und gewalttätigem Verhalten,

  • Einordnen: zwischen eigenem Erleben und dem Begriff der Gewalt,

  • Entscheiden: zwischen Hilfe antizipieren und Gewalt aushalten,

  • Nutzen: zwischen der Inanspruchnahme von Angeboten und Hemmschwellen.

Diese Abwägungsprozesse werden zunächst mit Bezug auf Geschlecht dargestellt, um Barrieren für alle von Gewalt betroffenen Frauen zu identifizieren. Danach werden die Wechselwirkungen von Geschlecht mit Alter, Klasse und Behinderung erläutert, wenn diese Intersektionen von den Interviewten genannt oder auf den Websites thematisiert wurden.

3.1 Unterscheiden: zwischen nichtgewalttätigem und gewalttätigem Verhalten

Gewalttätiges Verhalten zu erkennen, stellt die zentrale Voraussetzung für Frauen dar, um die Nutzung von Hilfen Sozialer Arbeit aus eigener Initiative in Erwägung zu ziehen. Sowohl die Interviewten als auch die Websites thematisieren, was unter gewalttätigem Verhalten zu verstehen ist. Die Interviewten weisen auf die Herausforderung hin, nichtgewalttätiges und gewalttätiges Verhalten im konkreten Vollzug voneinander zu unterscheiden. Eine Frau, die zweieinhalb Jahre Partnerschaftsgewalt erlitten hat und die anschließend im Frauenhaus lebte, beschreibt diese Herausforderung mit ihrem heutigen Wissen zu Gewalt folgendermaßen:

„Was ist eine toxische Ehe? Das ist eine manipulative Beziehung. Und wie ist es, eine gesunde Ehe oder Beziehung zu führen? Und wie ist es eben nicht normal und nicht gesund? (…) Und wenn die Frau dann so behandelt wird, dass sie nicht denkt, okay, das ist so normal, (…) angeschrien zu werden, gedemütigt zu werden, auf dem Boden knien und letzten Fleck weg zu putzen, während [er] über dir steht, mit dem Finger auf dich zeigt, dich anschreit, dass es noch dreckig ist, dass du Angst haben musst, dass dein Geld weggenommen wird, dass du erpresst wirst. Das ist nicht normal.“Footnote 2

Diese Frau nennt konkrete Handlungen, um gewalttägiges Verhalten zu definieren und dieses vom Bereich des Normalen abzugrenzen. Für eine solche Abgrenzung sind Bewertungsmaßstäbe notwendig, die sich Frauen im Verlauf ihres Lebens aneignen. Solche Bewertungsmaßstäbe werden in den Interviews für Frauen ab 50 Jahren und Frauen mit Behinderungen genannt. So macht eine 60-jährige gewaltbetroffene Frau darauf aufmerksam, dass ihre Eltern der Generation angehören, „die im Krieg aufgewachsen ist“ und die „Gewalt innerhalb der Erziehung als noch normal angesehen“ habe; gewalttätiges Verhalten war für diese Frau ein Bestandteil der Erziehung. Eine Sozialarbeiterin berichtet von älteren Frauen, die traditionelle Beziehungskonzepte erlebt hätten, in denen gewalttätiges Verhalten ein Bestandteil der Ehe war, an den sich diese Frauen gewöhnten, und der bis zu einem bestimmten Grad „normal“ gewesen sei. Diese Frauen ziehen die Grenze zwischen nichtgewalttätigem und gewalttätigem Verhalten auf der Grundlage eines Maßstabs, der sich aus subjektiven Erfahrungen in der Kindheit und Partnerschaft speist, und der strukturell durch erziehungs- und partnerschaftsbezogene Normen in der Familie und Ehe durchdrungen ist. Dieser Maßstab kann zu einer Barriere werden, wenn sich das erlebte Verhalten mit dem gewohnten Normbereich deckt. Übersteigt das erlebte Verhalten das bis dahin gekannte Maß an Intensität und wird das subjektive Bewältigungsverhalten verunsichert, kann dies in der Nutzung von Angeboten Sozialer Arbeit münden.

Die Abgrenzung von nichtgewalttätigem und gewalttätigem Verhalten ist einer Fachkraft zufolge auch für Frauen herausfordernd, die in einer Pflegesituation leben und Gewalt erleiden. Wenn sich diese Frauen nicht austauschen, könne es ihnen schwerfallen, die Grenze zwischen Pflegeverhalten und Gewaltverhalten zu ziehen, insbesondere dann, wenn das eigene Kind gegen sie gewalttägig ist. So erzählt diese Fachkraft von einer „älteren Dame“ und deren Sohn,

„der einfach in die Wohnung kam und Sachen entwendet hat oder auch gegen ihren Willen Sachen entschieden hat. (…) Und da eh gab’s eben auch die Angst davor, durch den Sohn entmündigt zu werden. (…) Zweifeln ja auch oft an ihrer eigenen Einschätzung. Ist das normal oder ist das Gewalt? Darf der das?“.

Unterstützt durch ihre Tochter kontaktierte diese Frau die Beratungsstelle, in der die Fachkraft tätig ist.

Eine andere Sozialarbeiterin weist auf die Herausforderung von Frauen mit Körperbehinderung hin, die Grenze zwischen Pflege und Gewalt zu ziehen:

„[V]iele Frauen mit Körperbehinderung, die lernen ja als Kind schon, wenn sie von Geburt an behindert sind, ein therapeutisches Objekt zu sein. Medizin, immer wird an denen etwas kontrolliert, nie wird gefragt, ob du das überhaupt willst. Also, und da dann zu unterscheiden – ist das jetzt ein Übergriff, also beim Waschen oder so und bei der Pflege an sich, das muss man erst mal für sich klar haben diese Unsicherheit. (…) Man hat eine schlechte Körperwahrnehmung, was ist halt übergriffig? Also man entwickelt vielleicht nur ein schlechtes Gefühl und weiß überhaupt nicht, dass das jetzt übergriffig ist.“

Als Beispiel für eine weitere Objektivierung des Körpers von Frauen, die mit Körperbehinderung leben, nennt sie die Geburt eines Kindes. Diese Frauen werden ihrer Erfahrung nach manchmal gefragt, ob Ärzt:innen, Krankenschwestern und Auszubildende an der Geburt teilnehmen könnten. Erst in Gesprächen mit Freundinnen ohne Behinderung werde ihnen dann klar, dass eine intimere Geburtssituation möglich gewesen wäre. Diese Beispiele verdeutlichen, dass Frauen mit Körperbehinderung der eigene Bewertungsmaßstab zwar durch Unbehagen in den entsprechenden Situationen bewusstwerde, dass sie dieses Unbehagen aber insbesondere im Vergleich des eigenen Erlebens mit dem Erleben von anderen Frauen problematisieren können.

Es lässt sich schlussfolgern, dass sich Bewertungsmaßstäbe im Verlauf von biografischen Erfahrungen ausbilden und als Ausdruck von „Identitätskonstruktionen als Strategien zur Bewältigung von Unsicherheiten“ (Degele und Winker 2007, S. 12) zu deuten sind. Bewertungsmaßstäbe können als eine eng an die Identität von Frauen geknüpfte Bewältigungsstrategie verstanden werden; zugleich sind Bewertungsmaßstäbe durch die Einbindung in Erziehungsstile, Partnerschaftsverhalten und Pflege- und Abhängigkeitsverhältnisse gesellschaftlich strukturiert. In dieser engen Verzahnung von Identität und Struktur können Bewertungsmaßstäbe von Frauen ab 50 Jahren und Frauen mit Behinderungen als Barriere wirken, weil sie es bei einer Gewöhnung an Gewalt und bei fehlenden Vergleichsmöglichkeiten erschweren, die Grenze zwischen nichtgewalttätigem und gewalttätigem Verhalten zu ziehen.

3.2 Einordnen: zwischen eigenem Erleben und dem Begriff der Gewalt

Haben Frauen ein für sie gewalttätiges Verhalten identifiziert, schließt meist die Einordnung des eigenen Erlebens in Begrifflichkeiten an. Auf den untersuchten Websites wird der Begriff der Gewalt verwendet, um körperliche, psychische, sexualisierte, soziale und ökonomische Formen von Gewalt zu unterscheiden. Die interviewten gewaltbetroffenen Frauen weisen auf eine Diskrepanz in der Passung des eigenen Erlebens mit dem schematischen Begriff der Gewalt hin: Erstens problematisieren mehrere Frauen, die sowohl körperliche als auch psychische Gewalt erlitten haben, unabhängig von Alter, Klasse und Behinderung, dass sie vor der Nutzung von Angeboten unter Gewalt eine Reduktion auf körperliche Gewalt verstanden und dieses Verständnis erst im Austausch mit Fachkräften erweitert hätten:

„Ich glaube, ich hätte meine Definition von Gewalt überdenken müssen. Weil [mit] Gewalt meint man direkt körperliche Gewalt, die einem widerfährt, dass man grün und blau geschlagen wird. Dass es auch andere Gewaltarten gibt, dessen war ich mir in keinster Weise bewusst und das (…) habe ich hier [in der Beratungsstelle] erst erfahren. (…) [R]ückblickend festzustellen, wie man manipuliert wurde, wie man kleingehalten wurde, das war mir nicht bewusst, dass das auch schon ne Art von Gewalt ist“

„Ich hab das auch erst in der Klinik so richtig gelernt, dass Gewalt in der Beziehung nicht immer nur körperlich sein muss, dass es auch psychische Gewalt gibt, die einen wirklich verletzen kann.“

Zweitens wird problematisiert, dass der Gewaltbegriff suggeriere, welche körperlichen Handlungen erlebt worden sein müssen, um ein Verhalten als Gewalt bezeichnen zu können. Haben Frauen andere verletzende Handlungen erlebt, könne dies dazu führen, dass sich diese Frauen nicht als Gewaltbetroffene wahrnehmen. Um dieses Problem zu vermeiden, schlägt eine Frau vor, Gewalt über die Konsequenzen des erlebten Verhaltens zu definieren. Ein breiteres Gewaltverständnis könnte nach Ansicht einer Sozialarbeiterin dazu beitragen, Gewaltformen zu integrieren, die bisher nicht vom Gewaltbegriff abgedeckt werden, wie Vernachlässigung im Pflegekontext.

Drittens wird die fehlende Passung des eigenen Erlebens mit dem Gewaltbegriff darin gesehen, dass mit dem Gewaltbegriff Bilder transportiert werden, die nicht dem eigenen Bild entsprechen würden und die als Barriere wirken können. Dabei problematisiert eine Sozialarbeiterin die Verknüpfung von sexualisierter Gewalt mit Altersbildern, und es könne vorkommen, dass sich eine ältere Frau

„gar nicht mit dem identifizieren kann, wenn sexualisierte Gewalt stattfindet. (…) [D]as Bild ist eigentlich immer die junge Frau, die vergewaltigt wird. Ältere Frauen sind genauso betroffen.“

Das Bild der jungen, begehrenswerten Frau vs. der älteren, „asexuellen“ Frau (Crockett et al. 2018) scheint in Mythen zu sexualisierter Gewalt noch immer wirkmächtig zu sein und es beeinflusse die Entscheidung von älteren Frauen, Hilfen in Anspruch zu nehmen. Diese Fachkraft problematisiert zudem die Verknüpfung von sexualisierter Gewalt mit Bildern von Frauen aus mittleren und höheren Bildungs- und Einkommensschichten:

„Und dann ist da eine ganz große Schwierigkeit sich damit zu identifizieren und das für sich selber erstmal einzuordnen. (…) ‚[U]nd es glaubt mir doch auch wirklich niemand so richtig, dass ich hier als erste Ärztefrau von meinem Partner, der Arzt, Richter oder sonst was ist, vergewaltigt werde.‘ Also da spielen diese Mythen ne ganz, ganz große Rolle.“

Der Gewaltbegriff kann folglich für die Benennung und Einordnung des subjektiven Erlebens hilfreich sein. Durch die implizite Fokussierung auf körperliche Gewalt sowie die vermittelte Alters- und Klassencodierung bestimmter Gewaltformen können mit dem Gewaltbegriff die vielfältigen Erlebensweisen von gewaltbetroffenen Frauen aber nicht in Gänze erfasst und abgebildet werden. Es deutet sich an, dass über den Gewaltbegriff vermittelte Repräsentationen wie etwa Altersbilder und Vorstellungen von Klasse zu einer Barriere in der Inanspruchnahme von Hilfen werden können. Solche Repräsentationen sind Ausdruck von strukturellen Machtverhältnissen, die den Rahmen strukturieren, in dem Gewalt möglich wird und in dem Gewalterfahrungen geglaubt werden.

3.3 Entscheiden: zwischen Hilfe antizipieren und Gewalt aushalten

Frauen, die darüber im Klaren sind, dass sie Gewalt erleben, können Ambivalenzen in der Entscheidung wahrnehmen, ob sie professionelle Unterstützung in Anspruch nehmen möchten. Solche Abwägungsprozesse können nach Ansicht von Fachkräften langwierig sein: „Hauptbarriere ist sicherlich das Thema selbst. Das kriegen wir immer wieder mit, dass Frauen wirklich zwei bis drei Jahre rumlaufen, ehe sie sich trauen anzurufen.“ Die empfundene Scham kann als Barriere wirken; z. B. darüber, dass es überhaupt zu Gewalt in der Partnerschaft gekommen ist, weil keine Vertrauensperson über das Erlebte informiert wurde, oder aufgrund der Selbsterkenntnis, als zuvor starke Frau nicht selbstständig den Weg aus der gewalttätigen Partnerschaft gefunden zu haben. Eine gewaltbetroffene Frau drückt dies so aus:

„Ich habe mich total geschämt dahinzugehen, zu sagen, was passiert ist, dass ich nichts gesagt habe, weil ich eigentlich so eine starke Frau früher gewesen bin. (…) Und ich habe mich anfangs auch schwergetan, Hilfe anzunehmen im Frauenhaus tatsächlich. Weil ich gedacht habe, wieso, ich muss das doch alleine schaffen, ich muss das doch hinkriegen, ich bin doch schon erwachsen. Ich kann das doch alles.“

Die Vorstellung, durch die Nutzung von Angeboten Schwäche zu zeigen, kann in einer Leistungsgesellschaft als Barriere wirken. Entscheiden sich Frauen für die Nutzung eines stationären Angebotes, ist es laut einer Sozialarbeiterin für gewaltbetroffene Frauen von Bedeutung, den eigenen Hilfebedarf vom Bedarf anderer Frauen abzugrenzen:

„[A]lso da haben wir auch wirklich oft im sozialen Umgang auf den Wohnetagen sehr viele Konflikte, (…), zwischen ‚Ich gehöre hier gar nicht hin aber du gehörst hier vielleicht hin!‘ (…), ‚Ich brauch gar nicht die Hilfe, die du vielleicht brauchst!‘“

Solche Abgrenzungen verlaufen auch über soziale Positionierungen, die sich relational über die Differenzkategorie Klasse vollziehen: Während Frauen aus unteren Bildungs- und Einkommensschichten einen höheren Anteil ausmachen würden, hätten

„Frauen aus mittleren und höheren gehobenen Schichten (…) vielleicht nochmal ein anderes soziales Umfeld, (…) wo man sich vielleicht noch über Wasser halten kann, dass man sich vielleicht noch ein Hotelzimmer für ein paar Wochen leisten kann, um dann zu sagen, ‚Okay, in dieser Zeit nehme ich vielleicht Angebote wahr, Unterstützung in Beratungssetting, also komme gar nicht ins stationäre Setting überhaupt an.‘“

Diese Nutzerinnenstruktur spiegelt das (Nicht‑)Vorhandensein von sozialen und finanziellen Ressourcen wider. Die Entscheidung von Frauen aus mittleren und höheren Bildungs- und Einkommensschichten, in ein Frauenhaus zu ziehen, sehen zwei Sozialarbeiterinnen in einem hohen Leidensdruck und in der Angst um das eigene Leben begründet, die während dieser Phase schwerer wiegen als die Angst vor dem gesellschaftlichen Abstieg aufgrund des Loslösens aus der finanziellen Abhängigkeit vom Partner.

Mit Bezug auf ältere Frauen weisen die Interviewten auf zwei Ambivalenzen hin. Eine 60-jährige gewaltbetroffene Frau berichtet von der christlichen Prägung ihrer Mutter, die der „Aufopferungsgeneration“ angehöre. Damit ist die Vorstellung gemeint, sich aus Liebe für ihre Kinder aufzuopfern und Gewalt in der Partnerschaft auszuhalten. Einige Frauen hätten den gewalttätigen Partner erst verlassen, als die Kinder aus dem Elternhaus ausgezogen waren. Diese Frauen würden häufig die Haltung vertreten, „dass man diese Themen auch nicht in die Öffentlichkeit trägt, dass man das innerhalb der Familie klären muss“. Zudem seien Frauen, die während des Zweiten Weltkrieges sexualisierte Gewalt erlebt haben, heute unsicher, ob das Erlebte nach so langer Zeit noch bearbeitet werden könne.

Ambivalenzen von Frauen mit Behinderungen beziehen sich laut einer Sozialarbeiterin darauf, einerseits Gewalt öffentlich machen zu wollen und andererseits Angst davor zu haben, dabei nicht ernstgenommen zu werden:

„Es scheitert oft an dem Ernstnehmen der Frauen, die Artikulationsschwierigkeiten haben zum Beispiel aufgrund der Spastiken eine etwas andere Sprache haben und sich dann schwer verständigen können. Dann glaubt man denen erstmal nicht.“

Auch wenn diese Ambivalenzen spezifische intersektionale Zusammenhänge berühren, so deutet sich folgende Gemeinsamkeit an: Gewaltbetroffene Frauen vertreten Einstellungen, die mit Alter, Klasse und Behinderung in Verbindung gebracht werden. Diese Einstellungen dienen als Ausdruck von Identitätskonstruktionen dem Umgang mit Gewalterfahrungen und sind zugleich durch familiäre Werte, Vorstellungen zu sozialen Positionierungen und Annahmen zu Glaubwürdigkeit gesellschaftlich geprägt. In dieser engen Verzahnung von Identität und Struktur können diese Einstellungen als Barriere wirken, weil sie Frauen daran hindern können, professionelle Hilfen in Anspruch zu nehmen.

3.4 Nutzen: zwischen der Inanspruchnahme von Angeboten und Hemmschwellen

Nutzen gewaltbetroffene Frauen Angebote Sozialer Arbeit, erleben sie häufig Hemmschwellen. Aufgrund von präventiven Kampagnen im Bereich der Öffentlichkeitsarbeit gehen einige Interviewte davon aus, dass fehlendes Wissen über Angebote heute kaum noch eine Barriere darstellen könne. Allerdings relativieren sie diese Auffassung für ältere Frauen und Frauen mit Behinderungen, weil ihnen digitale Informationen zum Gewaltschutz nicht immer zur Verfügung stehen. Eine Sozialarbeiterin problematisiert den eingeschränkten, nichtanonymen digitalen Zugang von Frauen mit Behinderungen in Werkstätten und Wohnheimen: „Die können nur zum Beispiel im Büro vom Personal (…) an den Computer. Das ist ein Ding der Unmöglichkeit, die sind also da bewacht und haben keine Privatsphäre.“ Einer anderen Fachkraft wird während des Interviews bewusst, dass Flyer ihrer Einrichtung zwar bei relevanten Muliplikator:innen verteilt würden, aber nicht in Seniorenheimen und Behinderteneinrichtungen.

Wollen sich Frauen online zu Angeboten des Gewaltschutzes informieren, können Barrieren im Kontext von Repräsentationen auftreten. Die Analyse der Websites zeigt, dass Adressierungspraktiken nicht alle Frauen gleichermaßen ansprechen, denn Frauen werden eher als jüngere Frauen und Frauen mittleren Alters adressiert. Indem als Orte von Gewalt die Disco, die Kneipe, das Internet, die Schule und der Arbeitsplatz genannt werden und als unterstützende Personen auf Eltern, Partner:innen, Freund:innen und Lehrer:innen hingewiesen wird, werden Frauen als Schülerinnen, Studentinnen und Angestellte angesprochen. Sie werden auch als Mütter kleinerer Kinder adressiert, indem z. B. auf Betreuungsmöglichkeiten der Kinder während der Beratung hingewiesen wird. Zwar zeigen verwendete Fotos Frauen unterschiedlicher kultureller Herkunft und verschiedenen Aussehens. Diversität im Sinne von Alter und Behinderung wird jedoch kaum deutlich und Frauen in Pflegekontexten werden auf keiner Website abgebildet.

Während der Nutzung von Angeboten werden für Frauen strukturelle Barrieren deutlich, wenn Mobilität gefordert ist; hierbei spielen die Erreichbarkeit einer Einrichtung und fehlende Unterstützungsstrukturen (z. B. Aufzug) eine Rolle. Für Frauen mit Behinderungen können darüber hinaus die überwiegend fehlende Barrierefreiheit von Websites, ein fehlendes Blindenleitsystem und fehlende Kenntnisse der Gebärdensprache der Fachkräfte die Nutzung von Angeboten erschweren. Es überwiege ein Mangel an Plätzen für pflegebedürftige Frauen.

In Bezug auf Frauen aus mittleren und höheren Bildungs- und Einkommensschichten spricht eine Sozialarbeiterin die finanzielle Selbstbeteiligung beim Tagessatz eines Frauenhausplatzes als strukturelle Barriere an, die bis zu 90 € hoch sein könne. Insbesondere bei diesen Frauen sei die Angst vor einem sozialen Abstieg durch die Nutzung von Angeboten groß: „[J]e nachdem wie die Frau vorher gelebt hat, ist das natürlich ein unglaublicher sozialer Abstieg.“ Eine Fachkraft berichtet, dass Frauen, die am Beginn ihres Lehramtsstudiums stehen, oft keine Psychotherapie bei niedergelassenen Psychotherapeut:innen durchführen würden, aus Sorge, dass ihnen später die Verbeamtung verwehrt werde.

Die Nutzung von Angeboten wird folglich durch zahlreiche einrichtungsbezogene Spezifika erschwert, die durch Adressierungspraktiken die Ebene der Repräsentation und durch die fehlende Barrierefreiheit und hohe Kostenbeteiligung die Ebene der Struktur betreffen.

4 Diskussion der Ergebnisse und Möglichkeiten zum Abbau von Barrieren im Gewaltschutz

Die Analyse verdeutlicht, dass Frauen ab 50 Jahren, Frauen aus mittleren und höheren Bildungs- und Einkommensschichten und Frauen mit Behinderungen im Verlauf des Gewalterlebens vier Abwägungsprozesse durchlaufen, in denen Bewertungsmaßstäbe, der Gewaltbegriff, Einstellungen und einrichtungsbezogene Spezifika die Nutzung von Hilfen Sozialer Arbeit erschweren oder verhindern und, dass diese zu Barrieren in der Inanspruchnahme von Gewaltschutzangeboten werden können. Diese prozessorientierte Perspektive bereichert die intersektionale Betrachtung, die zeigt, dass diese Barrieren die Ebene von Identität, Repräsentation und Struktur betreffen können und dass nicht alle interviewten Frauen gleichermaßen von diesen Barrieren betroffen sind. In der folgenden Abbildung werden diese Ergebnisse zusammengefasst (Abb. 2):

Abb. 2
figure 2

Zusammenfassung der Ergebnisse (eigene Darstellung)

Hieraus lassen sich Möglichkeiten zum Abbau dieser Barrieren ableiten, die analog der untersuchten Intersektionen dargestellt werden.

In Bezug auf Geschlecht und Alter wurde deutlich, dass die Einteilung in „Frauen ab 50 Jahren“ groß und je nach Lebensphase und individuellem Bedarf weiter zu differenzieren ist. Hinsichtlich des Abbaus von Barrieren wird in der Literatur auf ein fehlendes Bewusstsein dafür hingewiesen, dass sich Gewalt im sozialen Nahraum im höheren Lebensalter intensivieren oder in Folge gesundheitlicher Veränderungen erstmals auftreten kann (Görgen 2010). Die vermutete hohe Dunkelziffer von Gewalt gegen Frauen könnte sich durch die Dunkelziffer von Gewalt im höheren Lebensalter potenzieren (Gröning und Yardley 2020). Wichtig erscheint die Sensibilisierung für das Risiko von älteren Frauen, Gewalt zu erleben. Um die Dunkelziffer zu minimieren, sollten Frauen jeden Alters in Gewaltstudien als Sample berücksichtigt werden, denn dies geschieht bisher nicht durchgehend (z. B. Erhebung von FRA, in der Frauen nur bis zum Alter von 74 Jahren berücksichtigt werden). Mit Blick auf Pflegesettings sollte die Schulung von Multiplikator:innen (z. B. Medizinischer Dienst der Krankenkassen) und die Aufklärung von potenziell Gewaltbetroffenen obligatorisch sein, damit das Wissen zu Gewalt erweitert, stereotype Altersbilder bewusstgemacht und Bewertungsmaßstäbe und Einstellungen reflektiert werden können.

Für die Einordnung von Gewalt bietet eine alterssensible Erweiterung des Gewaltbegriffs auf Websites von Einrichtungen das Potenzial, Gewaltformen, die Altersvorstellungen weniger entsprechen (z. B. sexualisierte Gewalt), ebenso zu berücksichtigen wie alterscodierte Gewaltformen (z. B. Vernachlässigung). Um die Alterscodierung von Angeboten zu überwinden, scheint eine alterssensible Umstrukturierung der Angebote des Gewaltschutzes für Frauen (z. B. Gleichstellungsbeauftragte in Seniorenheimen) und deren stärkere Vernetzung mit Angeboten der Sozialen Altenarbeit sinnvoll zu sein (Crockett et al. 2018). Um einrichtungsbezogenen Barrieren entgegenzuwirken, könnte die im Gewaltschutz übliche Komm-Struktur durch das Konzept der proaktiven Beratung erweitert werden. Fehlende personelle Ressourcen, auf die eine Fachkraft hinweist, sollten keine Barriere in der Umsetzung eines alterssensiblen Gewaltschutzes darstellen:

„[D]ass auch die Netzwerke stärker gespannt werden müssten in Richtung Pflegeheime, betreute Wohneinrichtungen (…), um älteren Menschen Angebote zu machen. Das haben wir wohlweislich vernachlässigt, weil wir nicht abschätzen konnten, was da für ein Fass auf uns zurollt.“

In Bezug auf Geschlecht und Klasse zeigt sich in der Analyse der Interviews mit gewaltbetroffenen Frauen die Tendenz, Angebote des Gewaltschutzes eher mit Frauen aus unteren Bildungs- und Einkommensschichten zu assoziieren, also mit einer Zielgruppe, die gemeinhin mit Sozialer Arbeit in Verbindung gebracht wird. Hierzu scheint eine Reflexion der Bilder, die mit Gewaltschutz assoziiert werden, bedeutend zu sein. Hinsichtlich der Nutzung von Angeboten zeigt sich ein klassistisch durchwobener Zugang zu Unterstützungsstrukturen: Während stationäre Angebote seltener von Frauen aus mittleren und höheren Schichten in Anspruch genommen werden, haben diese Frauen scheinbar erleichterte Zugangsmöglichkeiten zu Therapieplätzen: „Es ist ein Unterschied, ob eine gut situierte Repräsentantin der Mittelschicht oder die Bewohnerin eines Frauenhauses, eine prekär lebende Alleinerzieherin, eine Kassiererin mit Zeitvertrag bzw. eine geflüchtete Frau einen Therapieplatz suchen“ (Carstensen et al., 2022: 325). Gleichwohl wurden Ergebnisse von Studien (BMFSFJ 2008, 2012a) bestätigt, die zeigen, dass diese Frauen stationäre Angebote dann nutzen, wenn sie sich in extrem belastenden Lebenssituationen befinden. Der Status der Privilegierten und damit assoziierte Bilder sind zu reflektieren und die Dringlichkeit des Hilfebedarfes sollte bewusstwerden, um entsprechenden Schutz sicherzustellen.

Seit einigen Jahren wird auf das erhöhte Gewaltrisiko von Frauen mit Behinderungen hingewiesen (u. a. BMFSFJ 2012b). Hinsichtlich der Unterscheidung zwischen nichtgewalttätigem und gewalttätigem Verhalten sollten Multiplikator:innen (z. B. Polizei) hinsichtlich der unterschiedlichen Bedarfe von Frauen mit körperlichen, seelischen, geistigen Behinderungen oder Sinnesbeeinträchtigungen geschult, Vorannahmen reflektiert (z. B. Frauen mit Behinderungen sind als [Sexual-]Partnerinnen zu sehen und über Schutzmöglichkeiten zu informieren), die Privatsphäre von Frauen gewahrt und Frauen durch alternative Bewertungsmaßstäbe in der eigenen Körperwahrnehmung gestärkt werden. Hinsichtlich der Entscheidung für bzw. die Nutzung von Angeboten wurde zwar deutlich, dass aufseiten der Fachkräfte das Bewusstsein für die Bedarfe dieser Frauen vorhanden ist. Barrierefreiheit und entsprechende Kompetenzen (z. B. Gebärdensprache) stellen aber noch die Ausnahme dar. Zudem besteht die Notwendigkeit, Hilfestrukturen des Gewaltschutzes und der Behindertenhilfe stärker miteinander zu vernetzen und Übergänge niedrigschwellig zu gestalten (BMFSFJ 2012b: 58–62). Es scheinen Weiterentwicklungen auf den Ebenen der Identität, Repräsentation und Struktur für einen inklusiven Gewaltschutz notwendig zu sein, damit die Rechte von Frauen, wie sie in der UN-Behindertenrechtskonvention festgelegt sind, eingelöst werden.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass sich Barrieren im Gewaltschutz nicht allein auf fehlendes Wissen, Mobilitätserfordernisse, die Ausstattung der Angebote sowie auf versorgungsbezogene Lücken beziehen, sondern dass auch durch Adressierungspraktiken z. B. auf Websites und Differenzkonstruktionen in Bezug auf Alter, Klasse und Behinderung Barrieren produziert werden. Diese Ergebnisse können die Diskussion der Frauenhauskoordinierung und des Bundesverbands der Frauenberatungsstellen zu zielgruppenspezifischer Gewaltbetroffenheit bereichern und Anregungen zur Umsetzung eines diversitätssensiblen Gewaltschutzes geben, wie er aktuell durch das Innovations- und Investitionsprogramm des BMFSFJ gefördert wird. Noch konsequenter könnte der Perspektivwechsel von der Frage „Welchen Frauen können wir helfen?“ hin zur Frage „Wie können wir als Sozialarbeitende allen gewaltbetroffenen Frauen einen Ort geben, an dem sie sich geschützt und unterstützt fühlen?“ umgesetzt werden, um Barrieren nachhaltig abzubauen.

5 Potenziale und Grenzen einer intersektionalen Betrachtung von Barrieren

Die intersektionale Betrachtung ermöglicht eine differenzierte Analyse der Barrieren, wie sie von Fachkräften und Nutzerinnen von Angeboten wahrgenommen werden. Die Mehrebenenanalyse nach Winker und Degele (2009) zeigte, dass Bewertungsmaßstäbe und Einstellungen eng mit den Ebenen Identität und Struktur verbunden werden, der Gewaltbegriff und einrichtungsbezogene Spezifika hingegen mit den Ebenen Repräsentation und Struktur. Diese Ergebnisse unterstreichen die in der Geschlechterforschung herausgestellte Relevanz, das Erleben von Gewalt nicht zu individualisieren, sondern dessen strukturelle Einbettung in Machtverhältnisse zu berücksichtigen (Hagemann-White 2016) und somit die vielfältigen Subjektpositionen von gewaltbetroffenen Frauen in ihrer Verschränkung mit der Strukturebene zu betrachten. In Erweiterung lässt sich für den Gewaltschutz schlussfolgern, dass es keine private Entscheidung ist, Hilfen Sozialer Arbeit anzunehmen, sondern dass diese Entscheidung durch Erziehungsstile, Pflege- und Abhängigkeitsverhältnisse, Vorstellungen von Alter, Klasse und Behinderung, Bewertungsmaßstäbe und Einstellungen sowie durch die Beschaffenheit des Hilfesystems strukturell durchdrungen und normiert ist. Die Frage, welche Frauen durch Hilfen Sozialer Arbeit vorrangig als Adressatinnen angesprochen werden und welche nicht, lässt sich im Gewaltschutz – so zeigte dieses Projekt – auch entlang der Differenzkategorien Alter, Klasse und Behinderung beantworten. Es muss dabei betont werden, dass sich die interviewten Fachkräfte darüber im Klaren sind, dass sie durch ihre Angebote nicht alle Frauen in gleichem Maße erreichen, und dass sie zugleich sehr engagiert sind, um Frauen frühzeitig Unterstützung zu bieten. Ein diversitätssensibler Gewaltschutz erfordert aber nicht nur persönliches Engagement, sondern auch strukturelle Veränderungen im Unterstützungssystem (z. B. Aufstockung finanzieller Ressourcen) und weitere politische Signale, um den Schutz vor Gewalt gegen Frauen konsequent zu fördern.

Eine intersektionale Betrachtung erhöht die Komplexität des Analysegegenstands. Zudem hat die Fokussierung auf Intersektionen den Effekt, dass Zusammenhänge zwischen Gewaltformen (z. B. sexualisierte Gewalt) und der Nutzung von Angeboten (z. B. Frauenhaus) nicht differenziert herausgearbeitet wurden. Ein zukünftiges Projekt könnte überprüfen, inwieweit die identifizierten Barrieren z. B. für Frauen mit Migrationsgeschichte Bedeutung haben. Die gewonnenen Erkenntnisse leisten einen Beitrag für einen barrierearmen Gewaltschutz. Denn sie schärfen das Bewusstsein für differenzsensible Hilfen, damit Soziale Arbeit den eigenen Anspruch, ein Unterstützungssystem für alle gewaltbetroffenen Frauen zu sein, auch einlösen kann.